13.12.2013

Glück von eins bis zehn

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Glück von eins bis zehn

von Katharina Döbler

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Die glücklichsten Menschen Deutschlands, hieß es vor zehn Jahren, lebten in Osnabrück. Was hat Osnabrück, fragte sich damals die ganze Republik erstaunt, das wir nicht haben? Gar nichts. Es hat sein Stadttheater und seinen Bahnhof, seine Krankenhäuser, Fahrradwege, Schulen und Parks, wie sie zum Standard deutscher Städte gehören. Es ist nicht reich und nicht arm, die Landschaft ist unspektakulär und das kulturelle Leben kein Thema für überregionale Feuilletons. Osnabrück ist Mittelmaß. Und genau dort gab es die meisten Menschen, die gemäß einer Umfrage des Magazins Stern von sich behaupteten, dass sie glücklich und zufrieden in und mit ihrer Stadt seien.

Kein Mensch ist, soweit man weiß, deshalb nach Osnabrück gezogen; jedenfalls wurde kein signifikanter Anstieg der Einwohnerzahl verzeichnet. Dafür ist das Glück weitergezogen: Es wohnt derzeit, jedenfalls nach den aktuellen Zahlen des „Glücksatlas der Deutschen Post 2013“, in Schleswig-Holstein – im erweiterten Speckgürtel um Hamburg, um genau zu sein.

Das Glück ist also in ein eher wohlhabendes Gebiet gezogen. Dass das Wetter dort regnerisch und kühl und die kulinarischen Traditionen eher bescheiden sind – geschenkt. Nach der letzten Krise haben sich, so könnte man meinen, die Koordinaten des Glücks eben geändert, und nur wer im Wohlstand lebt, fühlt sich auch wohl. Dafür spräche auch, dass nach ähnlich gelagerten Glücksstatistiken die Bewohner Griechenlands sehr weit unten auf der Skala rangieren.

Doch Statistiken beziehen ihre Aussagekraft bekanntlich daraus, welche Daten erhoben – das heißt: welche Fragen gestellt – und mit welchen anderen Daten sie in Beziehung gesetzt werden. Die Stern-Umfrage von 2003 war noch eine ziemlich hemdsärmelige Angelegenheit. Die Osnabrücker gaben einfach so ihre momentane Lebenszufriedenheit via Internet kund. Damals nahm man die Glücksforschung noch nicht so ernst wie heute.

Der „Glücksatlas“ dagegen basiert auf heute gültigen wissenschaftlichen Kriterien in dieser Branche. Für ihn hat der Freiburger Professor der Finanzwissenschaften Bernd Raffelhüschen Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Allensbach mit Daten aus dem sozio-ökonomischen Panel (Soep) kombiniert und ausgewertet. Es geht also um die alte Frage, ob Reichtum glücklich macht. Oder, etwas akademischer ausgedrückt: „Es wird zur empirischen Frage, inwiefern die wirtschaftlichen Bedingungen zum Wohlbefinden beitragen.“ So steht es in der Einleitung zum „Glücksatlas 2013“. Aber eine solche Fragestellung engt ja den Glücksbegriff schon ein: auf den Kontext der Ökonomie.

Man könnte nach dem Glück auch anders fragen und würde dann nicht bei Hamburg landen.

Der Versuch, das Glück empirisch aufzuschlüsseln, auf einer Skala von eins bis zehn messbar zu machen und dann in identifizierbare und beschreibbare Faktoren zu zerlegen, ist noch relativ neu. Er entspricht genau dem Fortschrittsglauben, der die Industriegesellschaften und ihre Heilsbringer vor sich hertreibt: Es muss alles immer besser werden. Es gibt Machbarkeitsstudien für so vieles, warum also nicht auch für das Glück. Denn das inhärente Ziel der Glücksforschung ist, wie bei jeder Forschung, die Verwertung.

Bei dem Bremer Glücksforscher Christian Kroll hört sich das so an: „Außerdem erlaubt das Forschungsthema Glück auch dem hohen Anspruch gerecht zu werden, die Welt vielleicht zumindest ein kleines bisschen besser zu machen, indem man dadurch systematisch Glücks- und Handlungsstrategien aufzeigen kann.“ Er träumt davon, dem Glück mit den Methoden der Optimierungsforschung beizukommen. In seiner Sprache werden Freunde und Familie zu „Sozialkapitalfaktoren“, und er vergleicht etwa den „Effekt eines Ehepartners für das Glück“ mit der für ein ähnliches Quantum Glück nötigen Geldsumme: „Dann kommen wir teilweise auf sechsstellige Summen. Das ist für viele Ökonomen verblüffend.“

Das Institut für experimentelle Glücksforschung (Ifeg) entstand erst ungefähr in der Zeit der Osnabrück-Umfrage. Aber schon 1986 reichte der Rotterdamer Soziologe Ruut Veenhoven seine Dissertation über die Bedingungen des Glücks ein („Conditions of Happiness“) und begann anschließend, eine weltweite „Datenbank des Glücks“ („World Database of Happiness“) zu erstellen, einen digitalen Glücksatlas, in dem die Ergebnisse von Studien und Erhebungen über das Glück der Menschheit gesammelt werden.

Aber schon sehr, sehr lange vorher schrieb der Begründer des Utilitarismus und Vordenker der amerikanischen Verfassung, Jeremy Bentham (1748–1832): „Der einzig und allein gerechte und einzig und allein zu rechtfertigende Endzweck des Staates ist: das größte Glück der größten Zahl.“ Keiner sonst hat einen so simplen und einprägsamen Zusammenhang zwischen Politik, Glück und Statistik herzustellen gewusst. Und kaum eine Formulierung könnte weiter entfernt sein vom individuellen, intimen und flüchtigen Empfinden des Glücks.

Natürlich haben Philosophen und Theologen zu allen Zeiten über das Wesen und die Ursachen des Glücks nachgedacht. Aber Theoretiker tun das anders als menschliche Einzelwesen, anders eben als Pubertierende oder Ehepaare oder Todkranke.

Der alte Stoiker Epiktet (55 bis 135) hat der Menschheit den Rat gegeben, sich keine Sorgen zu machen über Dinge, die „nicht in unserer Macht“ liegen. Das wären „unser Leib, Besitz, Ehre, Amt, und alles, was nicht unser Werk ist“.

Eine interessante Fortsetzung fand dieses Denken bei dem zoroastrischen Heiligen Maher Baba, dessen letzte Worte vor seinem endgültigen Schweigen wiederum der Jazzmusiker Bobby McFerrin in einen Popsong überführte: „Don’t worry, be happy“. Strahlender Fatalismus also. Man könnte auch sagen: Gelassenheit.

Aber das, was Epiktet noch außerhalb unserer Macht verortete, liegt inzwischen längst in der Reichweite aller möglichen Welt- und Selbstbeherrschungstechniken. Stoiker sind derzeit keine besonders gefragten Leute.

Durch erfolgreiche Selbstprogrammierung, durch das sogenannte Positive Denken, durch all die anderen zu Markte getragenen Möglichkeiten der Selbstoptimierung mit dem Mantra „Ich bin ein Gewinner“ gerät nicht nur Besitz und Ehre in den Bereich der vermuteten Eigenmacht, sondern sogar der Leib. Vor einigen Wochen ging – zum wievielten Mal? – eine dieser Studien durch die Presse, die empirisch belegen will, dass, wer glücklich ist, auch gesünder sei. Dass gesunde Menschen sich im Allgemeinen wohler fühlen als kranke, darf man als bekannt voraussetzen. Dass aber ein jeder dafür Sorge zu tragen habe, den eigenen Glücksstatus im Interesse seiner Gesundheit hochzuhalten, ist eine nicht mehr ganz neue, aber in derartigen pseudowissenschaftlichen Umkehrschlüssen implizit immer nachdrücklicher erhobene Forderung.

Wie bizarr eine dergestalt zielgerichtete Einflussnahme auf den Zustand des Leibes aussehen kann, zeugt der ungewollt satirische Körperzellen-Rock von Mosaro alias Michael Scheickl. „Jede Zelle meines Körpers ist glücklich, jede Körperzelle fühlt sich wohl. Jede Zelle, an jeder Stelle […] ist voll gut drauf.“ Man kann es sich auf YouTube ansehen und bekommt einen Eindruck von der Unerträglichkeit industriell produzierten Glücks.

Falls aber Sigmund Freud recht hat und „die Absicht, dass der Mensch glücklich sei, […] im Plan der Schöpfung nicht vorhanden“ ist – was bliebe dem Menschen dann anderes übrig, als das Glück (oder, nach Ruut Verhoven, dessen Bedingungen) nach Möglichkeit selbst, ganz ohne die Schöpfung, zu produzieren, zu erwerben, zu bewahren und zu vermehren?

Beispielhaft in diesem Zusammenhang ist das Königreich Bhutan: Dort hat das Glück bekanntlich Verfassungsrang. Zur Berechnung des Bruttoinlandsglücks (Gross National Happiness, GNH) werden psychisches Wohlbefinden, die Verwendung von Zeit, die Vitalität der Gesellschaft, kulturelle Diversität, ökologische Resilienz, Lebensstandard, Gesundheit, Bildung und Good Governance herangezogen.

Auch die Verfassung Ecuadors beinhaltet das Konzept vom Guten Leben (sumak kawsay/buen vivir). Jeremy Bentham wäre dennoch nicht sehr begeistert von dergleichen Staatszeilen gewesen; denn sie definieren Glück als etwas, das dem Fortschritt nicht nur nicht dient, sondern nicht einmal verpflichtet ist.

Näher an Benthams Fortschrittsauftrag, das „größte Glück der größten Zahl“ zu erzeugen, liegen solche Qualifizierungsmaßstäbe für Staatswesen wie der Better Life Index der OECD. Oder der der Nachhaltigkeit verpflichtete Happy Planet Index, der die Erzeugung des Glücks mit ihren ökologischen Kosten in Beziehung setzt. Da liegen Länder wie Mexiko, Kolumbien und Vietnam ganz weit vorn: Länder mit einer immensen Gewalterfahrung.

Man kann nur hoffen, dass niemand auf die Idee kommt, diese Gewalterfahrung, rein statistisch natürlich, zum Glücksfaktor zu erklären. Denn nach den Gesetzen des Utilitarismus müssten dann grauenhafte Dinge passieren.

Ja, das ist übertrieben. An der Produktion von Glücksfaktoren unterschiedlicher Glücksarten wird bereits auf friedliche Weise und in großem Maßstab gearbeitet. Nur dass die Menge nie ausreichen wird, denn die Nachfrage nach Glück ist unendlich.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.12.2013, von Katharina Döbler