11.10.2013

Liebesalarm und Feuerkraft

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Liebesalarm und Feuerkraft

Das Fernsehprogramm in der Volksrepublik China von Jordan Pouille

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Kein Mensch liest mehr Zeitung in den Bussen der Linie 639. Die Fahrgäste auf dem Weg zur Arbeit ins neue Finanzviertel Jianwai Soho haben nur Augen und Ohren für „Die Freunde von Pan Shiyi“. So heißt die Online-Talkshow, die bereits am frühen Morgen über die Minibildschirme ihrer Smartphones flimmert, in der sich der schwerreiche Immobilienmagnat, Gesellschaftslöwe und Blogger Pan Shiyi mit ein oder zwei prominenten Gästen über Wirtschaft, Erziehungsfragen, die Luftverschmutzung in Peking oder, zum Beispiel mit dem Literaturnobelpreisträger Mo Yan, über Bücher unterhält.

Shiyis unmittelbarer Konkurrent ist der Musiker Gao Xiaosong, der die tägliche Sendung „Anruf am Morgen“ bestreitet. Zwanzig Minuten lang kommentiert der langhaarige Komponist ohne Teleprompter scheinbar spontan und dabei erstaunlich gut informiert die unterschiedlichsten Themen, von Manipulationen im chinesischen Fußball über die amerikanische Straßenverkehrsordnung bis zum europäischen Kino.

Vor der Karriere als Entertainer in seiner selbst produzierten Show saß Xiaosong in der Jury der unglaublich erfolgreichen Castingshow „China’s got Talent“ (500 Millionen Zuschauer). Doch im Mai 2011 wurde der Folkstar Xiaosong wegen Trunkenheit am Steuer zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt und in der „China’s got Talent“-Jury durch den Komponisten Antonio Chen aus Taiwan ersetzt. Xiaosong hat ein Stammpublikum von immerhin 3 Millionen Zuschauern, und die etablierten Sender reißen sich um die Wiederholungsrechte für „Anruf am Morgen“.

Die mit Abstand erfolgreichsten Sendungen in China sind allerdings die Gesangswettbewerbe. Rechnet man zu den Ausstrahlungen in der Hauptsendezeit die Wiederholung aller früheren Shows, dann unterscheidet sich ein chinesischer Fernsehapparat kaum noch von einer Karaoke-Anlage. In Hunan, Zhejiang, Schanghai oder Jiangsu werden vor allem ausländische Castingshows adaptiert. So lief in diesem Jahr auf Hunan TV jeden Freitagabend zwischen Januar und April „I am a singer“, eine chinesische Kopie des südkoreanischen Gesangswettbewerbs für Veteranen aus dem Showbusiness.

Das Konzept ist denkbar einfach: Sieben prominente Sängerinnen und Sänger aus China, Taiwan oder Hongkong treten mit den beliebtesten Hits aus dem nationalen Liedgut gegeneinander an. Jedes kleinste Detail – vom Catering für die Jury bis zum Outfit der Künstler – wird vermarktet, was dem Sender Einnahmen in Höhe von 300 Millionen Yuan (37 Millionen Euro) bescherte. Hunan TV ist heute die Nummer zwei auf dem chinesischen Fernsehmarkt; nur der staatliche Hauptsender China Central Television (CCTV) erreicht noch mehr Zuschauer.

Der Erfolg des kleinen Senders aus Südchina begann 2004 mit der Castingshow „Super Girl“. Die Idee war originell: Die jungen Sängerinnen, ausgewählt aus 300 000 Bewerberinnen, waren allesamt keine Profis, und die Zuschauer konnten per SMS ihre Lieblingsstimme auswählen. Dem Publikum gefielen besonders die außergewöhnlichen und flippigen Kandidatinnen. Das passte wiederum den Parteikadern nicht. Schließlich musste sich Hunan TV dem staatlichen Druck beugen und sein Zugpferd aus dem Programm nehmen. Das Finale im April 2011 sahen 400 Millionen Zuschauer.

Mit seiner neuen Show „I am a singer“ hat Hunan TV allen anderen den Rang abgelaufen, von „Chinese Idol“ (nach dem britischen Vorbild „Pop Idol“) und „Zhongguo da renxiu“ (China hat Talent), die auf Dragon TV (Schanghai) laufen, bis „The Voice of China“ (nach dem niederländischen Vorbild „The Voice of Holland“) vom Sender Zhejiang TV. Hunan TV setzte sogar noch eins drauf und kaufte die Rechte für „The X Factor: China’s Strongest Voice“ und „Superboy“. Doch die Konkurrenz schläft nicht. Zum Sendestart von „Super Star China“ investierte der 1960 gegründete Sender Hubei TV (HBTV) allein 630 000 Yuan (umgerechnet etwa 76 000 Euro) für die Platzierung eines Werbespots mit dem Slogan „I am not a singer, I am superstar China“.

„Wenn alle immer nur ausländische Erfolgsformate adaptieren, liegt noch ein weiter Weg vor uns, bis wir den gesamten chinesischen Markt erkundet haben“, meint der Journalist Yuan Zhiqiang von der Tageszeitung Global Times. Im Augenblick sind die chinesischen Produktionsfirmen vor allem damit beschäftigt, die Sendungen an die Bedürfnisse potenzieller Werbekunden anzupassen.

Während die Abende den Song Contests gehören, laufen nachmittags Flirtshows. Der Quotenrenner ist seit fast vier Jahren „Feicheng Wurao“ (Wer es nicht ernst meint, soll nicht stören) auf Jiangsu TV. Da sieht man etwa einen schweißgebadeten, etwas schwächlich wirkenden jungen Mann in der Mitte einer Arena stehen. Rundherum sitzen 24 Lolitas, die ihn mit allen möglichen Fragen bombardieren. Gefällt einer Bewerberin der junge Mann nicht, drückt sie auf einen Knopf, woraufhin das Schweinwerferlicht, unter dem sie sitzt, erlischt. Binnen anderthalb Stunden werden in „Feicheng Wurao“ die unmöglichsten Paare verkuppelt. Da sucht sich die elegante Dame aus Schanghai einen stämmigen Arbeiter aus oder die Tibetanerin in traditioneller Tracht zieht mit einem exzentrischen laowai (Ausländer) von dannen.

Psychologen gegen schädliche Werte

Als einmal eine Teilnehmerin erklärte, sie würde lieber im Fond eines BMWs heulen als auf dem Gepäckträger eines Fahrrads lachen, gab es den ersten Aufschrei. Die Parteispitze ärgerte sich, doch der Popularität der Sendung tat das keinen Abbruch, im Gegenteil. Als ein Kandidat mit Fotos von seinen Sportwagen prahlte und den Frauen seine Bankauszüge präsentierte, wurde Jiangsu TV wegen Verbreitung „schädlicher Werte“ öffentlich angeprangert, und die Behörden schickten zwei Psychologen ins Studio, die den Auftrag hatten einzugreifen, falls der Showmaster wieder einmal über die Stränge schlagen sollte. „Feicheng Wurao“ (durchschnittlich 60 Millionen Zuschauer) hat natürlich auch schon Nachahmer gefunden, darunter „Women Yuhui Ba“ (Lass uns ausgehen) auf Hunan TV und „Wei Ai Xiang Qian Chong“ (Liebesalarm) auf Zhejiang TV.

Neben den Song Contests und Kuppelshows sind außerdem Zirkusnummern sehr beliebt. In „Chinesische Promis gehen baden“ auf Zhejiang TV müssen zum Beispiel Stars unter Anleitung von Olympiasiegern in ein Schwimmbecken springen. Am 19. April ertrank ein Techniker. Die Show ging trotzdem weiter und erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit. Der Konkurrenzkanal Jiangsu TV baute das Format inzwischen unter dem Titel „Stars in Gefahr“ nach und strahlt seine Show sogar zur selben Sendezeit aus.

Die Teams hinter der Kamera sind genauso jung wie ihr Publikum. Der Kanadier Mark Rowswell alias Dashan, ein erfolgreicher Komiker und Meister der Stand-up-Comedy, tritt seit fast 20 Jahren in China auf. Er hat inzwischen den Eindruck, dass er mit seinen 48 Jahren oft der Älteste im Team ist: „Die Produzenten, Regisseure und Drehbuchschreiber sind heutzutage gerade mal 30, und sie behandeln mich wie einen alten Rockstar“, erzählt Rowswell.

Seit einem Dekret vom September 1993, das der damalige Premierminister Li Peng erließ, sind in ganz China Parabolantennen verboten – mit Ausnahme von Behörden, Staatsunternehmen, Grand Hotels und den Diplomatenvierteln. Der Auslöser für das Verbot war die Rede eines gewissen Rupert Murdoch gewesen.

Der US-amerikanische Medienunternehmer hatte damals gerade eine Mehrheitsbeteiligung an einem bankrotten Hongkonger Sender für 525 Millionen Dollar erworben, als er mit den folgenden Worten die chinesische Führung erzürnte: „Die neuen Telekommunikationsmittel stellen eine direkte Bedrohung für alle totalitären Regime dar. Die Satellitenübertragung gibt den informationshungrigen Einwohnern dieser abgeschotteten Gesellschaften die Möglichkeit, die staatlich kontrollierten Fernsehsender zu umgehen.“2 Das war das Ende der Parabolantenne in China. Die Mehrheit der Bevölkerung kann also weder BBC noch CNN empfangen. Dafür gibt es etwa 40 Gratiskanäle, allein für jede Provinz mindestens einen, die landesweit übertragen werden. Hinzukommen die 16 Kanäle des im Jahr 1958 gegründeten Staatssenders CCTV (China Central Television).

Über die neue CCTV-Zentrale in Peking, deren Architektur an die Form einer Boxershorts erinnert, werden zwar gern Witze gerissen, aber mit CCTV ist nicht zu spaßen. Der Staatssender produziert insgesamt 400 Sendungen und dominiert immer noch den Fernsehkonsum der Chinesen, die im Durchschnitt täglich zwei Stunden fernsehen (Internet nicht eingerechnet), davon allein 45 Minuten CCTV. „Xinwen Lianbo“, die 19-Uhr-Nachrichtensendung im Hauptsender CCTV 1, die gleichzeitig auch auf allen Informationskanälen der Provinzen läuft, ist seit ihrer Gründung 1978 die meistgesehene Sendung des Landes. Nach offiziellen Angaben hat sie 135 Millionen „treue Zuschauer“.

13 000 Euro pro Sekunde

Die halbstündige Nachrichtensendung ist das Hauptinstrument der politischen Propaganda: Treffen von Staatschefs in den Empfangsräumen des Volkspalasts, feierliche Erklärungen der Parteikader, Lob der wirtschaftlichen Erfolge der Regierung. Der einzige wahre Satz, der in dieser Sendung ausgesprochen werde, witzelt man in China, sei die Begrüßung: „Guten Abend, es ist 19 Uhr. Hier ist ‚Xinwen Lianbo‘ “. Zudem wird die Sendung nicht live ausgestrahlt, sondern einige Minuten vorher aufgezeichnet, damit die Zensoren gegebenenfalls noch eingreifen können.

Ein weiteres sprechendes Beispiel für die nach wie vor unnachgiebige Kontrolle der Partei ist das Programm von CCTV 7. Nach der Begrüßung nebst Nationalhymne behandelt der Sender vom frühen Morgen an ausschließlich militärische Themen. Die Sendung „Military Report“, vor der stets Werbespots für verschiedene Reisschnäpse laufen, wird von zwei jungen Offizieren moderiert. Man sieht Soldaten beim Training, und am Ende sitzen alle gemeinsam am Tisch und essen.

Jeden Abend tritt ein Riese in Drillich, Militärstiefeln und dunkler Sonnenbrille vor einer Science-Fiction-artigen Kulisse auf und erläutert mit energischer Stimme die Feuerkraft der MBT-3 000-Panzer, die Schnelligkeit der Chengdu-J-20-Jäger oder die Präzision der Lijian-Drohnen. Danach ergreifen Experten von der Nationalen Verteidigungsuniversität das Wort. Man spricht etwa über den Streit mit Japan um die Diaoyu-Inseln (auf Japanisch Senkaku)3 im Ostchinesischen Meer oder die Aufrüstung Taiwans durch die USA. Bei Erdbeben, Lawinenunfällen und anderen Einsätzen der Armee zur Bergung von Opfern berichtet CCTV 7 stets live aus dem Katastrophengebiet.

Außerdem ist CCTV der einzige Sender, der Sportereignisse übertragen darf. Die 64 Spiele der letzten Fußballweltmeisterschaft im Sommer 2010 liefen in voller Länge ausschließlich auf CCTV. Für jede Werbesekunde verlangte der Staatssender umgerechnet rund 13 000 Euro und fuhr gigantische Gewinne ein.

Die traditionelle Neujahrsgala, bei der die Zuschauer in diesem Jahr die Sängerin Peng Liyuan kennenlernen durften, die mit Staatspräsident Xi Jingping verheiratet ist, gehört zur Sparte Familienprogramm. Genauso wie der TV-Flohmarkt „Sammlungen unter freiem Himmel“, der seit 2006 viermal pro Woche auf Beijing TV läuft. In dieser Sendung, die der BBC-Serie „Antiques Roadshow“ nachempfunden ist, treten Chinesen aus allen sozialen Schichten vor die Kamera und zeigen ihre Schätze, von der Statue aus Jade bis zur Ming-Vase.

Vier renommierte Experten begutachten die Objekte. Ist das antike Stück echt, wird es mit dem Siegel „Nationaler Schatz“ ausgezeichnet, und der stolze Besitzer bekommt ein Gutachten mit dem Schätzwert überreicht. Der Kandidat geht mit Ehren überhäuft nach Hause. Entpuppt sich das Objekt jedoch als billige Fälschung, darf der Moderator es an Ort und Stelle zerstören, und die amüsierten Zuschauer können sich an dem betretenen Gesichtsausdruck des Eigentümers weiden, der seinen vermeintlichen Schatz, im Gegensatz zu der britischen Fair-Play-Variante der Show, nicht anonym abgeben darf.

Fußnoten: 1 „Reality the next big thing on TV screens“, China Daily, 30. April 2013: www.china.org.cn/arts/2013-04/30/content_28698664.htm. 2 Siehe George Monbiot, „Rupert Murdoch doesn’t even have to ask to get what he wants“, The Guardian, London, 22. April 2008. 3 Siehe Shi Ming, „Rasseln ohne Säbel. Im Konflikt mit Japan überschätzt China seine Kräfte“, Le Monde diplomatique, Mai 2013. Aus dem Französischen von Sabine Jainski Jordan Pouille ist Journalist in Peking.

Zweitausend Kanäle

In Chinas Haushalten stehen 400 Millionen Empfangsgeräte (ein Gerät auf drei Einwohner). Das Staatsfernsehen CCTV (China Central Television) verfügt über 16 landesweite Kanäle, dazu gibt es ein Senderbouquet in den 22 Provinzen, den fünf Autonomen Gebieten sowie in vier regierungsunmittelbaren Städten, Peking, Chonqqing, Schanghai und Tianjin, und in den beiden Sonderverwaltungszonen Hongkong und Macao. Jede Provinz hat das Recht, mindestens einen Kanal landesweit auszustrahlen. Es gibt auch Sender für einzelne Städte, Distrikte oder Minderheitensprachen. Dazu kommen private wie öffentliche Spartenkanäle, die zum Teil sehr spezialisiert sind (Handwerk, Billard, Teleshopping, Serien und so weiter). Insgesamt wird die Zahl der Fernsehsender auf dem gesamten chinesischen Staatsgebiet auf 2 000 geschätzt. Ein chinesischer Haushalt kann davon je nach Standort zwischen 40 bis 200 umsonst empfangen. Zu den meistgesehenen Programmen (neben den Nachrichten auf CCTV 1, die gleichzeitig auch auf den örtlichen Informationssendern laufen) zählen vor allem Castingshows.

Le Monde diplomatique vom 11.10.2013, von Jordan Pouille