09.08.2013

Nassers Tänzer

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Nassers Tänzer

Kleine Geschichte des ägyptischen Balletts von Mona Abouissa

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Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“, murmelt der weiße Schwan, ehe er seine imaginären Flügel ausbreitet und ins Scheinwerferlicht tritt. In diesem Moment wird aus Ekaterina Iwanowna die Schwanenkönigin, die am Ufer eines Sees aus Muttertränen lebt. Hinter den Kulissen wartet Hani, der Startänzer der Kairoer Oper, zwischen kichernden Schwänen auf seinen Einsatz. Gleich wird er in der Rolle des bösen Zauberers Rotbart auf die Bühne stürmen, um sich in den schicksalhaften Kampf gegen Prinz Siegfried zu stürzen. Auf der Bühne beherrscht Hani die Szene. Hinter dem Vorhang herrscht die Italienerin Erminia, künstlerische Leiterin und frühere Schwanenkönigin.

Ein Mann beobachtet schweigend diese russische Tragödie aus dem 19. Jahrhundert. Abdel-Moneim Kamel hat einst viele Hauptrollen getanzt, den Prinzen Siegfried und viele andere, hier wie am Moskauer Bolschoi-Theater, am NHK-Theater in Tokio, an der Mailänder Scala. Als die sowjetischen Experten Ägypten verließen, kämpfte er an der Seite von Erminia, seiner Ehefrau und einstigen Tanzpartnerin, für den Erhalt des ägyptischen Balletts.

In der Eingangshalle der Tanzakademie hängt eine riesige russische Puppe. Die ägyptischen Lehrer unterrichten, wie sie es einst in der UdSSR gelernt haben, in einer Mischung aus Russisch und Französisch: „Assemblé, e plié, e jeté“. Die russischen Pianisten sagen, das hier sei eine Minisowjetunion, ihr Geist habe die Akademie nie verlassen.

„Sie werden mich für verrückt halten“, lacht Aleya Abdel Razek und holt ihre Spitzenschuhe hervor, die so alt sind wie die Geschichte des ägyptischen Balletts. „Ich habe sie schon getragen, als ich die Abschlussprüfung auf der Bühne des Bolschois tanzte. Ich habe mir die Zehen mit Zeitungspapier umwickelt, es steckt immer noch drin.“ Sie ist jetzt über sechzig, und das Ballett hat sie nie verlassen. 1963 gehörte sie zu den ersten Tänzerinnen, die hinter den Eisernen Vorhang reisten. „Fünf Schmetterlinge fliegen in die Sowjetunion“, jubelte die Presse damals. Fünf halbwüchsige Ballerinen tanzten zum ersten Mal in ihrem Leben im Schnee, während hinter den Kulissen geheime Waffendeals mit den Sowjets ausgehandelt wurden. Ohne das ägyptische Militär gäbe es kein ägyptisches Ballett.

1958 war Präsident Nasser mit dem Lenin-Orden an der Brust aus Moskau zurückgekehrt, das gerade seinen Einflussbereich auf den Nahen Osten ausdehnte. Zahllose junge Ägypter gingen damals zum Studium an sowjetische Universitäten und Militärakademien; Ausbilder aus Moskau reisten in die umgekehrte Richtung. Der ägyptische Kulturminister Sarwat Okasha lud namhafte Persönlichkeiten des russischen Balletts ein, in Kairo eine Tanzakademie aufzubauen, darunter den ehemaligen Leiter des Bolschoi-Theaters Leonid Lawrowski.

Fünf Mädchen und drei Jungen, unter ihnen Abdel und Aleya, wurden ausgewählt, um in Moskau eine zweijährige Tanzausbildung zu absolvieren. Sie lebten von den anderen Tanzeleven isoliert und unter ständiger Überwachung – aber ihr Traum vom Bolschoi-Theater war in Erfüllung gegangen. Das erste Ballett an der Royal Opera von Kairo wurde 1966 aufgeführt: „Die Fontäne von Bachtschissarai“. Aleya tanzte die Zarima, bis heute ihre Lieblingsrolle. Präsident Nasser war so begeistert, dass er den Solisten schon am nächsten Tag den Verdienstorden verlieh.

Der Kairoer Ballettkompanie – bis heute die einzige Truppe für klassischen Tanz in den arabischen Ländern des Nahen Ostens – lag damals die Welt zu Füßen: triumphale Tourneen, Interviewanfragen, Preise, Besuche von Experten des Bolschoi-Theaters. Doch als die Royal Opera 1971 bei einem Brand zerstört wurde, errichtete man auf dem Grundstück ein mehrstöckiges Parkhaus. Im Jahr darauf brach Präsident Sadat mit Moskau. Die Tanzakademie verlor die russische Unterstützung, und die Spitzenkräfte wanderten nach Deutschland, in die Sowjetunion oder in die Vereinigten Staaten ab.

Damals studierte Ala Schiwelewa in Moskau. „Als sie hörten, dass Sadat die Sowjets ausgewiesen hatte, saßen die ägyptischen Studenten im Unterricht buchstäblich auf ihren Koffern, darauf gefasst, jeden Moment ebenfalls ausgewiesen zu werden.“ Man ließ sie aber ihr Studium zu Ende bringen. Heute bilden Ala und ihre ehemaligen Mitschüler an der neuen Kairoer Oper junge Tänzer aus.

1981 kehrte Abdel mit Erminia aus Italien zurück, um das ägyptische Ballett wiederzubeleben. Sie warteten in leeren Studios, hielten entmutigte Tänzer fest, tingelten durch alle möglichen Theater, von kleinen Bühnen bis zu Zirkuszelten. Aleya hat die improvisierten Verschläge nicht vergessen, hinter denen sie neben notdürftig abgedichteten Abwasserrohren in ihr Tutu schlüpfte. „Schritt für Schritt ist es uns gelungen, wieder eine Truppe aufzubauen“, erinnert sich Erminia, ehemalige Solotänzerin an der Scala.

Als 1988 die neue Oper fertiggestellt wurde, forderten Abdel Kamel und seine Truppe eine ständige Bleibe und setzten sich mit Sit-ins vor dem Kulturministerium schließlich durch: Sie wurden die offizielle Ballettkompanie der Kairoer Oper. Nach fast zwei Jahrzehnten kehrten „Schwanensee“ – und die Russen – zurück.

Im Tanzstudio der Oper müht sich Ala Schiwelewa mit den Pirouetten junger Tänzerinnen ab. Es frustriert sie, dass sich die Akademie nicht um die Grundlagenausbildung gekümmert hat. Ebenso wie Ekaterina kam Ala Mitte der 1990er Jahre aus der Ukraine nach Ägypten. „Wegen des Zustroms aus der ehemaligen Sowjetunion war die ägyptische Kompanie damals recht groß“, erinnert sich Schiwelewa. „Ich blieb in Ägypten, weil hier viele meiner früheren Studenten aus Odessa waren – alle herausragenden Tänzer des ägyptischen Balletts waren aus Odessa.“ Die meisten kehrten allerdings nach Hause zurück, als es mit dem Ballett in Russland wieder aufwärtsging.

Wachsame Offiziere bei den Proben

Keuchend und nach Luft schnappend greift der schwarze Schwan nach der erstbesten Stange in den Kulissen. Der Schweiß rinnt der Tänzerin über den entblößten Rücken. Sie hat nur wenige Sekunden, ehe sie leichtfüßig auf die Bühne zurückkehrt, zum berühmten Solopart mit den 32 Pirouetten. Die Aufführung findet morgen statt, aber ich darf sie nicht sehen. Militärs haben das Ballett ins Leben gerufen, und sie sind immer noch da.

Nassers Erben ziehen noch immer die Fäden im Hintergrund, auch an der Oper – vom Exoffizier Sarwat Okasha, der schon die Proben beaufsichtigte, als Aleya noch Studentin war, bis zum Exoffizier Mohammed Hosni, der die Öffentlichkeitsarbeit der Oper mit militärischem Griff dirigiert. Er verfasst Pressetexte, die wie geklont klingen, und verteilt die Einladungen zur Premiere unter seinen Günstlingen.

Während sich auf der Bühne der erste Akt entfaltet, verstecken sich Journalisten und Fotografen in den Kulissen. Wer erwischt wird, wird von Sicherheitsleuten hinauskomplimentiert und kommt schlimmstenfalls auf die schwarze Liste. Hosni hält die Berichterstatter alle für skandalgierige Aasgeier oder zionistische Verschwörer. Backstage ist seine Kampffront. Als nach drei Akten „Schwanensee“ Ekaterina ihre Fouettés tanzt, suche ich nach einem Anzeichen von Weichheit in seinem Gesicht – vergebens.

Der Zauberer Rotbart ist eine dramatische Rolle, „er verändert die Geschichte aller anderen Figuren, er beeinflusst alles auf der Bühne“, sagt Hani, der ihn verkörpert. Aber Backstage ist das anders. „Sie sagen dir, sie brauchen ein bestimmtes Papier, du gibst es ihnen. Sie wollen, dass du mit ihnen redest, du redest. Sie wollen deine Rolle vorgespielt haben, du spielst vor“, sagt er mit einem feinen Lächeln. Hani muss mit Intrigen und Machenschaften zurechtkommen, wenn er nicht gerade Damen in Schwäne verwandelt oder auf Tournee durch die Welt reist. Seine erste eigene Choreografie, die Geschichte des berüchtigten Mönchs Rasputin im Zwielicht des zaristischen Russland, ist, sagt er, seine Antwort auf die Politik der Muslimbrüder.

Erminia Kamel stieg 2004 zur Leiterin auf, leicht war das nicht. Trotz der Anwesenheit vieler Ausländer und der künstlerischen Sensibilität bei einem Großteil des Verwaltungspersonals an der Oper ist das alte System patriotischer Bevorzugung immer noch zu spüren – vielleicht ein aus der Kolonialzeit überkommener Reflex, der durch die Revolution von 2011 erneut angefacht wurde. Mit der Unterstützung ihres Mannes und diverser hochrangiger Politiker, wie des ehemaligen Kulturministers Faruk Hosni, gelang es Erminia, sich zu behaupten. Mit ihrer unnachgiebigen, aber gelassenen Art sorgte sie für Disziplin.

Während der kurzen Regierungszeit der Muslimbrüder von 2012 bis 2013 musste das Repertoire überarbeiten – die Kostüme in zeitgenössischen Stücken waren zu offenherzig, selbst die Liebesszene zwischen Romeo und Julia sollte gestrichen werden. „Wenn man die weglässt, wie soll das Publikum dann irgendetwas verstehen?“, fragte sie sich. Sie habe sich nach künstlerischer Freiheit gesehnt, wie es sie zuzeiten des Mubarak-Regimes gegeben habe. Die Opernkünstler, auch die Tänzer, bangten um die Zukunft ihrer Kunst und protestierten vor dem Kulturministerium gegen die Politik der Muslimbrüder. Auf der Straße zeigten sie Tanzaufführungen.

„Wenn im modernen Tanz gekämpft wird, ist das kein Spaß, es ist aggressiv – nicht wie im klassischen Tanz, wo Kampf stilisiert ist“, sagt Inas Yunes, und ballt die Hände zu Fäusten. Sie ist die Dekanin der Akademie und Schülerin von Aleya. „Ich liebe den modernen Tanz, die Themen sind neu und werden mit allen erdenklichen Bewegungen ausgedrückt. Das ist etwas ganz anderes als die klassischen Märchen.“ Wenn Siegfried in einer modernen Adaptation von „Schwanensee“ Rotbart herausfordere, meint sie, sei das wirklich Gewalt. Inas hat immer gern ausdrucksstarke Rollen getanzt – wie Martha Grahams Medea, die ihre eigenen Kinder tötet.

Aleyas Büro liegt über dem von Inas. Sie unterrichtet nicht mehr, weil sie keine Schüler findet, die ihr für eine Karriere als professionelle Tänzerinnen und Tänzer geeignet scheinen. In der Zeit, als Inas und Hani ausgebildet wurden, gab es Hunderte von Anwärtern auf eine Handvoll Plätze. Dieses Jahr sind nicht mehr als zehn neue Schüler in die Akademie eingetreten. Nur wenige der insgesamt 135 Eleven werden nach dem Abschluss ihres neunjährigen Studiums in die Ballettkompanie der Oper aufgenommen werden. An der Kairoer Oper ist Tanz zudem inzwischen überwiegend Männersache: Die Truppe hat Mühe, einheimische Tänzerinnen zu finden; die potenziellen Ballerinen verschwinden unter dem Schleier. Heutzutage steigt kaum eine aus dem Corps de ballet zur Schwanenkönigin auf.

Im letzten Akt von „Schwanensee“ tötet der gute Prinz den bösen Zauberer, doch die Geschichte des einstigen Prinzen Abdel endete anders. Bei der letzten Probe zum Gastspiel von „Schwanensee“ in Alexandria starb er an einem Herzinfarkt. Zu viele sind in den letzten zwei Jahren bei blutigen Auseinandersetzungen in Ägypten gestorben, der Tod ist keine Privatangelegenheit mehr. Öffentlich und lärmend verabschiedet sich das Land von seinen „Helden“, und so war auch der Abschied von Abdel-Moneim Kamel. Drei Tage trug die Oper Trauer. Die Presse widmete Kamels Tod mehr Aufmerksamkeit als seinem letzten „Schwanensee“. Die ägyptische Fahne umhüllte seinen Sarg, und viele streckten ihre Arme aus, um ihn zu tragen. In der Menge der Politiker und Prominenten, der Teeverkäufer und Wachleute war eine einzelne Frau mit ihrem goldenen Haar deutlich zu sehen: Erminia. Sie hat mit ihrem Mann die dunklen Zeiten durchgestanden und will jetzt sein Erbe bewahren.

Aus dem Französischen von Erica Fischer Mona Abouissa ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 09.08.2013, von Mona Abouissa