10.01.2014

Die Nachtwölfe des Kreml

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Die Nachtwölfe des Kreml

Putins unheimliche Gefolgschaft von Peter Pomerantsev

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Die „Nachtwölfe“ (Nochnye Wolki) sind das russische Pendant zu den Hells Angels. Auf ihrem Gelände in Moskau stehen drei Meter hohe, aus Schiffspleuel zusammenmontierte Kreuze und eine gigantische Bühne aus zerborstenen Flugzeugteilen, die man auf Lkw-Motoren geschraubt hat. Die Bar wurde aus zerknautschten Harley-Davidsons gehämmert, Bootsrümpfe wurden zu Stühlen und Abteilwände stillgelegter Züge zu Tischen im Kingsize-Format umfunktioniert. Und Kreuze, wohin man sieht, fabriziert aus alten Fahrradrahmen, Lastwagenachsen und Maschinenteilen.

Die „Nachtwölfe“ sind Biker, die ihren russischen Gott gefunden haben. Als gute Patrioten haben sie die lateinischen Buchstaben in dem Schriftzug, der auf ihren Lederjacken prangt, durch Kyrillische ersetzt – in gotischen Lettern. Am Eingang zu ihrem Reich prangt noch immer ein Symbol der Hell Angels, ein Diamant mit einem in den Sockelstein eingeätzten „1 Prozent“-Zeichen, das nach der Hells-Angels-Legende eigentlich für das eine Prozent der Gesetzlosen steht. Doch die Nachtwölfe haben den Diamanten mit einem Satz umrahmt, der die alte Aussage verändert: „Im Himmel freut man sich mehr über das eine Prozent der reuigen Sünder als über die 99 Prozent, die keiner Erlösung bedürfen.“

„Uns bleiben nur ein paar Jahre, um die Seele des Heiligen Russland zu retten“, sagt Alexei Weitz, „nur ein paar Jahre.“ Weitz gehört zu den Leitfiguren der Nachtwölfe, von denen es in ganz Russland vielleicht 5 000 gibt – 5 000 Männer mit Beowulf nachempfundenen Bärten, die in ihrer Lederkluft auf Harleys herumkurven. Und Weitz ist derjenige, der am meisten dafür getan hat, dass die Gesetzlosen zu religiösen Patrioten bekehrt wurden. Wladimir Putin hat in den letzten Jahren mehrmals mit ihnen für Pressefotografen posiert: in Leder und auf einer dreirädrigen Harley.1

Die Nachtwölfe haben nach dem spektakulären Punkgebet der Pussy Riots („Mutter Gottes, verjage Putin. Kacke, Kacke, Gottes Kacke“) in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale am 21. Februar 2012 „die Ehre der Kirche“ verteidigt. Der Kreml spendiert den Nachtwölfen jedes Jahr mehrere hundert Millionen Rubel (derzeit entsprechen 43 Rubel einem Euro). Dafür werben sie im ganzen Land für Loyalität mit dem Kreml. Bei ihren Konzerten und Bikerfestivals bieten sie ein Potpourri aus fliegenden Yahamas, Trapeznummern à la Cirque du Soleil, nachgestellte Schlachten im Spielberg-Format, religiösen Ikonen, heiligen Ekstasen, alten Stalin-Reden und tanzenden Cheerleaders (die ihre Stiefel schon mal neben den riesigen Kreuzen abstellen). Zu ihrem letzten Konzert in Wolgograd im August 2013 zog es 250 000 Menschen – ein Weltrekord für solche Veranstaltungen. Am Schluss sangen alle die antikommunistische Perestroika-Hymne „Wir wollen Wandel“.

Ursprünglich war in Wolgograd auch ein Auftritt der Boxlegende Evander Holyfield vorgesehen. Der sollte im Begleitprogramm des patriotischen Spektakels einen Boxkampf ankündigen. Doch der fünffache Schwergewichts-Champion musste in letzter Minute absagen, weil es ein Problem mit seinem Visum gab.

„Warum Stalin?“, frage ich Weitz. „Hat er nicht Hunderttausende Priester ermordet?“ „Wir wissen nicht, warum er von Gott entsandt wurde. Vielleicht musste er sie abschlachten, um ihren Glauben zu testen. Wir wissen es nicht. Und ein Urteil steht uns auch nicht zu. Wenn man ein Geschwür herausoperiert, muss man auch gesundes Fleisch wegschneiden.“

Während unseres Gesprächs zieht der reichlich beleibte Weitz seinen Businessanzug aus und die Ledermontur an. Dann gehen wir in die Teestube, die einem kleinen, mit lauter Ikonen verzierten Holzhaus untergebracht ist. Wir trinken Tee aus aromatischen Heilkräutern, die Schamanen in Russlands Fernem Osten gesammelt haben. Weitz tut sechs Stück Zucker in seinen Becher und erzählt mir seine Lebensgeschichte: „Ich habe eine Ausbildung als Schauspieler, nach der klassischen Stanislawski-Methode. Mein Lehrer sagte immer, ich könnte tragisch und komisch zugleich wirken. Eine seltene Gabe.“

Zwischendurch zitiert er eine Zeile aus der berühmten russischen Kinoversion von Tschechows „Kirschgarten“, wobei er das Original perfekt imitiert. Dann macht er extra eine Pause, damit ich Beifall klatschen kann. „1994 hatte ich einen Zusammenbruch. Bei einem Gastspiel in London spielte ich die Hauptrolle im ‚Kirschgarten‘. Wir hatten ein Hotel im Norden, in Seven Sisters. Kennst du das? Eine schöne Gegend. Und da hab ich es einfach nicht mehr gepackt, es waren einfach zu viele Rollen. Zu viele Ichs.“

Eine Rockerbande kämpft für das Heilige Russland

„Zu viele Theaterrollen?“, frage ich. „Oh nein, das war okay, ich bin ja Profi. Es war etwa anderes: Ich hatte schon einige Zeit lang Visionen gehabt, religiöse Visionen. Ich konnte Teufel und Engel sehen, die den Leuten auf den Schultern saßen. Und Schlangen, die sich um ihre Leiber wanden – ihre wahren Seelen. Ich sah Dinge, die andere nicht sehen konnten. Die Aura der Leute, ihre Farben … Du siehst mich an, als sei ich verrückt. Aber ich habe nur besondere Gaben. Schon seit einiger Zeit interessiere ich mich für Religion, Yoga und Schamanen. Aber ich musste erst meinen Weg zum wahren Glauben finden. Ich konnte nicht beides sein: Schauspieler und ein Mann Gottes.“

Zurück aus London, gab Weitz die Schauspielerei auf. Er wurde tief religiös. Aber da er natürlich trotzdem einen Job brauchte, verschaffte ihm ein Kumpel eine Stelle bei einer neuen politischen Consultingfirma. Hier begann er Politikern beizubringen, wie man „politisches Bewusstsein manipuliert“, und zwar nach der Stanislawski-Methode. „Mit verbalen und nonverbalen Einflusstechniken“, hebt er hervor, und nach den Prinzipien des „Method-Actings“2 . „Als Erstes mussten sie entscheiden, worauf sie hinsteuern, was sie wollen … Worauf steuerst du hin, Peter?“, fragt er mich plötzlich. Ich weiß es nicht.

„Du steuerst auf den Tod zu. Wir alle steuern auf den Tod zu. Das ist das Erste, was ich jedem klarmachen würde. Wir leben Tag für Tag mit dem Tod. Wir sind Anhänger eines Totenkults. Wir wissen, wo die Reise hingeht.“

Weitz war schon als Teenager in der Sowjetunion verrückt nach Motorrädern gewesen. Die Bikerbewegung in der UdSSR hatte Ende der 1980er Jahre als dezidiert antisowjetische Bewegung begonnen, also pro Freiheit, pro Steppenwolf und als Vereinigung proamerikanisch. In den 1990er und in den nuller Jahren waren die Biker immer noch Teil einer randständigen Subkultur, aber immerhin mit Kontakten zu Motorradgangs in ganz Europa und darüber hinaus.

Die Hinwendung zum Patriotismus kam erst später. Der oberste Boss der Nachtwölfe, der Chirurg Alexander Zaldostanow, soll einmal einem orthodoxen Priester begegnet sein, der ihm erklärte, er müsse sein Leben ändern und das Heilige Russland retten. Weitz hat geholfen, Zaldostanows Mission in die Tat umzusetzen. Die Nachtwölfe sind streng hierarchisch organisiert: Wenn der Chirurg und Weitz sagen, dass sie ab jetzt orthodox sind, halten sich alle daran.

Aber der neue Glaube dürfte auch einen pragmatischen Grund haben. In den nuller Jahren begannen die internationalen Motorradgangs auch in Russland Fuß zu fassen. Die bekannteste dieser Gangs waren die Bandidos, die ursprünglich aus Houston, Texas, kamen. Sie wollten die Nachtwölfe zu ihrer russischen Unterorganisation machen. Die wollten aber ihr eigener Herr bleiben. Um ihre Biker bei der Stange zu halten, brauchten sie eine eigene „Philosophie“. Sie verschanzten sich hinter einer nationalistischen Wagenburgmentalität, legten sich russische Insignien zu und setzten das Gerücht in Umlauf, die Bandidos wollten Russland mit Drogen überschwemmen.

Dann schloss sich die kleine russische Gang „Three Roads“ den Bandidos an. Die nur ein Dutzend Biker starke Gruppe hatte zuvor immer zu den Nachtwölfen gehalten, doch nun wurde ihr Hauptquartier von einem Trupp Nachtwölfe überfallen, die den Three Roads in einer rituellen Demütigung ihr Vereinsbanner entwendeten. Das Rollkommando war mit Ketten und Schraubenschlüsseln bewaffnet. Wahrscheinlich wollten sie die Abtrünnigen nur erschrecken und für ihren Verrat bestrafen, aber einer der Three-Roads-Mitglieder geriet in Panik und schoss auf einen der Nachtwölfe, der später im Krankenhaus verstarb. Der Täter wanderte lebenslänglich in den Knast.

Es ist schwer auszumachen, wie groß die Bedrohung aus dem Ausland für die Nachtwölfe tatsächlich ist. Die zählen schließlich Tausende von Mitgliedern, während die Bandidos in ganz Russland nur ein paar Dutzend Anhänger haben. Aber wie Weitz es darstellt, sind die Nachtwölfe von allen Seiten umzingelt: „Die Bandidos sind Teil des amerikanischen Angriffs auf das Heilige Russische Reich. Hier ist die letzte Bastion der wahren Religion. Stanslawski sagte immer: Entweder bist du für die Kunst, oder die Kunst ist für dich.“

Mit Stalin, Gott und Stanislawski

Genau hier liege der Unterschied zwischen dem Westen und Russland: „Ihr seid Imperialisten, ihr denkt, alle Kunst gehört euch, und wir denken, wir alle sind für die Kunst. Wir geben, ihr nehmt. Deshalb können wir Stalin und Gott nebeneinander haben. Bei uns ist Platz für alle: Ukrainer, Georgier und Deutsche, Esten und Litauer. Der Westen löscht die kleinen Völker aus; innerhalb Russlands geht es ihnen gut. Ihr wollt, dass alle sind, wie ihr selber seid. Der Westen schickt uns seine Einflussagenten der Korruption, die Kabbala der Wucherer. Ein Russe, der in einer westlichen Firma ausgebildet wird, beginnt anders zu denken: Die Wurzel der westlichen Rationalität ist die Eigenliebe. Das ist nicht unsere Art.“

Der Westen habe Russland die Konsumkultur auf den Hals geschickt, sagt Weitz. Aber das bedeutet für ihn nicht, dass Washington oder London wirklich das Sagen haben: „Sie sind unter dem Kommando des Satans. Deshalb wollt ihr Syrien bombardieren, das Heimatland des Heiligen. Der Teufel will die Straße nach Damaskus erobern, aber die wird von Putin verteidigt. Ihr müsst lernen, den im Alltagsleben verborgenen Heiligen Krieg zu erkennen. Die Demokratie ist längst gescheitert. Alles in ‚rechts‘ und ‚links‘ aufzuteilen, bedeutet Spaltung. Das Reich Gottes kennt nur oben und unten. Alles ist eins. Das ist der Grund, warum die russische Seele heilig ist. Sie kann alles vereinen. Wie in einer Ikone. Stalin und Gott. Wie alles, was du hier bei den Nachtwölfen siehst: Wir nehmen Bruchstücke zerstörter Maschinen und löten sie zusammen.“

Er hält kurz inne. Ich muss ihn befremdet angeschaut haben, das Teeglas mit erstarrter Hand in der Luft haltend. Der Gedankensprung von Stanislawski zum Reich Gottes war so beiläufig erfolgt, dass mir keine Zeit blieb, meine Gesichtszüge zu richten. „Oder sagen wir, ich versuche zumindest, alles zusammenzustückeln“, meint Weitz, jetzt deutlich ruhiger. „Es ist alles noch unfertig. Vielleicht bekommen wir es gar nicht hin.“

Vor ein paar Jahren hatte sich für die Nachtwölfe ein Kontakt mit Wladislaw Surkow, dem damaligen Chefideologen des Kreml, ergeben.3 Zunächst wollten sie nur seine Unterstützung für ihre patriotischen Bikerfestivals gewinnen. Surkow war begeistert. Der große Zampano im Kreml nahm die Nachtwölfe unter seine Fittiche und finanzierte ihre Megakonzerte, indem er sie zur besten Sendezeit ins Fernsehen brachte. Heute beraten die Nachtwölfe den russischen Präsidenten in Sachen Glauben und Harley-Davidson, sie spielen auf der politischen Bühne mit und treten regelmäßig in Talkshows auf. Seitdem die Nachtwölfe die Protektion des Kreml genießen, käme keine andere Motorradgang auch nur im Traum auf den Gedanken, sich mit ihnen anzulegen.

Der Kreml braucht die Biker und ähnliche Bewegungen. Früher war die russische Diktatur auf andere Unterstützer angewiesen, um sich einen Anflug von Legitimität zu verschaffen: auf Claqueure, eine Surrogat-Opposition, die Pro-Putin-Jugendorganisation „Naschi“ (Die Unseren) und die zahmen politischen Parteien. Aber die haben an Wirkung deutlich eingebüßt. Heute halten nur 5 Prozent der russischen Bevölkerung ihre Regierung für „sehr effektiv“. Putins Popularität ist auf einen Tiefpunkt gesunken: Seine Zustimmungsrate von 60 Prozent wäre in einer Demokratie zwar ziemlich hoch, aber in einem System, das ganz auf einen Mann ausgerichtet ist, löst sie eher nur erstauntes Stirnrunzeln aus.

Allenthalben herrscht Apathie: Bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen im vergangenen September machten sich nur 33 Prozent die Mühe, ihre Stimme abzugeben. Das System braucht neue Stars, und die Nachtwölfe sind dazu wie gemacht. Bis vor Kurzem sprachen die Politiker noch bevorzugt von „Modernisierung“ und „Innovationen“; jetzt lauten die Schlagwörter dagegen „Religion“, „Traditionalismus“, „Eurasien“ und „Gott“.

Zu den neuen religiösen Nationalisten gehört auch die „Union der orthodoxen Bannerträger“, deren Mitglieder stets schwarz gewandet auftreten, und die zum Beispiel die Verbrennung von „Harry Potter“-Büchern vor dem Kreml inszeniert haben, aus Protest gegen den angeblichen Satanismus der britischen Autorin J. K. Rowling. Zu derselben Gruppe gehört auch Dmitri Enteo, ein bleicher junger Mann mit Ziegenbart, der sich im Fernsehen über seinen Plan verbreiten kann, die Schaufenster von westlichen Kaufhäusern mit Ziegelsteinen einzuwerfen. Doch Leute wie Enteo und die orthodoxen Bannerträger betrachten sogar die Nachtwölfe als behandlungsbedürftige Fälle.

Ein weiterer Star ist Maxim Marzinkewitsch, Anführer der Neonazigruppe „Format 18“, der mit seinem Projekt „Occupy Paedophilia“ Furore gemacht hat. Max und seine Freunde geben sich im Netz als minderjährige Schwule aus, die sich älteren Männern anbieten. Mit denen verabreden sie ein Rendezvous. Vor laufender Kamera bringt Max die Freier dazu, sich als Pädophile zu outen. Danach zwingt er sie, Urin zu trinken oder an einem Dildo zu lutschen. Diese Szenen stellt der Kamera-Heckenschütze auf seine Website. Die Videos sind professionell gefilmt und geschnitten. „Willkommen, meine kleinen Liebhaber des Extremismus“, begrüßt Max die Besucher des Weblinks. Der YouTube-Kanal von Marzinkewitsch ist ein voller Erfolg und erzielt beträchtliche Werbeeinnahmen. Zwar bestreitet Max, dass er auch vom Kreml gesponsert wird, aber dass er Zuspruch von oben bekommt, ist unübersehbar. Zum Beispiel kann er in Talkshows auftreten, zu denen niemand ohne Genehmigung von oben eingeladen wird. Leute wie Marzinkewitsch und die Nachtwölfe sorgen dafür, dass man sich in den offiziellen TV-Programmen über Schwule, Satanisten und Pädophile ereifert.

Dabei repräsentieren diese religiösen Nationalisten keine wirkliche Volksbewegung: Nur 3 Pozent aller Russen sind regelmäßige Kirchgänger, es gibt keine russische ‚Tea Party‘ und keinen Chomeini, der auf seine Stunde wartet. Doch der Kreml hat gelernt, ein Volk von 140 Millionen mittels Verschmelzung von Popkultur und autoritärem Regime bei Laune zu halten und abzulenken und zugleich albtraumhaften Ängsten auszusetzen, die mit der Zeit regelrecht krank machen.

Den bekannten, vom Kreml gesteuerten Pseudoparteien in der Duma droht das Aus. Ihre Zustimmungsrate befindet sich im freien Fall: Bei den Kommunalwahlen in Moskau kamen die Liberalen Demokraten (LDPR) wie die Partei „Gerechtes Russland“ trotz Unterstützung durch die wichtigsten Fernsehsender mit Mühe auf 3 Prozent.4 Mittlerweile geht es für jeden einzelnen Duma-Abgeordneten ums nackte politische Überleben. Deshalb versucht jeder auf eigene Faust, sich mit einer patriotischen Gesetzesinitiative in Szene zu setzen, wobei die flammende Rhetorik meist ins Groteske umschlägt. Witali Milonow zum Beispiel wurde mit seinem „Gesetz gegen Schwulenpropaganda“ zu einer Berühmtheit; und Jelena Misulina profilierte sich mit ihrem Vorschlag, „untraditionellen“ Sex zu verbieten. Das führte zu wochenlangen Debatten über Oralverkehr und über die Frage, ob man den auch verbieten würde.

Dabei geht es gar nicht darum, ob diese Gesetzesnovellen jemals verabschiedet werden; ihr alleiniger Zweck ist, für Gesprächsstoff zu sorgen. Der Abgeordnete Jewgeni Fedorow von der Regierungspartei „Vereinigtes Russland“ behauptet sogar, dass die Duma wie die Regierung im Sold der CIA stehen, aber auch dass Russland den Amerikanern einen Tribut zahlen müsse. Laut Fedorow weiß Präsident Putin über alles Bescheid, kann sich aber aus dieser Zwangslage nicht befreien.

Sieht man sich die Karrieren von Leuten wie Milonow, Misulina und Fedorow genauer an, wird man entdecken, dass sie alle ehemals – und zum Teil bis in die jüngste Zeit – überzeugte Demokraten und Liberale waren, das heißt prowestliche Politiker, die in Russland einen Modernisierungsprozess einleiten und einen „europäischen Kurs“ durchsetzen wollten. Aber vielleicht ist ihre jüngste Verwandlung nur das neueste Kostüm für den politischen Maskenball in Moskau. Gleichwohl treten sie entschieden anders auf als die vertrauten russischen Demagogen vom Schlage des Altnationalisten Wladimir Schirinowski, dessen Hasstiraden stets von einem Augenzwinkern begleitet sind, so als wolle er sagen, dass es sich doch nur um politisches Kabarett handelt. Dafür ein Beispiel: Neuerdings will Schirinowski englische Wörter wie „Manager“ und „Performance“ aus der russischen Sprache verbannen (was auch eine kleine Spitze gegen Putin ist, der sich gern als „effektiver Manager“ bezeichnen lässt). So will er etwa das Wort „Manager“ durch die altrussische Bezeichnung für den Inhaber eines Marktstands ersetzt sehen.

Dagegen reden die neuen Duma-Stars mit tiefstem Ernst und bleierner Monotonie. Einige Abgeordnete sind offenbar vom Kreml schon so umgedreht worden, dass sie mittlerweile in der Tat als durchgedreht gelten müssen. Im Übrigen gibt es ein Gerücht, das in den Cafés rund um den Kreml des Öfteren, aber nur hinter vorgehaltener Hand kursiert: Putin, heißt es, habe selbst schon „den Kontakt zur Realität verloren“. Wenn das zutreffen sollte, müssten gemäß der Moskauer Hofetikette natürlich auch alle Duma-Schranzen wie Geistesgestörte agieren.

Auch die Korruption nimmt neue, geradezu unfassbare Formen an – obwohl Korruption das falsche Wort ist, weil es lediglich an Schmiergelder und dezenten Nepotismus denken lässt. Die neueste ökonomische Masche sind jedoch die „Hyperprojekte“, also gigantische Finanzunternehmungenmit denen große Summen von Staatsgeldern in private Taschen gelenkt werden können. So liegen die Kosten der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi inzwischen bei 50 Milliarden Dollar. Damit sind die Winterspiele, die am 7. Februar beginnen, um 7 Milliarden teurer als die Sommerspiele 2008 in Peking und um 36 Milliarden teurer als die Londoner Sommerspiele von 2012 – und fünfmal teurer als die bislang teuerste Winter-Olympiade. Bereits an die 30 Milliarden Dollar dürften beiseite geschafft worden sein.

Außerdem gibt der Staat jedes Jahr 1,5 Milliarden Dollar für die Entwicklung des Projekts Skolkowo aus. Das umzäunte IT-Utopia, das zum russischen Silicon Valley werden soll, besteht vorerst allerdings nur aus einem „Hyperwürfel“ inmitten kahler Felder. Und dann ist da noch die neue „Hyperbrücke“, die Wladiwostok mit der Russky-Insel verbindet. Da die Insel aber nur 5 000 Einwohner und keine Straßen hat, ist der ökonomische Nutzen gleich null, die Chance, Bestechungsgelder zu kassieren, allerdings beträchtlich.

Als nächstes Hyperprojekt ist ein Tunnel zwischen Russland und Japan geplant. Die Megaprojekte der alten Sowjetunion waren volkswirtschaftlich unsinnig, entsprachen aber wenigstens den planwirtschaftlichen Halluzinationen; die neuen Hyperprojekte sind volkswirtschaftlich ebenso unsinnig, dienen aber nur der Bereicherung von Leuten, für deren Loyalität der Kreml umgehend zahlen muss.

Das Ergebnis dieses ganzen – ökonomischen, kulturellen und ideologischen – Deliriums ist eine merkwürdige Atmosphäre der Entrücktheit: Wörter scheinen nichts zu bedeuten, die Zahlen im Staatshaushalt haben keinen Bezug zur Realität. Man hat das Gefühl, in einem der Weitz’schen Monologe zu leben.

Die russische Protestbewegung hat in den letzten zwei Jahren ein Auf und Ab mit Phasen der Verzweiflung und des Aufatmens durchgemacht.5 Jetzt setzt sie auf eine Art von klarer Sprache, die es sonst nirgends gibt. „Lügt nicht und stehlt nicht!“, lautete die Wahlparole für Alexei Nawalny, der aus der Antikorruptionsbewegung kommt und im September 2012 für das Amt des Bürgermeisters von Moskau kandidiert hat. Übersetzt mutet das Motto selbstgerecht und matronenhaft an, aber auf Russisch („ne wrat i ne worowat“) klingt es wie ein zorniges alttestamentarisches Grollen. Und der Slogan kam an, weil er in fünf Wörtern die Beziehung zwischen intellektueller und finanzieller Korruption ausdrückt – und dem Grundbedürfnis nach einem festen Bezugspunkt in Zeiten der Konfusion.

Warum wurde es Nawalny gestattet, ja sogar nahegelegt, für das Moskauer Bürgermeisteramt zu kandidieren? Der Kreml will offenbar eine neue Version seines politischen Systems testen: Auf die „gelenkte Demokratie“6 folgt ein Konzept, das man „Konkurrenz ohne Wandel“ nennen könnte. Vor dem Urnengang im September ließ das Moskauer Rathaus verlauten, es handle sich um die ersten „ehrlichen Wahlen“ in Russland (womit man indirekt also einräumte, dass die früheren Wahlen gefälscht waren).

Zwar blieb Nawalny von den maßgeblichen öffentlichen Fernsehprogrammen ausgeschlossen, und nach wie vor droht ihm nach seiner Verurteilung wegen „Veruntreuung“ eine fünfjährige Gefängnisstrafe, aber es gab wenigstens keine krasse Wahlfälschung. Für den Kreml war das Ganze eine Win-win-Situation: Dank Nawalnys Kandidatur wurde der wiedergewählte Bürgermeister und Putin-Günstling Sergei Sobjanin zum „legitimsten“ russischen Politiker, was ihn zum potenziellen (und höchst loyalen) Nachfolger seines Schutzpatrons macht.

Für den Kreml war der Wahlausgang optimal: Sobjanin gewann knapp über 50 Prozent der Wählerstimmen, was ihm eine Stichwahl gegen Nawalny ersparte. Letzterer schnitt mit einem Wählerzuspruch von 28 Prozent zwar überraschend gut ab,7 doch der Kreml hat die stärkste Oppositionsfigur jetzt genau da, wo er sie haben wollte: Als der Gegenkandidat nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses vor Tausenden seiner glückseligen Anhänger sprach, hatte er seine revolutionäre Rhetorik, wie auch seine Drohungen gegen Putin, schon merklich gedämpft. Und als er eine „konstruktive Opposition“ versprach, klang das so, als wolle er sich künftig an Putins Spielregeln halten.

Fußnoten: 1 Der Auftritt Putins als Biker bei den Nachtwölfen ist als Video zu finden unter: www.spiegel.de/video/protzig-peinlich-putin-russlands-premier-faehrt-dreirad-harley-video-1146223.html. 2 Method Acting ist eine von Lee Strasberg begründete Methode, bei der die Aufarbeitung von persönlichen Erinnerungen eine Rolle spielt; sie geht auf die Lehren des russischen Theaterreformers Konstantin Stanislawski (1863 -1936) zurück. 3 Über Wladislaw Surkow und seine frühere Rolle siehe Peter Pomerantsev, „Staatstheater in Moskau“, Le Monde diplomatique, Januar 2012. 4 Eine sorgfältige Analyse der Kommunalwahlen und des russischen Parteiensystems liefert Alexander Kynew, „Die Regionalwahlen in Russland vom 8. September 2013“, publiziert von der Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb): www.bpb.de/internationales/europa/russland/169738/analyse-die-regionalwahlen-in-russland-vom-8-september-2013?p=all. 5 Vgl. Mischa Gabowitsch, „Die Rebellion im Zentrum“, in: „Russland. In Putins Reich“, Edition Le Monde diplomatique, Nr. 13, Berlin 2013, S. 8–11. 6 Zum Konzept der „gelenkten Demokratie“, siehe Anmerkung 3, „Staatstheater in Moskau“. 7 Dass die Umfragen vor den Wahlen für Nawalny weniger als 20 Prozent voraussagten, ist dadurch zu erklären, dass die Berechnungen der Meinungsforscher auf den gefälschten Resultaten früherer Wahlen beruhten. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Peter Pomerantsev ist Fernsehproduzent und schreibt unter anderem für The Daily Beast, openDemocracy, National Review und London Review of Books. © London Review of Books, für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.01.2014, von Peter Pomerantsev