12.07.2013

Istanbul brennt

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Istanbul brennt

Geschichte einer brutalen Stadtentwicklung von Yasar Adnan Adanali

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Die AKP-Regierung hat, seit sie 2002 an die Macht kam, gewaltige Infrastrukturprojekte in Auftrag gegeben, vor allem um dem Kapitalüberschuss im Land zu begegnen. Inzwischen ist das türkische Wirtschaftswachstum weitgehend von der Konjunktur im Bausektor abhängig. Geförderte Bauvorhaben kann man überall besichtigen: In den ländlichen Regionen werden Tausende kleiner und großer Staudammanlagen errichtet, die städtischen Landschaften werden mit Mega-Investitionen, Stadterneuerungsprojekten und neuen Luxuswohnvierteln in Form von Gated Communities überzogen, ganz zu schweigen vom Wahnsinn der überdimensionierten Shoppingmalls. Istanbul ist in den letzten zehn Jahren zu einer Megabaustelle geworden. Hier werden heute nicht nur 30 Prozent des türkischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) erwirtschaftet, die Stadt wird auch immer internationaler und entwickelt sich zu einem kommerziellen Zentrum, wo die Fäden der globalen Ökonomie zusammenlaufen. Heute sind Bauzäune allgegenwärtig in der urbanen Landschaft, die von mindestens ebenso vielen Baukränen wie Minaretten überragt wird.

Eine Begleiterscheinung des Baubooms ist die ungehemmte Transformation öffentlicher Flächen zu exklusiven städtischen Quartieren. Treibende Kraft ist dabei eine „Sanierungslobby“, die über PPP-Firmen (Public-private Partnership) dafür sorgt, dass städtische Areale eingezäunt und fortan nur noch für wenige privilegierte Eigentümer beziehungsweise Nutzer zugänglich sind. Im Zuge dessen werden öffentliche Räume – wie der Gezipark im Zentrum – privatisiert und kommerzialisiert; ärmere Einwohnerschichten werden aus bestimmten innerstädtischen Wohnvierteln verdrängt, wie es im Stadtteil Tarlabasi geschehen ist.

Die Kehrseite der brummenden Wirtschaft und des wachsenden nationalen Selbstbewusstseins ist ein Prozess, der den Kräften eines globalen Kapitalismus gehorcht und bei dem die städtische Ökologie gefährlich ins Wanken gerät. Oder anders ausgedrückt: Ein autoritärer Staat sorgt für „Entwicklung“, indem er städtische Zonen „freimacht“, das heißt für profitträchtige Investitionen erschließt und die städtische Bevölkerung im Schach hält.

Der Wildwuchs exklusiver Wohnzonen in Istanbul hat wahnwitzige Dimensionen – etwa so, als würde man in New York den Central Park mit einer neuen Stadt überbauen.1

Der Plan der Regierung, auf dem Areal des Geziparks, der einzigen Grünfläche im Zentrum von Istanbul, eine neue Shoppingmall bauen zu lassen, hat nun eine revolutionäre Bewegung ausgelöst. Der Widerstand hat sich rasch ausgebreitet und dazu geführt, dass überall im Land soziale, politische und ökonomische Forderungen artikuliert werden. Diese Entwicklung kam zwar völlig überraschend, aber für Leute wie mich, die sich schon länger mit den beschriebenen Veränderungsprozessen und den Kämpfen der sozialen Bewegungen in Istanbul beschäftigen, hat sich ein Traum erfüllt. Natürlich hat sich „Occupy Gezi“ rasch über ihren ökologischen Anlass hinaus entwickelt, aber die „Ursünde“, an der sich die Revolte entzündet hat, war neben dem Mall-Projekt die simple Tatsache, dass es durch die einsame Entscheidung des autoritären Regierungschefs ermöglicht worden war.

Tarlabasi gehört zum Stadtteil Beyoglu und liegt nur ein paar hundert Meter unterhalb des Geziparks und des Taksimplatzes in Richtung Goldenes Horn. Die Gegend durchläuft gerade eine radikale Transformation. Große Teile sind heute durch endlose Bauzäune abgeriegelt und zum Geisterviertel geworden. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich Tarlabasi zu einem der wichtigsten nichtmuslimischen Wohngebiete des Osmanischen Reichs entwickelt. Die nahe gelegene Grande rue de Péra, die heute als Istiklal Caddesi Istanbuls größte Flaniermeile darstellt, wurde in dieser Zeit immer beliebter, und das Viertel repräsentierte mit seiner Architektur und seiner kulturellen Mischung, aber auch mit der Mentalität und Lebensweise seiner Bewohner das „westlichste“ Gesicht des ganzen Reichs. Nur fünf Gehminuten vom Tarlabasi entfernt liegt das Galatasaray-Gymnasium, das im Jahr 1869 von Schülern aller möglichen Konfessionen besucht wurde: 277 stammten aus muslimischen Familien, 91 aus armenisch-gregorianischen, 28 aus armenisch-katholischen, 85 aus griechischen, 65 aus römisch-katholischen, 29 aus jüdischen 40 aus bulgarischen und 7 aus protestantischen.2

Nach den systematischen Attacken auf die nichtmuslimischen Gemeinschaften von Istanbul in den ersten Jahren der Republik und auch später – vor allem in den 1950er und 1960er Jahren – hatten die meisten dieser Stadtbezirke den Exodus ihrer ursprünglichen Bewohner erlebt. In die heruntergekommenen Häuser von Tarlabasi zogen ab den 1960er Jahren die Ärmsten der Neuankömmlinge ein, die „Anderen“ von Istanbul: Kurden, Zigeuner, assyrische Christen, afrikanische Migranten, Transsexuelle und andere am Rande der Legalität lebende Menschen. In den letzten vierzig Jahren hat sich dieser historische Innenstadtbezirk zu einem kunterbunten, informellen und heterogenen Teil Istanbuls entwickelt.

In den Jahren 1986 bis 1988 wurden in Tarlabasi 350 denkmalgeschützte Gebäude abgerissen, um Platz für eine höchst umstrittene sechsspurige Stadtautobahn zu machen. Die Straße schnitt das Viertel von den gentrifizierten Quartieren nahe der Istiklal ab. Das alte Tarlabasi blieb übrig als städtische Armutsecke und kam mangels einer anständigen Sozialpolitik immer mehr herunter. Doch bis zum Beginn der neuen „Einzäunungspolitik“ wurde die Armutsbevölkerung niemals aus dem Stadtzentrum vertrieben.

Das Tarlabasi-Viertel wird ausgelöscht

Als die AKP-Regierung entdeckte, wie viel Profit aus den städtischen Flächen gezogen werden kann, sorgte sie für die entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen und institutionellen Verfahren. 2005 wurde ein neues Gesetz, das sogenannte Stadterneuerungsgesetz 5366 verabschiedet, um die Sanierung historischer Stadtviertel zu erleichtern, für die bis dato die speziellen Bestimmungen des städtischen Denkmalschutzes gegolten hatten. So wurde Tarlabasi zum bevorzugten Objekt einer auf schnelle Gewinne zielenden Immobilienspekulation.

Das Stadterneuerungsgesetz 5366 führte die Zwangsenteignung als legale Waffe gegen Leute ein, die sich den Sanierungsprojekten widersetzten. Eine dem Ministerpräsidenten direkt unterstellte Behörde zur Wohnungsbauentwicklung namens Toki wurde reorganisiert, mit mehr Personal und Befugnissen ausgestattet und erhielt den Auftrag, die städtischen Sanierungsprojekte zu beschleunigen.3 Das galt nicht nur für die historischen Zentren, sondern für alle Flächen in öffentlichem Besitz. Außerdem ist dieser gigantische Immobilienverwalter auch Bauträger von mehr als einer halben Million Wohnungseinheiten mit unterschiedlichen Standards, die in weniger als zehn Jahren errichtet wurden. An der städtischen Peripherie zog man für die Armen reihenweise Betonklötze hoch.

Im Jahr 2006 hat die Regierung neun Straßenblocks in Tarlabasi, bestehend aus 278 Grundstücken mit einer Gesamtfläche von 20 000 Quadratmetern, als Sanierungsgebiet ausgewiesen. Damit konnte sich die Bezirksverwaltung von Beyoglu jederzeit gegenüber den Bewohnern des Quartiers durchsetzen. Sie schloss einen Partnerschaftsvertrag mit dem Bauunternehmen GAP, das zu dem gigantischen Mischkonzern Calik Holding gehört. Der umfasst 34 Firmen in diversen Bereichen (Bau, Finanzen, Energie, Textilien), einschließlich des Mediensektors (Sabah-Gruppe).4 An der Spitze des Konzerns steht Berat Albayrak, der Schwiegersohn von Regierungschef Erdogan.

Einige der besten Architekten der Türkei wurden eingeladen, sich mit Entwürfen an der Erneuerung des historischen Viertels zu beteiligen. Im Zuge dieses Projekts wurden inzwischen viele der 278 Gebäude abgerissen, 210 von ihnen standen unter Denkmalschutz. Wenn das Werk vollendet ist, wird ein absolutes Luxusviertel mit gemischter Nutzung entstanden sein, also mit Wohnhäusern, Büros und Geschäftsflächen, mit touristischen Angeboten wie Hotels und Restaurants.

Wenn der Bürgermeister von Beyoglu, Ahmet Misbah Demircan, von diesem Gentrifizierungsprojekt spricht, redet er sich in Begeisterung: „Wir haben in und um die Istiklal eine Dynamik in Gang gesetzt. Die Transformation von Tarlabasi springt jedem ins Auge. Jeder, der sich unser Beispiel anschaut, wird auch alles neu machen wollen. Jeder wird anfangen, bei sich Ordnung zu schaffen. Wir haben das Feuer entzündet, die Bewegung hat begonnen, und die Bewegung wird jetzt weitergehen, bis zum Ende. Das Feuer der Transformation wird schließlich auf alle Straßen übergreifen.“5

Was der Bürgermeister sagt, stimmt: Die Veränderung von Tarlabasi ist offensichtlich. Sie ist das Musterbeispiel eines Gentrifizierungsprojekts, das neue Räume für Reiche eröffnet und dabei ein armes, aber lebendiges Viertel unter sich begräbt. Die transformierten Räume werden ohne Respekt für ihre kulturellen, historischen Bezüge hergestellt – oder für die vorhandenen räumlichen Bedürfnisse der Bewohner und ihre gewachsenen Beziehungen. Das Projekt behandelt Tarlabasi wie eine abstrakte, leere Fläche: eine Tabula rasa, auf der das Viertel vom Reißbrett geplant, entworfen und gebaut wird.

Die Gewinnspannen, mit denen in Tarlabasi kalkuliert wird, sind der reine Wahnsinn: Die Investitionskosten werden auf etwa 250 Millionen Dollar geschätzt, der Wert der Immobilien nach Abschluss des Projekts dagegen auf mehr als eine Milliarde Dollar. Dieser fantastische Profit wird allein der Public-private Partnership zufließen, die bei diesem Geschäft alle Trümpfe in der Hand hält.

Die eigentlichen Kosten zahlen die Bewohner, die obdachlos werden oder in 40 Kilometer entfernt liegende Toki-Ghettos umgesiedelt werden. Oder die sich, wenn sie in ihrem „erneuerten“ Viertel bleiben wollen, in geschrumpften Wohnungen mit gigantischen Hypotheken wiederfinden. Im Juli 2011 forderte Amnesty International die türkischen Behörden auf, „die Serie von brutalen Zwangsräumungen zu beenden, die bereits eine ganze Reihe gefährdeter Familien praktisch obdachlos gemacht hat“.6

Jedes ehrgeizige Großprojekt, das Vertreibung und Enteignung mit sich bringt und menschliches Leiden verursacht, bedarf einer höheren Legitimation. Im Fall Tarlabasi haben die Behörden zunächst argumentiert, die Leute des Viertels seien an ihrer Armut selbst schuld. Sie wurden pauschal, unter Verweis auf den sozialen Hintergrund der einzelnen Gruppen und ihre Aktivitäten in der Schattenwirtschaft als „Kriminelle“ abgestempelt.

Der legitimatorische Slogan für das Stadterneuerungsprojekt lautete, es gelte „die vergiftete Prinzessin zu heilen“. Der städtische Raum ist demnach die Prinzessin, während die Armen das Gift sind, das ihr ausgetrieben werden muss. Diese Haltung wurde „ehrlich“ auf den gigantischen Bauzäunen präsentiert, wo das künftige, gentrifizierte Tarlabasi auf großen Plakaten als „sauber“, „glücklich“ und „europäisiert“ dargestellt wurde. Diese Selbstdarstellung spricht für sich – und sie demonstriert, dass das Projekt die Bewohner des Viertels vollständig ausschließt und ignoriert.

Mit der Occupy-Gezi-Bewegung hat das „Feuer der Transformation“ tatsächlich auf alle Straßen Istanbuls übergegriffen. Nachdem die Demonstranten das Viertel von den Polizeitruppen zurückerobert hatten, wurden die schändlichen Trennzäune der Gentrifizierung abgefackelt. Auf einem der niedergebrannten Zäune waren noch Reste der glückstrahlenden Gesichter des Bürgermeisters und des Regierungschefs zu sehen, daneben der Slogan: „Das neue Tarlabasi ist die Zukunft!“

Das Feuer der Transformation hat in Istanbul ein anderes Feuer entzündet: das Feuer der Wut, des Widerstands und der Hoffnung. Aber das ist vor allem ein friedliches und symbolisches Feuer. Erdogan hat die Demonstranten zwar als „Plünderer“ (Çapulcu) bezeichnet, aber Vandalismus war in der Umgebung des Geziparks eine extreme Ausnahme. Die Leute lebten hier ohne Polizeipräsenz zwei Wochen lang friedlich mitten in Istanbul. Direkt attackiert wurden die Zäune von Tarlabasi, die Bulldozer, die in der Nähe des Parks darauf warteten, ihn zu planieren, die Polizeifahrzeuge als Symbol der unverhältnismäßigen Gewalt gegen die Protestbewegung, die Übertragungswagen der Fernsehsender, die ihr Bestes taten, um den bekannten Spruch zu bestätigen, wonach „die Revolution im Fernsehen nicht vorkommt“ – und die paar bekannten Großunternehmen, die die Medien kontrollieren und die Stadtentwicklungsprojekte finanzieren.

Die türkischen Medien haben sich mit ihrer Berichterstattung auf verräterische Weise blamiert. Auf dem Höhepunkt der Proteste, am 2. Juni, brachte der Nachrichtensender CNN Türk einen Dokumentarfilm über Pinguine.7 Und am 16. Juni, als der Gezipark von der Polizei mit brutaler Gewalt geräumt worden war, machte die Zeitung Sabah mit der Schlagzeile auf: „Guten Morgen, Gezi“. Im Untertitel hieß es, die Polizei habe „den Park geräumt, ohne jemanden zu verletzen, und ihn wieder dem Publikum zugänglich gemacht“.

Es waren zweifellos einige der schmachvollsten Momente für die Pressefreiheit in der Türkei, die die Geschichte der Nation nicht zieren werden. Die Unterdrückung durch die Regierung sowie das intime und korrumpierte Verhältnis der Medien zur politischen Klasse und zur Immobilienbranche mögen dafür sorgen, dass selbst das offenste Feuer unsichtbar wird. Aber wenn die politischen und wirtschaftlichen Akteure weiterhin so tun, als sähen sie nicht, wie Istanbul brennt, könnten sie als Erste zu Asche werden.

Fußnoten: 1 Yasar Adnan Adanali, „Istanbul or How to obtain a building permit for Central Park?“: www.newmuseum.org/blog/view/ideas-city-istanbul-or-how-to-obtain-a-building-permit-for-central-park. 2 Özdemir Kaptan, „Beyoglu“, Istanbul (Iletisim) 1989, S. 125. 3 Die Selbstdarstellung der Toki ist nachzulesen auf: www.toki.gov.tr/english/eb.asp. 4 Das Medienimperium Sabah konnte die Calik Holding 2008 mithilfe umfangreicher Kredite staatlicher Banken kaufen. Seitdem singen die Zeitungen und TV-Sender des Medienunternehmens das Lob der AKP und Erdogans. 5 Interview in der Zeitung Hürriyet, 29. April 2012. 6 Erklärung von Amnesty International vom 18. Juli 2001. 7 Die BBC hat ihren Partnervertrag mit dem türkischen Sender NTV suspendiert, als NTV Türk eine BBC-Sendung über die Pressefreiheit und die Protestbewegung abschaltete. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Yasar Adnan Adanali ist Urbanist und Blogger, siehe reclaimistanbul.com/. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.07.2013, von Yasar Adnan Adanali