13.12.2013

Der Fledermaus-Faktor

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Der Fledermaus-Faktor

von Jean-Marie Harribey

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Die guten Dienste, die in den USA die Spezies der Fledermäuse leistet, sind angeblich 22,9 Milliarden wert. Wie kommt man auf diese pralle Summe? Indem man den Wert der Insektizide schätzt, den man einspart, weil die Fledermäuse eine bestimmte Menge von Schädlingen vertilgen. Die jährliche Leistung, die Insekten durch Bestäubung von Nutzpflanzen erbringen, wird auf 190 Milliarden Dollar geschätzt, allein 153 Milliarden gehen auf das Konto der Bienen. Der Beitrag, den der französische Wald durch Photosynthese „leistet“, bemisst sich nach den Marktpreisen für die Verschmutzungsrechte, die für die vom Wald absorbierte CO2-Menge zu zahlen wären.1

Woher rührt diese Neigung, der Natur einen ökonomischen Wert zuzuschreiben, der sich am geldwerten Nutzen ihrer „Dienste“ für den Menschen bemisst? Nun, der Schaden für die Umwelt und die natürlichen Ressourcen hat derart zugenommen, dass selbst liberale Ökonomen in Panik geraten. Auch sie rechnen heute in ihre neoklassischen Modelle den Beitrag der Umwelt hinein, den sie völlig missachtet haben, solange sie die Natur als unerschöpfliche Gratisquelle betrachteten.

Aber genau diese Blindheit ist für die Krise des globalisierten Kapitalismus verantwortlich. Diese Krise ist keine rein konjunkturelle Erscheinung, sie gründet vielmehr in gesellschaftlichen und ökologischen Widersprüchen, die sich im neoliberalen Zeitalter weiter verschärft haben.

Auf der einen Seite führt die Entwertung der Arbeitskraft im Verhältnis zu ihrer Produktivität in den meisten Sektoren der industriellen Produktion zur Überproduktion. Die Folge sind Dauerarbeitslosigkeit, unsichere Beschäftigungsverhältnisse, die Aushöhlung der sozialen Sicherungssysteme und wachsende Ungleichheiten.

Auf der anderen Seite stößt die maßlose Akkumulation des Kapitals an die Belastungsgrenze des Planeten: Sie bedroht die Artenvielfalt und das ökologische Gleichgewicht, zehrt Ressourcen auf, verschmutzt die Umwelt und bringt das Weltklima durcheinander.

Aufgrund dieser beiden Widerspruchslinien wird es immer schwerer, und letztlich unmöglich, die menschliche Arbeitskraft zu zwingen, immer mehr Werte anzuhäufen und am Markt in Geld zu verwandeln. Anders formuliert: Der Kapitalismus als System kann eine bestimmte Schwelle der Ausbeutung von Menschen nicht überschreiten, ohne die Basis seiner Expansionsmöglichkeiten zu gefährden. Auch bei der Ausbeutung der Natur kann er eine bestimmte Schwelle nicht überschreiten, ohne die materiellen (und natürlichen) Grundlagen des Akkumulationsprozesses zu beeinträchtigen oder gar zu zerstören. Die 2007 einsetzende Finanzkrise hat vollends die Illusion zerstört, dass die Finanzsphäre sich von den gesellschaftlichen und materiellen Zwängen entkoppeln und zum Perpetuum mobile der Wertschöpfung entwickeln kann. Diese beiden beschriebenen Grenzen der Reichtumsproduktion sind „systemisch“ und damit unvermeidlich.

Vor diesem Hintergrund haben zwei wichtige Veränderungsprozesse die theoretischen Diskussion über das Verhältnis von „Reichtum“ und „Wert“ neu angestoßen.2 Der eine verallgemeinert ein „produktivistisches“ Entwicklungsmodell, das die ganze Welt erfasst, letztlich aber zerstörerisch wirkt. Der andere betrifft die wachsende Rolle des Wissens und der Erkenntnisse.

Zwei Tendenzen, zwei Fragen: Welche Art des Reichtums gefährdet der erste Transformationsprozess? Und wie verändert die Wissensökonomie die Arbeit als Quelle des Werts?

Zur ersten Frage: Die Instrumentalisierung der Natur hat ein Ausmaß angenommen, dass selbst die Ökonomen der herrschenden Neoklassik die Umwelt schützen wollen, wobei sie die Natur als ökonomische Ressource, als „natürliches Kapital“ betrachten. Begriffe wie „Inwertsetzung des Lebendigen“, „innere ökonomische Wert der Natur“ oder „Wert der von der Natur erbrachten Dienste“ sind mittlerweile geradezu Markenzeichen der Weltbank, des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (Unep), der OECD, der EU und anderer Institutionen.

Alle diese Ansätze gehen von der Möglichkeit aus, beide genannten Faktoren in eine einheitliche Kostenrechnung zu integrieren: also die von Menschen ausgeführten Arbeitsprozesse und die Umweltbedingungen, die nicht von Menschen geschaffen sind, wobei der „Wert“ der Letzteren nur qualitativ zu bestimmen oder von ethischen Urteilen abhängig ist.

Wenn jedoch allem ein ökonomischer Wert angeheftet ist, kann auch alles als Kapital betrachtet werden. Die neoklassischen Ökonomen verstehen folgerichtig unter „Reichtum“ schlicht die Summe der verschiedenen „Kapitalsorten“. Ob ökonomisches Kapital, Humankapital, „gesellschaftliches“ oder „natürliches“ Kapital: alle unterliegen demselben Berechnungsverfahren.

Die Natur ist kein Dienstleistungsunternehmen

Eine solche Analyse wird dem Stoffwechsel im Innern der natürlichen Ökosysteme in keiner Weise gerecht. Wenn für jedes einzelne Element die Kosten, der Preis und sogar die Nützlichkeit isoliert berechnet werden, gerät die wichtigste Tatsache völlig aus dem Blick: dass nur das Zusammenwirken all dieser Elemente die Grundlage des Lebens ausmacht und dessen Reproduktion gewährleistet.

1997 erschien die erste Studie, die versuchte, den ökonomischen Wert der Natur zu berechnen. Darin schätzte der Umweltexperte Robert Costanza den „Wert“ der im Jahr 1994 von der Natur erbrachten „Dienstleistungen“ auf 16 000 bis 54 000 Milliarden Dollar.3 Seitdem wurden zahllose weitere Studien publiziert. Aber welche Logik liegt all diesen Berechnungen zugrunde?

Der Preis, mit dem etwa der Wert des französischen Waldes erfasst werden soll, bildet sich im Auf und Ab der Finanzspekulationen; in der Natur selbst existiert ein solcher Preis natürlich nicht. Es gibt also überhaupt keine gemeinsame Maßeinheit für diese beiden Sphären. Ökonomie und Natur sind schlicht nicht vergleichbar.

Deshalb sollten wir uns an die Unterscheidung erinnern, die Aristoteles, Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx zwischen Gebrauchswert und Tauschwert gemacht haben. In dieser Differenz kommt zum Ausdruck, dass die natürlichen Ressourcen einen Reichtum darstellen, der keinen ökonomisch messbaren Wert besitzt, und dass es die Natur ist, der wir die Grundlage für die Herstellung der ökonomischen Werte verdanken, die durch menschliche Arbeit geschaffen werden.

Der von der Natur herrührende Teil des Reichtums ist per se kein ökonomischer Wert, weil dieser nicht „natürlich“, sondern gesellschaftlich geprägt ist. Wenn man also im Interesse einer nachhaltigen Entwicklung dem einen oder anderen „Naturgut“ einen Preis zuschreibt, ist dies ein politischer und kein am Markt gebildeter Preis. Er wird nach ökologischen Maßstäben vereinbart und für verbindlich erklärt.

In diesem Sinne ist der „Bestandswert“ der Naturressourcen gar nicht in ökonomischen Kategorien zu erfassen – er ist im Grunde unendlich, denn ohne Naturressourcen ist das Leben der menschlichen Gattung gar nicht möglich. Dagegen geht der ökonomische Wert, der mittels Ausbeutung der Naturressourcen im Produktionsprozess geschaffen wird, auf die in diesem Prozess vergegenständlichte Arbeit zurück. Er hat also nichts mit einem ökonomischen Pseudowert zu tun, der angeblich den Naturressourcen innewohnt.

Das skizzierte Paradox wurde freilich jenseits der politischen Ökonomie und deren marxistischer Kritik nie begriffen. Ohne die Natur kann der Mensch überhaupt nichts herstellen, weder als Gegenstände noch als ökonomische Werte. Wirtschaftliche Aktivitäten sind zwangsläufig Teil der gesellschaftlichen Verhältnisse und der diese umgebenden Biosphäre, zu der organische Substanzen, Pflanzen, Tiere und Menschen gehören. Um gemeinsam Gebrauchswerte herzustellen, sind die Menschen auf die Natur angewiesen. Aber es ist nicht die Natur, die den „Wert“ produziert, der per definitionem ein Begriff der Sozialanthropologie ist.

Das führt uns zu unserem zweiten Thema: wie die Revolution in den Informations- und Kommunikationstechnologien das Wissen zum maßgeblichen Faktor bei der Produktion gesellschaftlichen Reichtums macht. Damit entstand ein „Kapitalismus des Wissens“ – auch „Wissensökonomie“, „Informationsökonomie“ oder „immaterielle Ökonomie“ genannt –, der den alten Nachkriegskapitalismus der fordistischen Massenproduktion abgelöst hat.4

Diese Entwicklung wird kontrovers gedeutet. Für die einen wird damit die Arbeit als Quelle des Werts ganz beseitigt. Andere sehen dadurch alle Bereiche des Lebens in den Arbeitsprozess integriert: Leben als grenzenlose Arbeit. Für beide Theorien macht diese Entwicklung die Marx’sche Arbeitswerttheorie obsolet, die nur zu dem fordistischen Zeitalter gepasst habe.

In dieser postmarxistischen Sichtweise schafft die Arbeit keinen „Wert“ mehr. Dieser entstehe vielmehr „vor allem in der Zirkulationssphäre“ des Kapitals.5 Wenn die Transformation des Kapitalismus jeder Arbeitskraft die Möglichkeit verspreche, „sich selbst zu betätigen“, bleibe nur noch die Möglichkeit, diesen Prozess politisch einzuhegen und allen, die vom ökonomischen System marginalisiert werden, ein existenzsicherndes Mindesteinkommen zu gewähren. Das bedeute den Abschied von der Vollbeschäftigung, die nicht mehr erreichbar sei und im Übrigen dem alten Ziel einer Emanzipation von der Arbeit widerspreche.

Diese steilen Thesen zum „Wissenskapitalismus“ werfen einige Fragen auf. Die wichtigste betrifft die begriffliche Unterscheidung zwischen Reichtum und Wert oder zwischen Gebrauchswert und Tauschwert. In dem Maße, wie die Arbeitsproduktivität wächst und zugleich der Anteil der „lebendigen“ Arbeit abnimmt (für Marx ohnehin ein „tautologischer Satz“6) , vermindert sich der Tauschwert der Waren. Das vertieft die Kluft zwischen der Arbeit und dem von ihr geschaffenen Reichtum an Gebrauchswerten.7

Der innere Widerspruch des „neuen“ Kapitalismus tritt ferner bei dem Bemühen zutage, das Wissen fürs Kapital zu verwerten. Dem stehen wenigstens zwei Hindernisse im Wege.

Das erste ist die Tatsache, dass Wissen ökonomisch schwer zu verwerten ist, denn es kann aus den Köpfen der Menschen nicht einfach herausgeholt werden wie Kohle aus dem Berg. Wissen lässt sich nur mittels Anwendung verwerten, weshalb es das Patent gibt, das seine Nutzung entweder verbietet oder mit einer Rente belohnt.

Jenseits dieser Regelung jedoch ist das Wissen kollektives oder Gemeinschaftsgut schlechthin – selbst nach der Definition der neoklassischen Ökonomen. Es erfüllt die Prinzipien der Nichtausschließbarkeit wie der Nichtkonkurrenz. Niemandem kann zum Beispiel die Nutzung der nächtlichen Straßenbeleuchtung verwehrt werden, und deren individuelle Nutzung schließt auch keinen anderen aus.

Das zweite Hindernis für die kapitalistische Verwertung des Wissens liegt in dem Risiko, das bei seiner Verbreitung und Ausdehnung entsteht. Hier treten die Vergesellschaftung der Produktion und der Vermittlung von Wissen in Widerspruch zu deren privater Aneignung. Dieser Widerspruch ist der Kern der Krise, die der heutige Kapitalismus durchläuft; er zeigt sich in der Schwierigkeit, das Wissen zu Kapital, also zum Träger von Profit zu machen.

Wenn es möglich wird, einen Preis für Güter und Dienste zu bestimmen, der für das Kapital nicht rentabel sein muss, entsteht ein gesellschaftlicher Gestaltungsspielraum, der nicht mehr den Marktgesetzen unterliegt. So können nichtkommerzielle Dienste im Bildungs- und im öffentlichen Gesundheitswesen einen alternativen Raum für die produktive Tätigkeit von Menschen eröffnen, die vor allem am Inhalt ihrer Arbeit interessiert sind.

Diese Form des Reichtums ist auf doppelte Weise vergesellschaftet: durch die Entscheidung, produktive Fähigkeiten und Kapazitäten kollektiv zu nutzen und die Kosten dafür gesellschaftlich – mithin steuerfinanziert – aufzubringen. Diese „neue“ Arbeit erfüllt gesellschaftliche Bedürfnisse jenseits der Marktsphäre. Sie trägt zum gesellschaftlichen „Wohlstand“ bei – jener anderen Art von Reichtum, die mit dem ökonomischen „Wert“ nichts mehr gemein hat.

In dieser Perspektive ist der vergesellschaftete Reichtum keineswegs weniger „reich“ als der private, ganz im Gegenteil. Wenn wir der Warenwelt Grenzen ziehen, entsteht mehr Raum für gesellschaftlich organisierte Dienste und damit für Tätigkeiten, die zwar für die Allgemeinheit nicht „kostenlos“ sind, aber keinen marktgerechten Preis haben. Ein solcher „Raum des Unentgeltlichen“ hilft die Naturgüter und die sozialen Bindungen zu bewahren, die im doppelten Sinn „unschätzbar“ sind.

Fußnoten: 1 Siehe Annabelle Berger und Jean-Luc Peyron, „Les multiples valeurs de la forêt française“, Institut Français de l’Environnement (Ifen), Les Données de l’environnement, Nr. 105, Orléans, August 2005. 2 Die Differenz zwischen Reichtum und Wert (einer Ware) benennt Marx in „Das Kapital“ schon im allerersten Satz: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung.“ MEW 23, Berlin (DDR) 1968, S. 49. 3 Robert Costanza und andere, „The value of the world’s ecosystem services and natural capital“, Nature, Bd. 387, 15. Mai 1977, S. 253–260. 4 Siehe Christian Azais, Antonella Corsani und Patrick Dieuaide, „Vers un capitalisme cognitive. Entre mutations du travail et territoires“, Paris (L’Harmattan) 2000; Michael Hardt und Antonio Negri, „Empire. Die neue Weltordnung“, Frankfurt/New York (Campus) 2002; André Gorz, „Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie“, 4. Auflage, Zürich (Rotpunktverlag) 2010. 5 Yann Mouliser Boutang, „Cognitive Capitalism“, Cambridge (Polity Press) 2012. Siehe auch: „Marx in Kalifornien: Der dritte Kapitalismus und die alte politische Ökonomie“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft B 52-53/2001, S. 29–37. 6 Karl Marx, Ökonomisch Manuskripte 1857/58, in: Marx/Engels Gesamtausgabe (MEGA), Berlin (Akademie-Verlag) 2006, S. 697. 7 Dies bedeutet nicht zwingend eine entsprechende Kluft zwischen der Arbeit und ihrem Tauschwert: Die Löhne können im historischen Vergleich auskömmlich sein und dennoch immer weiter hinter dem gesellschaftlichen Reichtum zurückbleiben. Aus dem Französischen von Ulf Kadritzke Jean-Marie Harribey ist Dozent an der Universität Bordeaux IV. Zuletzt erschien von ihm „La Richesse, la Valeur et l’Inestimable“, Paris (Les Liens qui libèrent) 2013.

Le Monde diplomatique vom 13.12.2013, von Jean-Marie Harribey