09.08.2013

edito

zurück

edito

Die Straße und das Recht

Audio: Artikel vorlesen lassen

Die ägyptischen Muslimbrüder hatten geschworen, sie würden nicht das Präsidentenamt anstreben. Dieses Versprechen haben sie gebrochen, angeblich um für „Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit“ zu sorgen. Doch Unsicherheit und Armut nahmen unter ihrer Herrschaft nur noch zu. Die Menschen gingen wieder auf die Straße, um den Rücktritt von Präsident Mursi zu fordern. So haben etliche Revolutionen begonnen. Waren sie siegreich, wurden sie jahrhundertelang gefeiert, und zwar ohne große Skrupel ob ihrer unziemlichen Spontaneität oder mangelnden Rechtsgrundlagen. Die Geschichte ist kein Juraseminar.

Nach dem Ende der Mubarak-Diktatur war es eine Illusion zu glauben, die jahrzehntelange Unterdrückung des politischen Lebens, also eines offenen demokratischen Meinungsstreits, habe keinerlei Auswirkung auf die ersten Wahlen. In diesen obsiegt häufig der Einfluss der am besten aufgestellten gesellschaftlichen oder institutionellen Kräfte (der großen Familienclans, der Armee, der ehemaligen Einheitspartei) oder derjenigen Organisationen, die klandestine Netzwerke gesponnen hatten, um der Repression zu entgehen (wie der Muslimbrüder). Das Erlernen demokratischer Umgangsformen dauert länger als ein Gang zu den Urnen.

In den letzten Jahren gab es auch in anderen Ländern gebrochene Versprechen, eine demokratisch gewählte Regierung, der die Abneigung oder Wut der breiten Bevölkerung entgegenschlug, Großdemonstrationen, die von sehr gemischten Koalitionen organisiert waren. Aber nirgends außer in Ägypten hat die Armee die Macht übernommen, den Staatschef ohne Urteil eingesperrt und dessen Anhänger ermordet. Gewöhnlich bezeichnet man ein solches Vorgehen als Staatsstreich.

Die westlichen Länder haben diesen Begriff vermieden. Als Meister der diplomatischen Subtilitäten haben sie offenbar das Urteil gefällt, dass manche militärischen Machtübernahmen – etwa in Mali, Honduras oder Ägypten – weniger unzulässig sind als andere. Zunächst hatten die USA die Muslimbrüder unterstützt, doch auch jetzt, nachdem Präsident Mursi von der Armee „abgesetzt“ wurde, geht die US-Militärhilfe für Kairo weiter. Das Traumszenario Washingtons war eine konservative Allianz zwischen Armee und Muslimbrüdern. Dieser Traum ist jetzt zerstoben. Das freut ganz unterschiedliche Akteure: Anhänger des alten Regimes, nasseristische Nationalisten, ägyptische Neoliberale, Salafisten, die laizistische Linke und das saudische Königshaus. Für einige von ihnen wird das Ganze mit einer Enttäuschung enden.

Obwohl Ägypten pleite ist, ging es beim Kampf zwischen Armee und Islamisten nie um Wirtschafts- oder Sozialpolitik. Die hat sich seit dem Fall Mubaraks kaum verändert. Doch was ist eine Revolution – ob mittels Wahlen oder per Staatsstreich vollzogen – tatsächlich wert, wenn sich in dieser Hinsicht gar nichts ändert? Die neue Führung macht das Wohl Ägyptens von den Hilfsgeldern (12 Milliarden Dollar) der Golfstaaten, also vor allem der ultrareaktionären Saudis abhängig. Wenn das die neue Richtung sein soll, wird das ägyptische Volk wieder auf die Straße gehen – was immer die Juristen dazu sagen. Serge Halimi

Le Monde diplomatique vom 09.08.2013, von Serge Halimi