11.08.2006

Zu Besuch im Labor der Utopien

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Zu Besuch im Labor der Utopien

Wie könnte die ideale Gesellschaft aussehen, wenn es den Kapitalismus nicht gäbe? Am Cape Cod diskutierten darüber libertäre Denker und Anarchisten, Marxisten und Fabrikbesetzer aus Buenos Aires. Es gab lebhafte Kontroversen, doch die Frage blieb offen. von Serge Halimi

Im August 2005 fanden rund 60 politische Aktivisten, Schriftsteller, Journalisten und Gewerkschafter unter ihren E-Mails eine Einladung, die fast unwiderstehlich wirken musste. Michael Albert, ein Mitarbeiter Noam Chomskys und Moderator von Znet.net1 , lud zu einem fünftägigen Workshop im Juni 2006. Das Thema war recht allgemein formuliert: Gespräche über mögliche Formen einer Gesellschaft der Zukunft.

Das Ganze sollte in Woods Hole am Cape Cod stattfinden, rund hundert Kilometer östlich von Boston an der Ostküste der USA – im Frühsommer ein höchst angenehmer Ort, der außer seiner Strandnähe noch viele andere Annehmlichkeiten bietet. Das Treffen sollte vor allem den Znet-Autoren, die sich an den Aktivitäten des Netzes nicht regelmäßig beteiligen, Gelegenheit zu einem Kennenlernen geben und zum gemeinsamen Nachdenken mit anderen Teilnehmern wie Noam Chomsky, Barbara Ehrenreich und Arundhati Roy.

Ein Anreiz war auch die Vorstellung des Projekts in der Ankündigung von Michael Albert: Jede Sitzung sollte mit einem Vortrag über Zukunftsvisionen, Strategie und Programmatik beginnen „und nicht über die derzeitigen Missstände, die herrschende Unterdrückung usw.“, im Anschluss daran sollte ein anderer Teilnehmer diesen Text kommentieren und damit die gemeinsame Diskussionsrunde eröffnen. Wer unter den Eingeladenen zu den Veteranen der Weltsozialforen gehörte, mit ihren ewig gleichen Diskursen von Porto Alegre bis Athen und wieder zurück, durfte bei dieser Themenstellung hoffen, nicht wieder die endlose Litanei von Racheschwüren gegen den „Ultraliberalismus“ und seine eifrigen Propagandisten anhören zu müssen.

Dieses Versprechen ging in Erfüllung (ein anderes hingegen nicht, denn am Ende kamen weder Chomsky noch Ehrenreich noch Roy – je öfter Berühmtheiten angekündigt werden, desto öfter sagen sie bekanntlich ab). Zwar wurden die Erwartungen in puncto „Programm“ und „Strategie“ eher enttäuscht, aber über einen Mangel an Fantasie und Antizipationskraft konnte sich niemand beschweren. Das fast durchweg schlechte Wetter, die kollektive Verköstigung in einer Betriebskantine und das vollgepackte Programm halfen den Teilnehmern, ihre Aufmerksamkeit auf eine Frage zu konzentrieren, die zumal in den USA nicht gerade das aktuellste und brennendste Thema ist: Wie könnte die ideale Gesellschaft aussehen, wenn es den Kapitalismus nicht gäbe? („Stellen Sie sich vor“ ist überhaupt Michael Alberts rhetorische Lieblingsfigur: In seinem jüngsten Buch „Realizing Hope“ kommt sie 40-mal vor).

Dass Michael Albert durchaus seine Vorstellungen hat, wie die Antwort auf diese Frage lautet, ist eine veritable Untertreibung. Albert steht in der libertären Tradition im weiteren Sinn.2 Genauer noch als Chomsky hat er jedoch ein alternatives Gesellschaftsmodell ausgearbeitet, das sowohl mit dem Kapitalismus (die Idee der Regulierung durch den Markt hält er für völlig abwegig) als auch mit dem Sozialismus bricht, weil dieser unweigerlich eine autoritäre Avantgarde und eine Klasse von „Koordinatoren“ hervorbringe.

Durch die fünf Tage zog sich wie ein roter Faden die Idee der „partizipativen Ökonomie“ oder Parecon (vom Englischen „participatory economy“ abgeleitet), einer Gesellschaftskonzeption, die Michael Albert seit fünfzehn Jahren gemeinsam mit Robin Hahnel entwickelt. Alberts Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt, doch ihre Wirkung ist bislang bescheiden. Deshalb ist eine knappe Einführung in sein Programm – seine „Utopie“ – hier durchaus angebracht.3

Obwohl sie sich „egalitär“, „solidarisch“ und „selbstverwaltet“ nennt, fordert die partizipative Ökonomie keineswegs absolute Lohngleichheit, geschweige denn die Verwirklichung des als realitätsfern geltenden Prinzips „Jedem nach seinen Bedürfnissen“. Entlohnungskriterium ist vielmehr, wie viele „Mühen und Opfer“ zur „Produktion gesellschaftlich nützlicher Güter“ nötig sind. Wer härter und unter erschwerten Bedingungen arbeitet, soll auch mehr bekommen. Wer durch glückliche Umstände oder Geburt bessere Maschinen und Technologien nutzen kann oder über künstlerische, körperliche oder intellektuelle Fähigkeiten verfügt, soll nicht mehr verdienen als andere. Wie ungerecht situativ bedingte Renten sind, weiß Michael Albert aus eigener Erfahrung: Das große Haus, das den „Partizipalisten“ als Hauptsitz dient, hat in den letzten vierzehn Jahren seinen Wert verneunfacht. Das beweise, meinte Albert ironisch, dass im Kapitalismus ein totes Objekt unter Umständen mehr einbringt als das Arbeitsleben seiner beiden Eigentümer.

Die partizipative Ökonomie lehnt eine gesellschaftliche Organisationsform entschieden ab, die bestimmten Leuten nur ausführende Tätigkeiten wie Putzen zuweist, während anderen die kreativen Aktivitäten und Leitungsfunktionen vorbehalten bleiben. Sie bekämpft das aus der fordistischen Spezialisierung hervorgegangene Industriemodell, das die Produktivität in den kapitalistischen wie in den sozialistischen Ländern (Stachanow-Prinzip) zwar enorm gesteigert hat, aber doch nur um den Preis einer Arbeitsorganisation, die ohne entfremdende und langweilige Tätigkeiten wie etwa Fließbandarbeit nicht auskommt. Überdies hat sich in diesem Modell eine dritte „Klasse“ herausgebildet – von Albert „Koordinatoren“ genannt –, die der marxistischen Gesellschaftsauffassung widerspreche, die den Hauptwiderspruch im Gegensatz zwischen Kapitalbesitzern und den Verkäufern von Arbeitskraft sieht.

Um zu verhindern, dass diese Experten, Führungskräfte und Technokraten nach der Revolution zurückkehren – samt ihrer gesellschaftlichen Überheblichkeit, ihrem angeblich durch Kompetenz legitimierten autoritären Gehabe –, wollen die „Partizipalisten“ sämtliche Aufgaben in allen Berufen so umdefinieren, dass ausführende und konzeptionelle Aspekte stets ineinandergreifen. Nur so ließen sich die Vorteile und Zwänge gesellschaftlicher Arbeit auf akzeptable Weise auf alle Schultern verteilen.

Soll das nun heißen, das der Chef von General Electric ab und an den Aufzug säubert oder den Postverteiler spielt, während die Putzfrau die Bücher prüft? Nein, denn weder bei General Electric noch anderswo gäbe es künftig „Chef“ und „Putzfrau“, sondern nur gleichgestellte Akteure mit „ausgewogenen Aufgabenkomplexen“, die gesprächsweise definiert und ausgehandelt werden.

Für ein riesiges Land mit einer so diversifizierten Ökonomie wie die Vereinigten Staaten ist ein solches Projekt natürlich eine nachgerade prometheische Utopie. Doch im privaten Bereich, bei der Teilung der Hausarbeit, wird es bereits im bescheidenen Maßstab umgesetzt. Doch für die Partizipalisten ist dies keine putzige oder zufällige Nebensache, denn man postuliert: „Der Fortschritt in einem Bereich muss Hand in Hand gehen mit Fortschritten in anderen Bereichen.“ Im Übrigen gebe es eine Art funktionierenden Partizipalismus schon heute in einigen genossenschaftlich organisierten Unternehmen.

Im Verlag South End Press, den Michael Albert mit einigen Mitstreitern in der Aufbruchstimmung der 1960er-Jahre gegründet hat, wurden einigen der obengenannten Prinzipien umgesetzt. Die Trennung zwischen ausführenden und leitenden Funktionen ist so verpönt, dass die Genossenschaft irgendwann eines (von vier) Mitgliedern ausgeschlossen hat, das aus Furcht vor Fehlentscheidungen nicht die Programmgestaltung übernehmen wollte. Der Betreffende wollte dem gemeinsamen Ziel lieber auf seinem „subalternen“ Posten dienen. Ausgeschlossen, wurde ihm entgegnet. Das Gesetz des Partizipalismus ist hart – und Gesetz bleibt Gesetz.

In der Praxis dürfte eher der umgekehrte Fall eintreten: dass sich etwa ein Verleger oder Autor weigert, einige Stunden am Tag seine kreative Kopfarbeit einzustellen, um häusliche Arbeiten zu erledigen, die Straße auszubessern oder in eine Kohlengrube einzufahren. Susan George machte dagegen zunächst einen anthropologisch begründeten Einwand: Hat es in der Geschichte der Menschheit jemals eine klassenlose Gesellschaft gegeben, zumal wenn die Klassendefinition sich nicht nur auf das Eigentum an Produktionsmitteln bezieht, sondern zusätzlich auf die Existenz von „Koordinatoren“? Von der (wenig überzeugenden) Antwort wenig überzeugt, erwiderte sie apodiktisch: „Wer für das, was er macht, hochqualifiziert ist, muss auch die Möglichkeit haben, es ausschließlich zu tun.“ Damit wandte sie sich frontal gegen die Albert’sche Utopie, der die meisten Diskutanten anhingen.

Aber selbst wenn man das Kernprinzip der partizipativen Ökonomie nicht in Frage stellt, ergeben sich zahllose weitere Fragen. Wer legt fest, wie die Mühen und Opfer entlohnt werden sollen? Und wer gruppiert die Arbeit zu „ausgewogenen Aufgabenkomplexen“? Wer bestimmt Höhe und Art des Angebots (Produktion)? Und wie will man die Nachfrage (der Verbraucher) vorhersagen? Die Antwort lautet: Statt des Markts (der Ungleichheit und Vergeudung produziert) beziehungsweise statt der Zentralkoordinatoren (die als autoritär gelten) soll die „partizipative Planung“ entscheiden. Nun gut, aber was – und wer – soll das sein?

Die Antwort lautet: dezentralisierte „nested councils“, bestehend aus sozialen Akteuren, deren Mitspracherecht sich aus ihrer persönlichen Betroffenheit herleitet. Das sind „Leute mit Zugang zu qualitativ hochwertigen Informationen, die gebildet und fachlich kompetent sind und motiviert, ihre Präferenzen zu entwickeln, zu vermitteln und zum Ausdruck zu bringen“.

Das ist ein stattliches Programm, das ein gewisses Bildungsniveau, politisches Bewusstsein, Motivation und ausreichende Informationen voraussetzt. Eine so anspruchsvolle gesamtgesellschaftliche Vision musste einige – auch abschätzige – Zweifel auslösen und Nachfragen provozieren.

A nous la liberté – Anarchie auf Argentinisch

Dann ging es weiter nach Lateinamerika, und hier zuerst nach Argentinien. Hier entstand unter der Parole „Sollen sie doch alle gehen!“ (Que se vayan todos!) eine Bewegung, die 180 von ihren Eigentümern aufgegebene Fabriken in Eigenregie übernommen, Genossenschaften gegründet, Naturaltausch und lokale Wirtschaftskreisläufe organisiert und eine Selbstverwaltung in den Stadtteilen aufgebaut hat.4 Diese Bewegung war von der Art, die das Herz eines Anarchisten höherschlagen lässt. Sie blieb stets misstrauisch gegen die Institutionen (Gewerkschaften eingeschlossen), lehnte das Delegieren von Entscheidungen ab, hütete sich vor der Vereinnahmung durch Apparate und beseitigte das Privateigentum an Produktionsmitteln. Eine Teilnehmerin vermerkte ironisch, sie fühle sich an die Utopie erinnert, die in René Clairs Film „À nous la liberté!“ von 1931 vorgeführt wird, „wo die Fabrik am Ende von allein funktioniert, während die Arbeiter angeln gehen, Siesta halten, picknicken, sich amüsieren“.

Diese argentinische Bewegung hat sich zu einem „internationalen Solidaritätsnetzwerk“ entwickelt, zu dem inzwischen 300 in Eigenregie übernommene Unternehmen in Argentinien, Venezuela, Brasilien und Uruguay gehören. Im November 2005 fand in Caracas eine Konferenz mit Delegierten der einzelnen Projekte und Vertretern von europäischen Unternehmen statt. Ein weiteres Beispiel konkreter Solidarität: Eine selbstverwaltete argentinische Tageszeitung schaltet kostenlos Anzeigen venezolanischer Reiseveranstalter; dafür können die Mitarbeiter der Zeitung ihren Urlaub kostenlos an der karibischen Küste verbringen. Ein solcher „Naturalien“-Tausch ist auch deshalb vonnöten, weil die meisten Arbeiterkooperativen mangels Infrastruktur und Technologie den Schock des kapitalistischen Markts nicht überstehen würden. Außerdem zögern manche Zulieferer und Abnehmer, mit Unternehmen zusammenzuarbeiten, deren rechtlicher Status ungeklärt ist.

Dies ist nur eines von vielen Problemen. Ein weiteres läuft unter dem Stichwort „Familie“: Als neue Beschäftigte werden oft Familienmitglieder eingestellt, wie Marie Trigona erzählt: „Seit der Übernahme des Hotels ‚Bauen‘ durch die Beschäftigten hat die Genossenschaft 85 neue Mitarbeiter eingestellt, und zwar fast ausnahmslos Söhne, Töchter, Väter, Brüder und Schwestern der ursprünglichen Belegschaft.“ Die neue Utopie ächzt also noch unter den nepotistischen Gebräuchen.

Ein zweites Stichwort ist der Staat: Die politische Führung Argentiniens hat die Übernahme verlassener Fabriken durch die Belegschaft nicht gerade gefördert. Bei den meisten Genossenschaften verzichtete sie aber auch darauf, die Ordnungskräfte einzuschalten. Die Bewegung befindet sich also in einer rechtlichen Grauzone, breitet sich aber nicht so recht aus. Michael Albert war vor Ort und gestand seine Enttäuschung: Die Beschäftigten bemühten sich kaum, ihre Errungenschaften in andere Fabriken und Werkstätten zu tragen. Obwohl sie auf ihre neue Arbeitsorganisation stolz seien, „erkennen sie nicht, dass ihr Tun von weit größerer Tragweite ist als das, was sie unmittelbar tun“.

Zeigt sich darin ein Mangel an revolutionärem Bewusstsein und visionärer Kraft? Susan George interpretierte es anders. Sie erinnerte – vielleicht aus Überdruss an dem Hickhack innerhalb ihrer eigenen Organisation (Attac) – an einen Einwand von Oscar Wilde (1854–1900) gegen den Sozialismus seiner Epoche: „Das braucht zu viele Versammlungen.“ Und sie meinte unter zustimmendem Gemurmel: „Die Leute werden schnell müde, sie haben keine Lust, ihre freie Zeit mit endlosen Versammlungen und Missionsarbeit zu verbringen.“

Indirekt zielte diese Bemerkung auf den Partizipalismus insgesamt, auf seine wie russische Puppen ineinander verschachtelten Stadtteil- und Fabrikräte mit ihren 25 bis 50 Mitgliedern, die ausgiebig diskutieren, bis alle Beteiligten so gründlich informiert sind, dass sie Entscheidungen fällen können. Oder bis sie in der Lage sind, eine Person aus den eigenen Reihen als jederzeit rückrufbaren Delegierten für eine übergeordnete Versammlung zu bestimmen, die über Fragen zu befinden hat, die jenseits der Befugnisse der Basisgruppe liegen (zum Beispiel könnte eine kleine Gemeinde beim Auftreten der Vogelgrippe kaum eigenmächtig entscheiden, kranke Vögel frei herumfliegen zu lassen). Und jede Entscheidung müsste ja bis in die, sagen wir, sechste Ebene abgesegnet werden, wo das Parlament für die gesamte Weltbevölkerung angesiedelt ist. Das ist fürwahr ein kompliziertes Modell mit verschachtelten, aber noch nicht klar gegeneinander abgegrenzten Ebenen, aber bis es so weit ist, bleibt ja noch etwas Zeit.

Im Fall Argentinien fanden die Praktiken der Genossenschaften auch deshalb keine weitere Verbreitung, weil die Arbeiter sehr genau wussten, dass Repressalien drohen, womit man womöglich alles verlieren würde. Also hat man den Staat besser auf seiner Seite. Dieser blieb deshalb bei dem ganzen genossenschaftlichen Experiment eine zentrale Größe, auch wenn er nicht in Erscheinung trat. Und was die Arbeitgeber betrifft, war Argentinien wirklich ein Sonderfall: Die Beschäftigten mussten sich mit ihnen gar nicht anlegen, weil der Gegner einfach von der Bühne verschwand. So leicht werden Gegner wie Ford, Total oder Mittal nicht aufgeben. Die gewinnen schließlich ganze Kriege, ohne einen einzigen Schuss abzugeben!

Da es in den USA überdies weit mehr Genossenschaften gibt als in Argentinien, war den Seminarteilnehmern klar, dass diese Organisationsform nur begrenzten Einfluss auf die herrschende Produktionsweise hat. Diese kann sich vielmehr problemlos mit den Genossenschaften arrangieren, wie sie sich ja auch mit alternativen Medien, kulturellen Grenzüberschreitungen, einer Frau als Außenminister und schwarzen TV-Moderatoren zu arrangieren weiß.

Weil aus Chaos eben keine spontane Ordnung hervorgeht

„Das ist ja interessant, aber vollkommen nebensächlich“, hörte man es flüstern, als ein weiterer Vortrag von einer weiteren antiautoritären Erfahrung berichtete. Der Argentinier Ezequiel Adamovsky, der an der Volkserhebung in Buenos Aires im Dezember 2001 beteiligt war, zog daraus folgende Lehre: „Bewegungen, die jeden Kontakt mit der nationalen Politik ablehnen, sind nicht in der Lage, die Mehrheitsgesellschaft zu erreichen. Denn was wir dann vorschlagen, wird nicht als besser und realisierbar wahrgenommen. Die Regeln und Institutionen, die die Unterdrückung organisieren, organisieren auch das gesellschaftliche Leben.“

Es sei durchaus wichtig, auf die Frage „Was wollt ihr?“ nicht mit Hinweisen auf die bestehende Armut und den Rassismus zu antworten, sondern mit der Überzeugung, dass ein Sieg über das System möglich sei. Aber ebenso wichtig sei es, dass wir uns von dem Glauben verabschieden, aus dem Chaos werde schon irgendwie eine spontane Ordnung hervorgehen. Deshalb müsse man präziser benennen, wie und durch wen die Vorschläge für eine Neuordnung der Gesellschaft umgesetzt werden sollen. Gewiss, die politischen Parteien werden versuchen, die sozialen Bewegungen zu kolonisieren, um ihnen ihre hierarchischen und autoritären Werte aufzudrücken. Aber darüber sollte man doch nicht vergessen, dass auf der anderen Seite allzu oft nur „die Tyrannei fehlender Strukturen“ drohe.

Die Botschaft hätte in dieser Versammlung eigentlich als schwere Ketzerei verstanden werden müssen, doch es ging kaum ein Murren durch den Saal. Das lag wohl auch daran, dass sich die Rhetorik der Teillösungen, der vernetzten Gemeinschaften und der Parole „Die Welt verändern, ohne die Macht zu ergreifen“ nach zehn Jahren allmählich abgenutzt hat. Zu viel Gerede, zu viel „antiautoritärer Narzissmus“ (wie es ein anwesender Anarchist ausdrückte), zu viele endlose Vermittlungsbemühungen und zu wenige Auswirkungen auf einen Kapitalismus, der die Kunst der Vereinnahmung dessen, was ihn nicht frontal bedroht, meisterlich beherrscht.

Solcher Überdruss – oder auch Weitblick – ist bei manchen europäischen Umweltschützern bereits deutlich zu spüren. Vincent Cheynet von der französischen Bewegung für Wachstumsrücknahme hat in diesem Punkt einigen seiner Freunde die Leviten gelesen: „Das passt euch womöglich nicht ins Konzept, aber die Botschaft vom selbstgewählt einfachen Leben kann leicht zur Begleitmusik des Ultraliberalismus verkommen oder ihn sogar legitimieren. Dessen Apostel werden darin einen zusätzlichen Beweis dafür sehen, dass der Liberalismus allen die Freiheit lässt, so zu leben, wie sie es wollen. Denken wir doch an die Amish People in den USA: 250 000 Menschen, die ohne Autos, ohne Fernseher und ohne Handys leben. Aber die Existenz dieser protestantischen Gemeinschaft hat die Expansion des amerikanischen Konsummodells offenbar nicht im Geringsten gebremst.“ Der „libertäre Geist“ diene nur mehr als Maske, hinter der sich – ganz im Gegensatz zu seinem historischen Gehalt – übersteigerter Individualismus und die Unfähigkeit verberge, die Gesellschaft als Ganzes zu denken: „Der Ultraliberalismus hat regelrecht Kindersoldaten hervorgebracht, nicht nur in den multinationalen Konzernen, sondern sogar im Zentrum des Protests.“5

Ähnlich ungehaltene Stimmen sind aus der libertären Bewegung zu vernehmen. Was Jean-Pierre Garnier den „Altermondialisten“ und ihren Sozialforen ins Stammbuch schrieb, trifft genau so gut auf gewisse Anarchisten zu: „Keine hierarchisch-zentralistische Organisation mehr, sondern eine vernetzte ‚Bewegung von Bewegungen‘; nicht Etablierung zur politischen Kraft innerhalb eines vorgegebenen nationalen Rahmens, sondern ein grundsätzlich transnationaler Aktivismus; keine kompakte und disziplinierte Arbeiterklasse, sondern ‚Bürger‘ mit starkem kulturellem Kapital, die autonome Individuen sein wollen, keine ‚Politfestivals‘ mehr und keine ‚bombastische Zukunftsmusik‘, sondern ‚konkrete Alternativen‘ und ‚realistische Utopien‘.“ Garnier erklärt ganz offen, die „moderne Gestalt“ der libertären Bewegung müsse eine Art Neoreformismus sein, der für eine demokratische, faire, solidarische und umweltbewusste Globalisierung offen ist.6

Die meisten Teilnehmer der Konferenz von Woods Hole waren keine Reformisten und schon gar nicht Adepten dessen, was – in sich widersprüchlich – „demokratische“ Globalisierung genannt wird. Doch einige von Jean-Pierre Garniers Anmerkungen trafen – jedenfalls teilweise – auch auf sie zu. Denn auch sie stellten das Problem bisweilen so, als wäre es bereits gelöst, als könnten einige Vorboten der „libertären“ Utopie – eine Genossenschaft in Boston, eine Indigenen-Bewegung in Chiapas, eine Hausbesetzung in Amsterdam – und deren „Vernetzung“ via Internet und Weltforen eine politische Strategie ersetzen.

Die auf Michael Alberts Einladung gekommenen Seminaristen waren sich durchaus im Klaren über die Schwierigkeiten der sehr unmittelbaren und sehr konkreten Kämpfe, an denen sie sich beteiligen, als britische Gewerkschafter und als amerikanische Pazifisten, als europäische Altermondialisten und Open-Source-Entwickler, als Aktivisten für Solidarität mit Venezuela und als Kämpfer für die Rechte der Frauen in Afghanistan. Sie waren weder naiv noch unempfänglich für Kritik. Sie wussten, dass auch „nach dem Kapitalismus“, in einer klassenlosen Gesellschaft, viele Fragen vorderhand ungelöst bleiben würden: die Rechte der Kinder, die Drogengesetzgebung, Pornografie, Prostitution, Religionsfreiheit, insofern sie mit der Geschlechterfreiheit kollidiert, die Verteilung kostspieliger medizinischer Ressourcen, etwa bei Herztransplantationen, der Umgang mit Tieren, Klonen, Euthanasie und vieles mehr.7

Genau hier liege aber die Stärke der Anarchie, meint der Québecer Schriftsteller Normand Baillargeon: „Anarchie ist gleichbedeutend mit der Möglichkeit, eine hochkomplexe Gesellschaft mit einem Minimum an Autorität zu organisieren.“ Und sein serbischer Genosse Andrej Grubacic ist überzeugt: „Die Ära der Revolutionen ist nicht vorbei. Und die revolutionäre Bewegung des 21. Jahrhunderts wird nicht sozialistisch, sondern anarchistisch sein.“ Grubacic lässt sich vom Gedanken einer „partizipativen Ökonomie“ inspirieren, die er als „Inbegriff einer anarchistischen Wirtschaftsvision“ sieht, aber ebenso von den „autonomen Gemeinden in Chiapas“ und der „Konsenssuche bei den amerikanischen Quäkern“. Und von feministischen Science-Fiction-Autoren wie Starhawk und Ursula K. LeGuin, deren Bücher in Ländern wie den USA die beste Werbung für den Anarchismus seien.

Im Grunde gibt es genauso viele Definitionen von Anarchie wie Anarchisten. Manche berufen sich auf vormarxistische Sozialisten wie Charles Fourier oder Robert Owen, die nie vergaßen, dass das Feuer unter den Kochtöpfen der Zukunft die Träume sind. 1949 forderte Friedrich Hayek, der Vater der neoliberalen Lehre, seine marktliberalen Anhänger auf, den Mut zur Utopie aufzubringen, den die Sozialisten zeigen. Was Hayek damals forderte, war eine liberale Utopie, die sich nicht auf das heute Machbare beschränkt. Mit einem anderen Adjektiv könnten wir diesen Satz heute glatt adoptieren.

Fußnoten: 1 An der Initiative (www.zmag.org) beteiligen sich die Zeitschrift Z Magazine, das Z Media Institute, das Kurse über die Produktion alternativer Medien veranstaltet, die Videoproduktionsgesellschaft Z Video und die Onlinezeitung Znet, die jeden Tag ein aktuelles Thema abhandelt und deren 150 000 Abonnenten je nach Einkommen zwischen 30 und 120 Dollar im Jahr zahlen. 2 Einer der Teilnehmer, der Serbe Andrej Grubavic, fasste die Prinzipien des Anarchismus so zusammen: „Dezentralisierung, freiwillige Zusammenschlüsse, gegenseitige Hilfe, Vernetzung und vor allem die Ablehnung der Idee, der Zweck heilige die Mittel und die Revolutionäre müssten die Macht im Staat ergreifen, um ihre Weltanschauung anschließend mit Waffengewalt durchzusetzen.“ 3 Von Michael Albert erschien in deutscher Sprache: „Parecon, Grafenau“, Trotzdem Verlagsgenossenschaft 2004. Die meisten der folgenden Zitate stammen aus: „Realizing Hope – Life Beyond Capitalism“, London (Zed Books) 2006. Eine detaillierte Darstellung der partizipalistischen Wirtschaftstheorie in: Michael Albert und Robin Hahnel, „The political economy of participatory economics“, Princeton (Princeton University Press) 1991. 4 Dazu Cécile Raimbeau, „En Argentine, occuper, résister, produire“, Le Monde diplomatique, September 2005. 5  Vincent Cheynet, „Pour en finir avec l’altermonde“, La Décroissance 32 (Juni 2006) Lyon. 6 Jean-Pierre Garnier, „L’altermondialisme: un internationalisme d’emprunt“, Utopie critique 37 (2. Quartal 2006) Paris. 7 Diese Liste von Problemen nennt Stephen Shalom, auf den sich Michael Albert in seinem Buch „Realizing Hope“ (Anm. 3) bezieht, a. a. O., S. 23 f. Aus dem Französischen von Bodo Schulze

Le Monde diplomatique vom 11.08.2006, von Serge Halimi