11.10.2013

Im siebten Kreis der Hölle

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Im siebten Kreis der Hölle

von Toni Keppeler und Cecibel Romero

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Das Gefängnis heißt im Volksmund „Mariona“, nach dem Stadtteil am Rand von San Salvador, in dem es steht. Sein offizieller Name ist „Penitenciaría Central ‚La Esperanza‘ “ – „Zentrale Strafanstalt ‚Die Hoffnung‘ “. Man kann das als zynisch empfinden. Wer hier hereinkommt, lässt alle Hoffnung fahren. Draußen auf der Straße steht alle paar Meter ein Soldat in Tarnuniform in der brütenden Hitze, eine Sturmhaube mit schmalem Sehschlitz übergezogen, den Finger am Abzug eines Sturmgewehrs. Dahinter die hohe Mauer, gekrönt von Drahtrollen, die mit kleinen scharfen Klingen bewehrt sind, mehrere Stockwerke übereinander. Auch die Schließer drinnen verstecken ihre Gesichter unter Sturmhauben. Man muss sich hier wie ein Schwerverbrecher fühlen.

Mariona gehört zu den besseren Gefängnissen des zentralamerikanischen Kleinstaats El Salvador. Die Höfe sind weit, auf einen passt sogar ein kleines Fußballfeld. Der Gebäudekomplex war ursprünglich als Schule gebaut und erst in den siebziger Jahren, als die Repression der herrschenden Militärs zunahm, zum Gefängnis umfunktioniert worden. Für 800 Häftlinge ist die Anstalt ausgelegt. Derzeit sind 5 195 Männer dort gefangen. Da wird es selbst auf den weitesten Höfen eng. Ganz zu schweigen von drinnen.

In den dunklen Gängen stehen Pfützen auf dem nackten Betonboden. Nur jede zweite oder dritte Lampe funktioniert. Die meisten Männer sind wegen der stickigen Hitze im Unterhemd oder mit nackten Oberkörper unterwegs; es riecht nach Schweiß, abgestandener Luft und Exkrementen. Die Gänge sind so eng, dass man sich an den ambulanten Händlern – auch sie sind Gefangene – vorbeidrängen muss. Vor sich auf dem Boden oder auf einem kleinen Tischchen bieten sie Lebensmittel, Süßigkeiten, Zigaretten zum Verkauf. Eigentlich ist dieser Kleinhandel nicht vorgesehen und eigentlich herrscht auch Rauchverbot.

Viel enger noch ist es in den Zellen. Links und rechts die Betten, in vier Stockwerken übereinander. Der unterste Häftling liegt auf dem Boden. Dort schlafen die Ärmsten. Denn die Schlafplätze werden nicht von der Gefängnisverwaltung zugeteilt, sie werden verkauft – von denjenigen Gefangenen, die im Block das Sagen haben. Die Betten sind mit Tüchern abgehängt, dahinter eineinhalb Quadratmeter relativer Privatsphäre – die einzige, die ein Gefangener hat. Zwanzig, dreißig Mann sind nachts in einer Zelle eingesperrt. Oft gibt es nicht einmal ein Fenster. Die vergitterte Tür zum Gang ist dann die einzige Luftzufuhr. Außer den Betten gibt es nichts; keinen Stuhl, keinen Tisch, keinen Spind. So etwas hätte keinen Platz. Zwei Zellen teilen sich ein Waschbecken, eine Kloschüssel und eine Dusche. Meistens gibt es kein Wasser.

„Wie können Häftlinge auf zwei Quadratmetern leben?“, fragt Nelson Rauda, bis zum Mai dieses Jahres Direktor des nationalen Gefängniswesens in El Salvador. „Sie haben auch vorher nicht viel anders gelebt“, antwortet er sich selbst. „Die Welt draußen bedingt die Verhältnisse drinnen.“ Im Vorzimmer zu seinem Büro, hinter einem Tischchen mit lila Plastikrosen und zerlesenen Zeitschriften, hängen an der Wand in zwei Bilderrahmen die offizielle „Mission“ und „Vision“ des nationalen Gefängniswesens. Die Mission: „Dem Verurteilten anregende Bedingungen anzubieten, die seine soziale Integration auf dem Weg seiner persönlichen Entwicklung fördern und der Prävention weiterer Delikte dienen.“ Und die Vision: „Gefängnisse zu schaffen, die modern sind und sicher und die der Wiedereingliederung dienen.“ Rauda nennt die beiden Sinnsprüche „unseren Kompass“, ganz ohne bitteren Zynismus.

Doch der drängt sich auf. Mariona ist kein Einzelfall. Im einzigen Frauengefängnis des Landes kommen neun Gefangene auf einen Platz. Auf der weltweiten Rangliste der Staaten mit vollgestopften Haftanstalten nimmt El Salvador mit 324,7 Prozent Überbelegung den zweiten Rang ein, überboten nur von Haiti mit 335,7 Prozent. Unter den ersten zehn Ländern dieser traurigen Liste finden sich sechs aus Lateinamerika, darunter auch relativ reiche wie Venezuela (Platz 5 mit 270,1 Prozent Überbelegung).1

Ofelia Taitelbaum, staatliche Ombudsfrau von Costa Rica, nennt die Gefängnisse ihrer Region „Menschendeponien“. Nelson Rauda spricht von einer „sozialen Bombe“, die man dringend „entschärfen“ müsse.

Diese Bombe ist brandgefährlich, und sie explodiert immer wieder. Am heftigsten zuletzt am 14. Februar 2012 im Provinzstädtchen Comayagua in Honduras. Das Gefängnis dort ist für 250 Gefangene ausgelegt und war in jener Nacht mit 852 Häftlingen belegt. Um 22.45 Uhr entzündete sich in Zelle 6 – vermutlich wegen eines Kurzschlusses – ein Feuer, das sich schnell ausbreitete. Die Zellen blieben zunächst verschlossen, die Gefangenen versuchten, über das brennende Dach zu fliehen. Die anrückende Polizei schoss mit Schnellfeuergewehren auf sie, während die Feuerwehr vor dem brennenden Trakt wartete. Am Ende war es ein Häftling, der durch das Feuer hineinging und die Türen öffnete. Er half als Krankenpfleger aus und hatte deshalb in der Krankenstation außerhalb des abgeschlossenen Bereichs übernachtet. Er bedrängte den Oberschließer so lange, bis er die Schlüssel ausgehändigt bekam. Bis dahin waren bereits 362 Gefangene erstickt oder verbrannt.2

Die Gefahr war den Behörden längst bekannt. Nach einem Brand im Gefängnis von San Pedro Sula nahe der honduranischen Karibikküste am 17. Mai 2004 mit 107 Toten hatte die Feuerwehr alle 24 Haftanstalten des Landes inspiziert. Auch in San Pedro Sula war ein Kurzschluss die Brandursache. Das Feuer war nachts in einer 200 Quadratmeter großen Zelle ausgebrochen, in der 183 Männer eingesperrt waren. Als Belüftung dienten die Zellentür und ein kleiner Schacht im Dach. Wasser gab es nicht. An die offen liegenden Stromleitungen hatten die Häftlinge 62 Ventilatoren, 2 Kühlschränke, 10 Fernsehgeräte, 3 Klimaanlagen, 3 Küchenmaschinen, 3 Bügeleisen, 5 Lautsprecher, eine Verstärkeranlage, ein Mikrowellengerät, einen Mixer und einen Elektroofen angeschlossen. Es war bereits festgestellt worden, dass die Stromleitungen völlig überhitzt waren.3

Bei der landesweiten Inspektion danach hatte die Feuerwehr in Comayagua ähnliche Zustände vorgefunden, auf „eine hohe Wahrscheinlichkeit eines Brandes“ hingewiesen und Notmaßnahmen vorgeschlagen: die Überprüfung und Sanierung der Elektroinstallationen, Feuerlöscher, gekennzeichnete Fluchtwege, einen Evakuierungsplan. Nichts ist geschehen. Rodrigo Escobar, Vizepräsident der Interamerikanischen Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten, sprach hinterher von einer „angekündigten Tragödie“.

Der Tod von Häftlingen wird nicht nur billigend in Kauf genommen. In den Gefängnissen wird auch gezielt gemordet – von staatlichen Sicherheitskräften. Ein Jahr vor dem Brand von San Pedro Sula, am 5. April 2003, wurden ganz in der Nähe im Gefängnis von La Ceiba nach einer Meuterei 69 Häftlinge getötet. Laut dem Bericht einer staatlichen Untersuchungskommission wurden sie von Vollzugsbeamten, Polizisten und Soldaten erschlagen oder aus nächster Nähe erschossen, nachdem die Lage längst unter Kontrolle war. Keiner der Mörder wurde je belangt.

Massaker – oft mit Beteiligung der Sicherheitskräfte – sind endemisch in den Gefängnissen Lateinamerikas. Ein paar Beispiele:

– In Guatemala wurden am 25. September 2006 bei einer Razzia im Gefängnis Pavón 7 Häftlinge aus nächster Nähe exekutiert. Die Razzia wurde vom Polizeichef des Landes geleitet.

– In Haiti nutzte die Polizei das Chaos nach dem Erdbeben vom 12. Januar 2010 und erschoss und erschlug im Gefängnis von Les Cayes nach einer Meuterei am 19. Januar mindestens 20 Häftlinge.

– Im Februar dieses Jahres wurden im Gefängnis von Monterrey in Mexiko unter Mithilfe des Wachpersonals 44 Gefangene erstochen und erschlagen. Die Getöteten gehörten zu der Drogenmafia des Golf-Kartells. Die Wärter hatten in der Nacht rund 200 inhaftierte Mitglieder des konkurrierenden Zeta-Kartells in ihre Zellen geleitet. Das Gefängnispersonal war von den Zetas mit „Monatsgehältern“ von umgerechnet 600 bis 1 200 Euro bestochen worden.

– Am 23. August dieses Jahres starben bei Auseinandersetzungen zwischen zwei Gefangenengruppen in der Haftanstalt Palmasola bei Santa Cruz im Osten Boliviens mindestens 30 Menschen. Unter anderem wurden bei der Schlacht Gasflaschen als Flammenwerfer eingesetzt. Das Wachpersonal griff nicht ein.

– Im Januar dieses Jahres wurden im Gefängnis Uribana im Nordwesten Venezuelas nach einer Meuterei 58 Häftlinge ermordet. Im September gab es im Gefängnis von Maracaibo unter ähnlichen Umständen noch einmal 16 Tote.

„Die Gefängnisse sind eine Katastrophe, von Mexiko bis Argentinien“, sagt Escobar von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission und nimmt dabei kein Land aus. Cesar Peluzo, bis April 2012 Präsident des obersten Gerichtshofs von Brasilien, nennt die Haftanstalten in seinem Land „ein Staatsverbrechen gegen das Volk“. Tausende von Häftlingen sind in Lateinamerika in den vergangenen Jahren eines gewaltsamen Todes gestorben.

Nach einem Bericht der Interamerikanischen Menschenrechtskommission4 für die Jahre von 2005 bis 2009 sind die Gefängnisse Venezuelas die weitaus gefährlichsten: 1 865 Gefangene starben dort in diesem Zeitraum eines gewaltsamen Todes. Aber selbst in relativ stabilen Ländern wie Chile (203 Tote) oder Ecuador (172 Tote) geht es in den Justizvollzugsanstalten grausam zu. Sogar im kleinen und für lateinamerikanische Verhältnisse reichen Uruguay wurden in diesen fünf Jahren 57 Gefangene umgebracht. Dazu kommen nach diesem Bericht Hunderte Selbsttötungen aus Verzweiflung oder wegen Folter, sei es, um Geständnisse zu erpressen oder Häftlinge zu bestrafen. Der Kommission sind sogar Dutzende von Fällen bekannt, in denen Gefangene in der Haft spurlos verschwanden. Was zu Zeiten der Militärdiktaturen gang und gäbe war, kommt unter demokratischen Verhältnissen noch immer vor.

Eine Besserung der Lage ist nicht in Sicht. Einsperren ist in Lateinamerika die Standardmethode der Verbrechensbekämpfung. Parlamente beschließen drastische Gesetze, um der Bevölkerung Entschlossenheit vorzugaukeln. Erst im September hat der Kongress von Guatemala einen Paragrafen verabschiedet, nach dem auf den Raub eines Mobiltelefons 6 bis 15 Jahre Haft stehen. So füllen sich die Gefängnisse schnell.

In El Salvador nahm die Zahl der erwachsenen Häftlinge in den vergangenen sechs Jahren um 103,5 Prozent zu, die der in Jugendgefängnissen Einsitzenden gar um 120 Prozent.5 Gleichzeitig wurden 8,1 Prozent des Personals eingespart. Ebenso wird an der Instandhaltung der Gebäude gespart und auch am Essen: El Salvador gibt für die Ernährung eines Häftlings umgerechnet 1,45 Euro am Tag aus, Honduras sogar nur 48 Cent. Würde der Kleinhandel in den Gängen der Knäste nicht toleriert, würden viele Gefangenen an den Folgen chronischer Unterernährung sterben.

Die Kontrolle innerhalb der Zellentrakte haben ohnehin die Häftlinge selbst. Die Stärksten entscheiden über die Verteilung des Essens, über den Verkauf von Schlafplätzen, über Disziplinarstrafen bis hin zum Tod. Als eine Delegation der Interamerikanischen Menschenrechtskommission Ende vergangenen Jahres das Gefängnis in San Pedro Sula inspizieren wollte, musste der Gefängnisdirektor den Besuch des Zellentrakts erst mit den Häftlingen aushandeln. „In diesem Gefängnis hat das Haupttor zwei Schlösser: eines innen, das von den Gefangenen angebracht wurde, und ein äußeres, das von der Gefängnisverwaltung kontrolliert wird“, schrieben die Inspekteure in ihren Bericht. „Die Wachen wissen, dass sie ohne Autorisierung der Gefangenen das Tor nicht passieren dürfen.“ Man nennt diese Tür in San Pedro Sula die „Todeslinie“.6

Draußen in der Freiheit regt sich niemand darüber auf. Die unmenschlichen Zustände hinter den Gefängnismauern sind allgemein akzeptiert, eine Folge der extremen alltäglichen Gewalt in der Region. Unter den zehn Ländern mit den weltweit höchsten Mordraten finden sich sieben aus Lateinamerika und der Karibik.7

Angeführt wird diese makabre Liste von Honduras mit 91,6 Morden pro 100 000 Einwohner im Jahr. Der weltweite Durchschnitt liegt bei 11 Morden, in Deutschland sind es 0,8. Flächenstaaten wie Brasilien oder Mexiko erscheinen in dieser Statistik mit 26 beziehungsweise 18 Morden pro 100 000 Einwohner als relativ ruhig. Verbrechensschwerpunkte wie Ciudad Juárez in Mexiko aber liegen sogar weit über dem Landesdurchschnitt von Honduras. Wegsperren, und zwar unter möglichst unmenschlichen Umständen, ist die einfachste und populärste Antwort auf diese Welle der Gewalt. Debatten über den Strafvollzug sind in Lateinamerika viel mehr von Angst und Rache bestimmt denn von einem Gedanken an Resozialisierung.

Die Sinnsprüche über die „Mission“ und „Vision“ von Haftanstalten im Vorzimmer des Direktors des nationalen Gefängniswesens von El Salvador erscheinen da wie blanker Hohn. Doch Nelson Rauda sagt fast trotzig: „Ich weigere mich, Abschied von meinen Träumen zu nehmen.“ Man müsse „die Gesellschaft mit den Gefangenen versöhnen“, dürfe „Häftlinge nicht mehr als Abfall der Gesellschaft sehen“. Er hat das redlich versucht. Doch zwei Tage nach dem Gespräch wurde er fristlos entlassen. Er hatte zwei wegen mehrfachen Mordes verurteilten Häftlingen erlaubt, an einer Debatte in einem Fernsehstudio teilzunehmen. Das Thema: die erschreckend hohe Mordquote El Salvadors und wie sie gesenkt werden könnte.

Fußnoten: 1 Zahlen aus Time vom 5. August 2013. 2 Siehe den Untersuchungsbericht der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH), „Informe de la Comisión Interamericana de Derechos Humanos sobre la situación de las personas privadas de libertad en Honduras“, CIDH: Honduras 2013. 3 CIDH: Honduras 2013, siehe Anmerkung 2. 4 Siehe „Informe sobre los derechos humanos de las personas privadas de libertad en las Américas“, CIDH, 31. Dezember 2011. 5 Siehe „El Salvador: Estudio institucional y gasto público en seguridad y justicia“, Studie der Weltbank, 14. Juni 2012. 6 CIDH: Honduras 2013, siehe Anmerkung 2. 7 Siehe „Human Development Report 2013“, United Nations Development Programme, S. 174 ff. Die salvadorianische Journalistin Cecibel Romero und der deutsche Journalist Toni Keppeler betreiben gemeinsam das Büro Latinomedia. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.10.2013, von Toni Keppeler und Cecibel Romero