11.08.2006

Gastarbeiter im Internet

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Gastarbeiter im Internet

Für die meisten subalternen Online-Dienstleistungen werden nach wie vor Menschen gebraucht – und mit Hungerlöhnen bezahlt. von Pierre Lazuly

Im Jahr 1769 erregte der ungarische Ingenieur Johann Wolfgang von Kempelen in ganz Europa Aufsehen mit dem modernsten Automaten seiner Zeit: einer Schach spielenden Maschine. Der „Schachtürke“, eine lebensgroße Puppe mit Schnurrbart und Turban, saß hinter einem großen Holzkasten. Darin befand sich eine ausgetüftelte Konstruktion aus Zahnrädern, Hub- und Schubstangen, die sich mit einem langen Schlüssel aufziehen ließ und die ihr Erfinder als künstliche Intelligenz vorstellte, die der Intelligenz der meisten Menschen überlegen sei.

In der Tat spielte der „Türke“ gut Schach. Auf seiner Rundreise durch Europa gewann er die meisten Partien und schlug zum Beispiel 1783 Benjamin Franklin in Paris und 1809 Kaiser Napoleon I. in Schloss Schönbrunn bei Wien.

Dass die Sache „getürkt“ war, also die Zeitgenossen einem Betrug aufsaßen, wurde erst später bekannt. Hinter dem Räderwerk des Kastens befand sich ein Hohlraum, in dem ein Schachmeister aus Fleisch und Blut versteckt war. Über eine Reihe von Spiegeln behielt er das Brett im Blick und lenkte die Bewegungen des Automaten. Der „mechanische Türke“ spielte gut, weil der verborgene Spieler gut spielte – von künstlicher Intelligenz also keine Spur.

Erst 200 Jahre später, 1997, unterlag der Schachweltmeister Garri Kasparow in einer Partie gegen einen Computer. „Deep Blue“ war der erste Computer der Welt, der gegen einen Schachweltmeister gewann. Da mochte man bereits glauben, dass für viele geistige Tätigkeiten schon bald keine grauen Zellen mehr erforderlich sein würden.

Dennoch geriet der „mechanische Türke“ nicht in Vergessenheit. Das Internet-Handelsunternehmen Amazon ließ ihn wieder aufleben, und zwar in Gestalt des „Amazon Mechanical Turk“ oder MTurk, den es im November 2005 der Öffentlichkeit vorstellte.1 Dabei geht es freilich nicht mehr ums Schachspielen, sondern um die Einbindung menschlicher Intelligenz in die Lösung von Aufgaben, die ein Computer nicht oder nur schlecht bewältigen kann. „Menschen können viele einfache Aufgaben nach wie vor weit besser erledigen als selbst die rechenstärksten Computer, beispielsweise die Identifizierung von Gegenständen auf Fotografien, eine Fähigkeit, über die Kinder schon verfügen, bevor sie sprechen können“, meint Amazon.

Ursprünglich wollte der Online-Buchhändler die Hirne seiner Klienten nur für den Eigenbedarf nutzen, etwa um das beste Werbefoto auszuwählen, Produktbeschreibungen anzufertigen oder die Interpreten eines Musikstücks zu identifizieren. Solche Aufgaben sind schwer zu automatisieren, werden jedoch offenbar von Millionen Surfern gegen ein geringes Entgelt oder Einkaufsgutscheine gern erledigt.

Amazon begriff schnell, dass es für den MTurk ein kolossales Betätigungsfeld gibt, und baute mturk.com zu einem eigenen Dienstleistungsangebot aus. Nun kann weltweit jeder dem neuen „Türken“ eine geistige Aufgabe anvertrauen und die Entlohnung nach eigenem Ermessen festlegen, und jede Person „über 18 Jahre mit einem Computer mit Internetanschluss“ kann sich um die Erledigung dieser Aufgabe bewerben. Amazon kassiert dabei jeweils eine Kommission von 10 Prozent.

Als der neue Dienst online ging, hofften tausende von Surfern, auf einfache Weise Geld verdienen zu können. Die Ernüchterung folgte rasch: Die Entlohnung für eine „menschliche Intelligenz erfordernde Aufgabe“ bewegt sich in der Größenordnung von wenigen Cent. Amazon selbst bietet meistens nur 1 Cent für die Beantwortung von Fragen wie „Welches sind die drei besten Alben von Metallica?“ oder „Wie heißen die drei besten irischen Pubs in Seattle?“. Bis zu 2 Cent darf erwarten, wer weiß, wo man in New York am besten einen Ölwechsel machen lassen kann – egal ob er die Stadt selbst kennt oder eine passable Antwort mit Hilfe einer Suchmaschine findet.

Tippen zu einem Drittel des marktüblichen Preises

Ähnliche Anwendungen bringen nicht viel mehr ein. Das Start-up-Unternehmen Casting Words zum Beispiel bietet über Amazon „automatisches Abtippen durch menschliche Schreibkräfte“ zu einem Drittel der marktüblichen Preise an.2 Trotz der undankbaren Aufgabe und der lächerlichen Entlohnung finden sich genügend fleißige Hände, die – „meist innerhalb von 24 Stunden“ – die getippten Texte abliefern.

Erstaunlicher noch ist, dass man für bestimmte Aufgaben überhaupt kein Entgelt zu bieten braucht. Das gilt etwa für „Google Answers“ – ein System, bei dem Surfer kostenlos die Fragen anderer Surfer beantworten. Auch die Entwickler freier Software und die Redakteure der Online-Enzyklopädie Wikipedia arbeiten im Grunde kostenlos.

Wer sind diese im Verborgenen Werkelnden? Laut Amazon Personen, die „in ihrer Freizeit Geld verdienen“ möchten und über MTurk Tätigkeiten finden, die sie überall und zu jeder Zeit erledigen können. Aber offenbar auch in einem rechtsfreien Raum, in dem Arbeit nicht wirklich Arbeit ist (die „Belohnungen“ sind kein wirkliches „Entgelt“). Und es gibt auch keine Arbeitsverträge zwischen den „Anbietern“, die die Aufgaben ins Netz stellen, und den „Lieferanten“, die für die Erledigung dieser Aufgaben nur bei Zufriedenheit des Anbieters bezahlt werden.

Dabei ist Amazon durchaus klar, dass der originelle Begriff „künstliche künstliche Intelligenz“3 nichts weiter als menschliche Arbeit meint. Denn das Unternehmen weist die „Lieferanten“ darauf hin, dass sie die arbeitsrechtlichen Vorschriften ihres Landes einzuhalten haben, insbesondere die für Freiberufler geltenden Meldepflichten und die Höchstarbeitsdauer. Durch die Inanspruchnahme des Dienstes komme weder mit den Anbietern noch mit Amazon selbst ein Beschäftigungsverhältnis zustande. Ebenso wenig könnten die „Lieferanten“ Leistungen beanspruchen, die die Anbieter oder Amazon den eigenen Beschäftigten gewähren – wie bezahlten Urlaub, Krankenversicherung oder Rentenansprüche.

IT-Chronist David L. Margulius hat den neuen „Stücklohn“ ausprobiert und herausgefunden, dass er damit höchstens 3,60 Dollar (2,85 Euro) pro Stunde verdient. Der gesetzliche Mindestlohn in den USA liegt seit neun Jahren bei 5,15 Dollar. Margulius sieht hier eine neue Form des Outsourcings, die sich nicht als solche zu erkennen gibt. „Sieht man einmal davon ab, dass es sich um eine Unterschreitung des garantierten Mindestlohns handelt, fasziniert mich daran, dass Amazon hier einen Weg gefunden hat, die Tendenz zur Auslagerung (Offshoring) ins Extrem zu treiben, was ich als ‚Webshoring‘ bezeichnen würde. Wo der Arbeiter sitzt, interessiert überhaupt nicht mehr, er soll nur seine Arbeit gut machen und keine zusätzlichen Managementkosten verursachen.“4

Ein Paradebeispiel hierfür sind die neueren Entwicklungen bei Online-Spielen. Im bekanntesten dieser Spiele, „World of Warcraft“, bewegt sich der Spieler in einer virtuellen Online-Welt, in der er mit anderen Spielern in Interaktion (Dialoge, Handel, Kämpfe) tritt. Am Anfang muss er noch Waffen, Geld und Punkte sammeln, um auf die höheren Spielebenen zu gelangen, wo das Spiel erst richtig interessant wird.

Aber er muss nicht unbedingt warten. Auf elektronischen Märkten, die dem MTurk ähneln, kann ein reicherer Spieler einen anderen kaufen, der schon weiter aufgestiegen ist. Zum Beispiel einen Chinesen, der mit dieser Tätigkeit weit mehr Geld verdienen kann als mit einem normalen Job. Schätzungsweise 100 000 Chinesen arbeiten derzeit täglich an der Absolvierung von Ebenen, die andere nicht gern spielen.5 Der Käufer aber erfährt nie, wer in dem Spielkasten steckte.

In manchen Fällen muss man die Kompetenzen der im Verborgenen bleibenden Arbeitskräfte aber doch kennen. Erwartet der Auftraggeber das Genie eines Bobby Fischer, würde ein mittelmäßiger Schachspieler den Automaten nur in Verruf bringen. Je qualifizierter die Arbeit, desto strenger daher die Anforderungen an den Arbeitslieferanten. Er hat Qualifikationstests zu absolvieren und seinen beruflichen Werdegang nachzuweisen, während dem „Anbieter“ stets die Möglichkeit bleibt, die abgelieferte Arbeit zu verwerfen, was der „Reputation“ des „Lieferanten“ natürlich schadet.

In diesem Bereich ist Amazons MTurk allerdings im Hintertreffen. Für Umfragen mag der Dienst ja geeignet sein, aber für qualifiziertere Arbeiten suchen die Arbeitgeber doch speziellere Marktplätze. Zum Beispiel die Firma Rentacoder.com, auf deren Website es heißt: „Sie können online den Lebenslauf und die Bewertung jedes Bieters einsehen, und wenn Sie sich entschieden haben, können Sie die Dienste des Entwicklers Ihrer Wahl mit nur wenigen Klicks mieten.“ Um die Aufträge bewerben sich vor allem russische, indische und pakistanische Programmierer.

Einen breiteren Bereich deckt elance.com ab, das die Dienste von Grafikern, Redakteuren, Webdesignern, Übersetzern und Juristen anbietet. Das Online-Unternehmen spricht von über 100 000 Nutzern und einem Gesamtauftragsvolumen von 90 Millionen Dollar. „Da die von uns vermittelten Experten um Ihren Auftrag konkurrieren, zahlen Sie nur den bestmöglichen Preis“, heißt es auf der Seite, im Vergleich zu anderen örtlichen Anbietern könne man über 60 Prozent einsparen. Webshoring auch hier: Wo der Netzarbeiter lebt und arbeitet, interessiert ebenso wenig wie die Frage, wie hoch der „bestmögliche Preis“ für ihn liegt. Der konservative britische Philosoph Edmund Burke schrieb 1795: „Wird eine Ware zu Markt getragen, ist es nicht die Bedürftigkeit des Verkäufers, sondern die Bedürftigkeit des Käufers, die den Preis in die Höhe treibt. […] Ob derjenige, der seine Arbeit zu Markte trägt, ein Auskommen findet, ist eine unter diesem Gesichtspunkt völlig unerhebliche Frage.“6

Bei Übersetzungen hat das Programm Trados ganz neue Standards eingeführt. Es schöpft aus einer Datenbank vorgefertigter Satzschnipsel und Formulierungen und verspricht „kohärente Übersetzungen in kürzerer Zeit“. Vor allem aber schafft es die Voraussetzung dafür, dass man Übersetzer nur für die Wörter bezahlen muss, die nicht aus der Datenbank stammen. Auf dem Marktplatz TranslationZone sind denn auch nur Übersetzer zugelassen, die das 700 Euro teure Trados-Programm verwenden und eine hauseigene Prüfung absolviert haben, die zwischen 50 und 300 Euro kostet.

Auch MTurk ist in diesem Bereich aktiv geworden und veranstaltet Qualifizierungssitzungen für angehende Übersetzer. So annonciert Amazon bereits, dass man Kompetenztests für Übersetzungen aus dem Englischen ins Spanische, Französische, Deutsche und Hebräische anbietet, und ermuntert seine MTürken, die diese Sprachen beherrschen, den Test zu absolvieren; dann werde man sie mit „bedeutenderen Arbeiten“ betrauen.

„Wir arbeiten an der Schaffung eines elektronischen Markts für Arbeit und Arbeitskräfte“, erklärt Jeff Barr, der die Amazon-Webdienste propagiert. „Heute kann man in unserer Branche in großem Maßstab menschliche Intelligenz einbinden.“ Schließlich ist der Mensch nur ein Prozessor unter anderen und entgegen einer weitverbreiteten Ansicht vielleicht sogar der billigste.

Fußnoten: 1 www.mturk.com. 2 „Software out there“, The New York Times, 5. April 2006. 3 Siehe The Economist, 10. Juni 2006. 4 „Ogre to Slay? Outsource It to Chinese“, The New York Times, 9. Dezember 2005. 5 David L. Margulius, „Amazon Mechanical Turk kicks off ‚Webshoring‘ “, Infoworld, San Francisco, 18. November 2005. 6 Edmund Burke, „Thoughts and Details on Scarcity“ (1795), http://oll.libertyfund.org/Texts/LF Books/Burke0061/SelectWorks/HTMLs/0005-04_Pt03_Scarcity.html. Aus dem Französischen von Bodo Schulze Pierre Lazuly schreibt im Internet in den „Chroniques du Menteur“ (www.menteur.com) und ist Moderator des Internetportals www.rezo.net.

Le Monde diplomatique vom 11.08.2006, von Pierre Lazuly