11.08.2006

Herren der Landschaft

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Herren der Landschaft

Vom Rhein bis zum Oderbruch – aus zwei Jahrhunderten deutscher Umweltgeschichte von Neal Ascherson

Geschichte ist stets das Resultat unbeabsichtigter Folgen menschlichen Handelns. Das gilt auch für den Umgang mit der natürlichen Umwelt. David Blackbourn führt dafür ein eindringliches Beispiel vor.1 Seine originelle und bahnbrechende Studie schildert das 250 Jahre währende Bemühen der Deutschen, sich ihre Landschaft zu unterwerfen, vor allem die Gewässer.

Blackbourns Einsichten gelten gewiss auch für solche gigantischen Projekte, über die heute nicht nur besorgte Ökologen diskutieren – etwa in Amazonien oder am Jangtse; und sie erklären auch, warum wir inzwischen bereuen, was „die Entwicklung“ aus den Landschaften an der Donau, dem Dnejpr oder der Rhone gemacht hat.

Grüne Aktivisten, aber auch Regierungen, die sich für die „Entwicklung“ der natürlichen Ressourcen verantwortlich fühlen, stoßen bei ihrem Bemühen um die „Rettung der Umwelt“ immer wieder auf irritierende Fragen. Denn es ist keineswegs eindeutig, wie die Beziehung der Menschen zu ihrer Umwelt zu verstehen sei. Es gibt ja kaum noch Zeitgenossen, die sich auf den Wortlaut der Schöpfungsgeschichte berufen, wonach der Mensch zur Herrschaft über alle Kreatur bestimmt sei, also „über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht“. Längst vorüber ist auch die Selbstgewissheit der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, die sich auf die „ehernen Gesetze der Geschichte“ beriefen, um die technische Umgestaltung der Landschaft und der Biosphären zu rechtfertigen – unter Berufung auf den menschlichen Fortschritt, der doch nur eine neue Variante des Anspruchs auf „Herrschaft“ über die Natur darstellt. Solche alten Überzeugungen leben im Verborgenen fort und beeinflussen nach wie vor unser Denken.

Das gilt auch für die Vorstellung, dass der Mensch zum „Treuhänder für die natürliche Schöpfung“ bestellt sei. Das klingt nach guten Absichten und bewirkt in der Praxis häufig Positives, und doch drückt sich darin der alte anmaßende Anspruch der menschlichen Gattung auf den Status eines über der Natur stehenden Souveräns aus.

Seltsamerweise klingt dieses Dogma auch in gewissen Aspekten des „grünen“ Denkens wieder an, wenn es nämlich behauptet, die Menschen seien für alles verantwortlich, was im Meer und in Seen und Flüssen „schiefgeht“, zum Beispiel für die Vermehrung oder das Verschwinden einzelner Tier- und Pflanzenarten und für Veränderungen von deren natürlichen Lebensräumen.

Damit will ich keineswegs verharmlosen, wie stark das Handeln der Menschen in den letzten zehntausend Jahren zur Verwüstung unseres Planeten und zur Vernichtung vieler Formen des Lebens beigetragen hat. Doch die Formel von der „totalen Verantwortung“ des Menschen bleibt einer anthropozentrischen Philosophie verhaftet. Sie beinhaltet die realitätsferne Vorstellung eines „Gleichgewichts der Natur“ – als ob in der Umwelt zu Lande wie zu Wasser eine konstante und unveränderliche ökologische Balance herrsche, die nur durch die Intervention der Menschen „aus dem Lot“ gebracht würde.

Das harmonische Gleichgewicht der Natur ist eine Fiktion

Natürlich ist es gut, wenn heutzutage viel Aufwand betrieben wird, um die verlorenen Feuchtgebiete an den Ufern der Flüsse und den Küsten der Meere wiederzugewinnen, um abgeholzte Hochflächen wieder aufzuforsten und gefährdete Arten in Savannen oder Regenwaldzonen zu erhalten. Aber man muss auch eine Selbstverständlichkeit aussprechen: Die Biosphäre unseres Planeten („Natur“ genannt) war nie in einem harmonischen Gleichgewichtszustand erstarrt, sondern in ständigem Wandel begriffen, global wie regional. Nicht der Mensch und sein Tun, sondern die permanenten Wechselwirkungen von ökologischen Prozessen haben die tiefen Schichten des Schwarzen Meeres in eine tote und vergiftete Sphäre verwandelt, haben den Hering im Atlantik auf neue Wanderrouten gedrängt oder die Megafauna Australiens ausgelöscht.

Um noch einmal auf die Sprache der Schöpfungsgeschichte zurückzugreifen: Die natürliche Umwelt ist nicht der Garten Eden, sondern jener Strom, der „ausging von Eden, den Garten zu bewässern“. Und diesen Strom kann man nicht zum Schuldigen erklären. Ein lokales Ökosystem „wiederherstellen“ bedeutet in Wahrheit ein neues schaffen – in der Hoffnung, dass es dem gegenwärtigen Geschmack der Menschen eher zusagt.

Für die verschiedenen Verhaltensweisen gegenüber der Natur – von edelmütig bis katastrophal und manchmal beidem – finden sich in der neueren deutschen Geschichte eindrucksvolle Beispiele. Wobei uns Blackbourn vorführt, dass Umweltgeschichte nicht mehr einfach als Geschichte der Umwelt gesehen werden kann. Vielmehr sollte sie auch ein Beitrag zur Sozialgeschichte sein, insofern sich die Natur einer Gesellschaft am deutlichsten darin abbildet, wie diese mit ihrer eigenen „natürlichen“ Umwelt umgeht.

Im 19. Jahrhundert entstand die Überzeugung, „das Schicksal“ von Bevölkerungsgruppen und Nationen werde durch geophysikalische Faktoren und das Klima gestaltet. Diese deterministische Auffassung ging an der Realität vorbei. In Deutschland wurde sie genau zu der Zeit formuliert, in der sich die Menschen verbissen bemühten, dem Schicksal eine neue Wendung zu geben, indem sie deutsche „Merkmale“ beseitigten. Dieser Determinismus hat sich im akademischen Denken bis ins 20. Jahrhundert hinein gehalten – zum Beispiel bei der US-amerikanischen Archäologin Betty Meggers, die mit ihrer „Theorie der Begrenzung durch Umweltfaktoren“ erklären wollte, warum die indigenen Völker der Amazonasregion es nie zu einer stabilen Ackerbaukultur gebracht haben. Ihre Theorie wurde alsbald von ihrer jüngeren Rivalin Anna Roosevelt ad absurdum geführt, die aufzeigen konnte, dass einigen Amazonasvölkern genau das gelungen war.

An der Art von Historiografie, wie sie Blackbourn vorführt, sind zwei Aspekte entscheidend: Erstens wird der Begriff „Kulturlandschaft“ eingeführt, in dem die strikte Trennung zwischen „Mensch“ und „Natur“ aufgehoben ist. So etwas wie „jungfräuliche Landschaft“ ist nicht nur in den größten Teilen Europas, sondern auch in einem Großteil der übrigen Welt unwiederbringlich verloren. Viele Landschaften, die wir als „ursprünglich“ bewundern, gehen in Wahrheit auf frühere Eingriffe von Menschen zurück: Die Kahlheit der schottischen Highlands zum Beispiel ist keineswegs „natürlich“, sondern verursacht durch mittelalterliche Kriege, den Holzhunger von Eisenschmelzöfen und Schiffswerften wie auch durch die Ausweitung der Ackerflächen, für die große Waldflächen abgeholzt wurden.

Die zweite originelle Fragestellung besteht darin, dass es nicht nur darum geht, herauszufinden, was die Menschen und die Regierungen ihren Flüssen, Wäldern und Mooren angetan haben, sondern auch darum, zu erforschen, was sie jeweils zu tun glaubten und wie ihr Handeln mit den vorherrschenden Ideologien zusammenhing.

Während des größten Teils der von Blackbourn untersuchten Periode (von 1750 bis heute) war die Idee im Schwange, dass man der Natur Fesseln anlegen müsse. Und wichtiger noch: „In Deutschland stand die ‚Eroberung der Natur‘ in engstem Zusammenhang mit der Eroberung anderer Länder.“

Diese zweite These wird in ihrer Zugespitztheit den subtilen und komplexen Detailuntersuchungen des Autors nicht ganz gerecht. Es trifft absolut zu, dass die deutschen Pläne im Osten – zur Zähmung der Wasserläufe oder zur Wiedergewinnung von Land – fast durchweg in der Sprache der Eroberung, der Kolonisierung und des Krieges formuliert waren – angefangen mit dem Preußenkönig Friedrich II. („dem Großen“) und kulminierend in den monströsen Projekten der SS, die die Pripjatsümpfe im heutigen Weißrussland zu einer Art Gemüsegarten Deutschlands machen wollten.

Im Westen dagegen pflegte man solche Projekte mit Begriffen wie „Verbesserung“, „Bequemlichkeit“ oder „Fortschritt“ zu begründen. Das gilt zum Beispiel für die „Begradigung“, sprich: Kanalisierung des Rheins, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch den visionären Ingenieur Johann Gottfried Tulla begonnen wurde. Und gilt weiter für die Trockenlegung und Besiedlung der norddeutschen Moore oder den Ausbau des Jadebusens zur Marinebasis der kaiserlichen Flotte Wilhelmshaven. Und es gilt für den Bau der Talsperren am Oberlauf der Rur unter der Leitung von Otto Intze, dem „Großmeister der deutschen Dämme“, die gleich mehrere Funktionen erfüllten. Diese Staudämme sollten nicht nur Trinkwasser für die wachsenden Städte des Ruhrgebiets liefern, sondern auch den Wasserstand im neugebauten Kanalnetz regulieren und Überschwemmungen im Rurtal selbst verhindern. Später kamen noch Wasserkraftwerke zur Stromerzeugung hinzu.

Es stimmt zwar, dass diese öffentlichen Projekte – insbesondere nach der Reichsgründung von 1871 – mit allerlei bombastischen Reden garniert wurden, über den deutschen Genius und die Notwendigkeit, die Franzosen oder die Briten zu überholen. Aber der Zusammenhang zwischen der zivilen „Eroberung der Natur“ und den militärischen Eroberungsplänen trat im Westen Deutschlands vor 1914 nicht so unmittelbar zutage wie im preußischen Osten und später noch krasser in der Nazizeit.

Deshalb behandelt Blackbourn am ausführlichsten zwei Projekte, in denen der Zusammenhang mit der deutschen Kolonisierungs- und Eroberungspolitik am offenkundigsten ist: eine Erschließung des Oderbruchs und, Hauptbeispiel für die Umweltpolitik der Nazis, den sogenannten Generalplan Ost mit dem Ziel, die Pripjatsümpfe trockenzulegen und die Bewohner des Gebiets zu vernichten, um dort deutsche Kleinbauern anzusiedeln.

Die „Eroberung der Natur“ vollzog sich in Deutschland in drei Phasen, die jeweils einer spezifischen Ideologie und einem konkreten Kriegsprojekt zuzuordnen sind. Die erste Phase ist der „aufgeklärte Despotismus“ Preußens. Die zweite Phase fällt ins 19. Jahrhundert und stand im Zeichen von Revolution und Nationalismus. Die dritte Phase im 20. Jahrhundert entsprang dem Geist des Nationalsozialismus und des Kommunismus. In allen drei Phasen war die gemeinsame Grundidee die Vorstellung von der Natur als „einem Gegner, den man fesseln, zähmen, unterwerfen und erobern“ müsse.

Sumpfgebiete wurden erobert wie Feindesland

Die Metaphorik war von Anfang an kriegerisch. Der Schotte James Dunbar schrieb im Jahr 1780: „Lasst uns einen Krieg gegen die Elemente führen statt gegen unseresgleichen.“ Friedrich II. erklärte beim Anblick trockengelegter Sumpfflächen: „Hier habe ich im Frieden eine Provinz erobert.“ 1743 begann er seine große Offensive im Oderbruch, und obwohl er dabei keine Kanonen einsetzte, gehörten zu den „friedlichen“ Mitteln umfängliche Zwangsmaßnahmen, Militarisierung der Arbeitskraft und ethnische Säuberungen, das heißt die Vertreibung des Volkes, das in dieser Sumpflandschaft zu beiden Seiten der Oder zu Hause war.

Zur Zeit Friedrichs II. galten Sumpfgebiete als elende und nutzlose Landstriche, wo malariaverseuchte Dämpfe aufstiegen und nicht nur gefährliche wilde Tiere hausten, sondern auch ein primitiver Menschenschlag, der weder Recht noch Ordnung kannte.

Heute würden wir die verlorene Welt des Oderbruchs dagegen als landschaftliches Kleinod schätzen und zu bewahren suchen. Der Fluss verzweigte sich auf seinem Weg in die Ostsee in zahllose flache Kanäle und Lagunen, die überall Sümpfe, Sandbänke und schlammige Inseln entstehen ließen. Diese Landschaft wurde zweimal im Jahr von bis zu drei Meter hohen Wassermassen überflutet, die eine üppige Strauchvegetation zurückließen. Hier lebte eine fast unvorstellbare Vielfalt von Insekten, Fischen, Vögeln und Säugetieren, darunter Wölfe und Luchse.

Einen Einblick geben die wunderbaren Beobachtungen Theodor Fontanes, der Mitte des 19. Jahrhunderts die trockengelegten Gebiete längs der Oder bereiste und auch viele Erinnerungen aus der Zeit vor dem Landgewinnungsprojekt sammelte. Dabei berichteten ihm die Einheimischen von den vielen seichten Seitenarmen mit zahllosen Fischarten, von Schwärmen von Hechten, die so dicht standen, dass man die Fische eimerweise herausschöpfen konnte, von Flusskrebsen, die in heißen Sommern aus den flachen Tümpeln in den Schutz der Blätter auf die Bäume kletterten, sodass man sie wie Pflaumen herunterschütteln konnte.

Aber Fontane schrieb auch über die alten Bewohner des Oderbruchs. Die waren nicht Deutsche, sondern Wenden: eine slawische Volksgruppe, die zu beiden Seiten der Oder noch das Marschland besiedelte, als die Deutschen das fruchtbare Land rundum kolonisiert hatten. Die Wenden lebten inmitten der Sumpflandschaft auf flachen Sandinseln in Holzhütten oder Lehmkaten, „von Kuhmistwällen eingefasst, die 8…] halb zum Schutz gegen das Wasser, halb zu Kürbisgärten dienen“2.

Mit alldem hat Friedrich II. Schluss gemacht. Das Marschland wurde trockengelegt, der Oder hob man ein neues, begradigtes Bett aus, womit man das ganze Wasserlabyrinth aus Seitenarmen und -kanälen abtrennte. Kilometerlange Deiche wurden aufgeschüttet, um den Fluss in sein Bett zu bannen und die bäuerlichen Anwesen zu schützen, die jetzt mit geometrischer Exaktheit im ganzen Oderbruch angelegt wurden.

Die etwa 6 000 deutschen Kolonisten, die man in der Folge anwarb, wurden in kleine, ziegelgedeckte Bauernhäuser gesetzt. Als die abgeschnittenen Wasserarme mit der Zeit austrockneten, verzogen sich auch die scheuen Wenden. Die schwarzen, seidenen Kopftücher der Frauen waren die einzige Hinterlassenschaft, die Fontane in den Dörfern des Oderbruchs noch entdeckte. Doch die alten Lebensformen waren schon damals endgültig verschwunden.

Der Boden der neugewonnenen Ackerflächen war überaus fruchtbar. Die Kolonisten wurden reich und erwarben schnell den Ruf, keine Manieren, aber umso mehr Geld zu haben. Friedrich II., ihr aufgeklärter Despot, verkündete unterdessen, dass, wer brachliegendes Land kultiviere und Sümpfe trockenlege, über die Barbarei obsiege. Hier begegnen wir bereits einer gedanklichen Verknüpfung, die in deutschen Köpfen noch lange herumspukte: Die Deutschen sind Eroberer mit einer zivilisatorischen Mission. Die Slawen dagegen, etwa die demütigen Wenden und die weit weniger fügsamen Polen, sind Barbaren.

Spätere nationalistische Visionäre haben aus diesem Gegensatz eine geopolitische Rassenideologie gebastelt, die das pseudodarwinistische „Recht der Stärksten“ postulierte. Mit begehrlichem Blick auf die Pripjatsümpfe verkündete der Nazi-Landschaftsplaner Heinrich Wiepking-Jürgensmann 1942, eine Landschaft zeige „in unerbittlicher Strenge“, ob ein Volk „Teil der göttlichen Schöpfungskraft“ sei oder „den zerstörenden Kräften zugeordnet werden“ müsse. Letzteres gelte vor allem für die Slawen: „Die Morde und Grausamkeiten der ostischen Völker sind messerscharf eingefurcht in die Fratzen ihrer Herkommenslandschaften“, die als „verkommen und verwahrlost“ geschildert werden.

Blackbourn sieht in solchen Äußerungen eine „mentale Verknüpfung zwischen Rasse und Landgewinnung“. Die Pripjatsümpfe trockenzulegen oder deutsche Kolonien auf solche Weise zu gewinnen, wie es Friedrich II. im Oderbruch getan hatte, bedeutete das Austrocknen ungesunder Rassen. Reinhard Heydrich, der Chef des Reichssicherheitshauptamts, benutzte das Bild der Trockenlegung von Sumpfgebieten, um das langsame Vordringen deutscher Wehrbauern zu beschreiben, die er als „menschliche Deiche“ sah, die sich der „Flut aus Asien“ entgegenstemmen sollten.

Zweihundert Jahre zuvor hatten die Preußen im Oderbruch schnell gemerkt, dass die „Fluten“ durch den Bau von Deichen und die Trockenlegung von Marschland nicht verhindert, sondern lediglich stromabwärts verlagert wurden. Die gigantischen Erdbewegungen und Regulierungen, die von Johann Gottfried Tulla Anfang des 19. Jahrhunderts am Oberrhein ins Werk gesetzt wurden, hatten schlimme Folgen, die sich in den kommenden 150 Jahren noch multiplizieren sollten. Die Begradigung und Verengung des Flussbetts, die auch noch auf Kosten der Uferauen ging, erhöhte die Fließgeschwindigkeit des Rheins, was zu katastrophalen Überflutungen am Unterlauf führte. Damit begann eine Kettenreaktion, in der jede Gemeinde am Mittel- und später auch am Unterrhein neue Deiche baute, was das Problem nur an die weiter flussabwärts liegenden Nachbarn weiterreichte.

Mitte des 20. Jahrhunderts waren auf diese Weise 85 Prozent der Überflutungsauen verloren gegangen, und die Fließgeschwindigkeit des Rheins verdoppelte sich innerhalb von zwanzig Jahren. Die „Regulierung“ des Stroms bedeutete das Ende für die Rheinfischer, weil sie die seichten Uferzonen und Nebenarme beseitigte, die Lachs, Maifisch und Stör zum Laichen brauchen. Und die Strömung trug auch die Kiesel davon, in denen das berühmte „Rheingold“ eingeschlossen war. Das aus den Alpen heruntergespülte diluviale Schwemmgestein hatte dem Königreich Baden im Jahre 1830 noch 13 Kilogramm Gold beschert; bis 1870 schrumpfte dieser Beitrag zum staatlichen Budget auf weniger als 100 Gramm jährlich. So verblasste das alte Bild vom Rhein als einem Fluss mit reicher Fauna und Flora und vielfältigen menschlichen Aktivitäten. An seine Stelle trat, zumal seit Einführung des Raddampfers, das touristische Panorama der „romantischen“ Schluchten zwischen Köln und Mainz.

Rückschläge konnten die Begeisterung der Deutschen für die „Eroberung der Natur“ nicht zügeln. Wenn es stimmte, dass Geografie und Geologie bis dahin die Geschicke der Völker geformt hatten, so wollte Deutschland die Größe seines Geistes nun demonstrieren, indem es alte Zwänge durchbrach, um sein Schicksal ganz neu zu gestalten. Die Menschen, hier die Deutschen, machten sich die Erde untertan.

Die Eroberer der Natur erfanden den Begriff „Ökologie“

Diese Eroberergeneration sah sich nicht im Widerspruch zu den neuen die Umwelt beschreibenden Begriffen, die von deutschen Naturwissenschaftlern entwickelt wurden – Begriffen, die wir im Rückblick als Warnungen vor den Folgen unkontrollierter Entwicklung verstehen müssen. Ernst Haeckel etwa formulierte 1866 das Konzept von „Ökologie“, das die Beziehung eines Organismus zu seiner Umwelt definiert. August Möbius und andere erforschten die Einheit von Ökosystemen und die unvorhersehbaren Wirkungen der menschlichen Eingriffe in diese Systeme. Ernst Rudorff, einer der Väter der deutschen Naturschutzbewegung, beklagte die entstellenden Eingriffe in die Landschaft um der schnöden Bequemlichkeit willen. Und kein Geringerer als Friedrich Engels schrieb damals: „Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns.“3

Vor dem 20. Jahrhundert waren technischer Fortschritt und der Sieg über die Natur ebenso ein Anliegen des nationalimperialen Lagers wie der Liberalen und Linken. Für Friedrich Harkort war in den 1840er-Jahren „die Lokomotive der Leichenwagen, auf dem Absolutismus und Feudalismus zum Kirchhof gefahren werden“. Die Kritiker von massiven Eingriffen in die Landschaft waren damals, von Engels abgesehen, vorwiegend nostalgische ländliche Konservative.

Zwischen 1890 und 1914 beglückwünschten sich die Deutschen vor allem zu ihren neuen Staudammprojekten. Das Volk begeisterte sich an der Urft-, der Eder- und der Möhnetalsperre, die alle vor dem Ersten Weltkrieg entstanden. Es entwickelte sich ein „Talsperrentourismus“ samt dem neuen Genre des „Talsperrenjournalismus“, dessen Vertreter mit Vokabeln wie „riesig“ und „kolossal“ um sich warfen. In solchen Artikeln tauchte erstmals die Behauptung auf, Staudämme seien nicht allein Triumphe der Ingenieurskunst, sondern auch „kulturelle“ Errungenschaften. So war über die Möhnetalsperre zu lesen, dass „sie sich wunderbar in die sie umgebende Natur fügt“.

Damit wurde nicht nur einem Produkt der Ingenieursarbeit bestätigt, dass es ästhetisch befriedigend gelungen war. Im Keim wurde hier die Einstellung formuliert, die nach 1933 von den Nazis auf so dynamische wie widersprüchliche Weise vertreten wurde – wie bei dem gigantischen und glücklicherweise nie verwirklichten Plan, die Sumpflandschaft entlang dem Fluss Pripjat in der alten polnischen Provinz Polesien (heute in Weißrussland) vollkommen umzugestalten.

Die Naziideologen hielten den traditionellen Gegensatz zwischen „natürlicher“ Landschaft und Entwicklungs- oder Siedlungsregion für altmodisch und überholt. Sie sahen in der „richtigen“ Art von Entwicklung nicht nur eine „kulturelle“ Mission, sondern gingen einen Schritt weiter: Sie unterschieden einen natürlichen und einen nicht natürlichen Zustand nicht mehr danach, ob der Mensch in die Landschaft eingegriffen hatte oder nicht. Das Unterscheidungskriterium wurde nunmehr „politisch“, also „rassisch“. Als „natürlich“ galt eine Landschaft, wenn sie durch eine Rasse verändert wurde, die aufgrund der unerbittlichen Gesetze der Natur zur Herrschaft bestimmt war. Wo Deutsche die Erde gestaltet hatten, stand dies „im Einklang mit der Natur“. So hieß es in einer Denkschrift zur „Eindeutschung“ der neuen Siedlungsräume, deren Landschaft müsse „durch Ausschaltung fremden Volkstums in eine artgemäße germanische Kulturlandschaft umgewandelt“ werden.

Die deutsche Kolonie am Pripjat wurde zum Glück nie verwirklicht

Bevor dieser Plan umgesetzt wurde, mussten die Deutschen den Rückzug aus dem Osten antreten. Die einzige Maßnahme, die realisiert wurde, war die „Eliminierung“ der Juden: Gleich nach dem deutschen Einfall in die Sowjetunion, im August 1941, ermordeten die SS-Einsatzgruppen mehr als 15 000 Juden allein im polesischen Bezirk Baranowicze-Pinsk. Dagegen wurden keine Sümpfe trockengelegt und nur wenige Umsiedler angelockt. Doch wäre der „Generalplan Ost“ umgesetzt worden, hätte die neue Landschaft nur für die Augen der Nazis „natürlich“ ausgesehen. Auf dem ehemaligen Sumpfland wäre ein friderizianisches Muster aus schachbrettartigen Feldern und uniformen Dörfern entstanden. Der grüne Plan sah vor, in jedem Dorf Naturschutzflächen zu erhalten, viele Laubbäume anzupflanzen und die weniger fruchtbaren Äcker in Weideland umzuwandeln, damit die entwässerten Sumpfflächen nicht ganz austrocknen würden. Die Entwicklungskonzepte der Nazis waren im Detail häufig ziemlich aufklärerisch. Hitler selbst verfasste 1942 einen Plan zur Energiegewinnung durch Windfarmen, der aber nicht realisiert wurde. Und auch die Einstellung des Pripjatprojekts wurde von Hitler selbst angeordnet – mit Umweltschutzargumenten, weil er eine Versteppung des Gebiets befürchtete.

Nach 1945 wurden 12 Millionen Deutsche aus Gebieten vertrieben, in denen sie häufig über Jahrhunderte angesiedelt gewesen waren. In Gestalt des wiedergegründeten polnischen Staats rückte nun „das Slawentum“ an die Oder vor. Die meisten Vertriebenen aus dem heute polnischen Territorium landeten praktisch mittellos im Westen Deutschlands, also in der künftigen Bundesrepublik, wo sie sich – von der Regierung ermutigt – über den Verlust ihrer Heimat mit bitteren Rückkehrfantasien hinwegtrösteten.

Ihre Verbände kultivierten, im Rahmen einer staatlich subventionierten Vertriebenenkultur, eine Variante des alten Mythos von der besonderen Beziehung der Deutschen zur Erde und zur Natur. Autoren, die sich dem Vermächtnis der alten Heimat verpflichtet fühlten, reklamierten für die Deutschen nach wie vor beides: „ein besonderes Gespür für die Natur“ wie „ein besonderes Talent zur Umgestaltung der Landschaft“. Diese Vertriebenenideologie ging mit einem Selbstmitleid einher, das sich in den Fantasien über den zurückgelassenen Grund und Boden niederschlug: Auf den deutschen Feldern, die man in slawischer Hand zurückgelassen hatte, wuchere eine Unkrautwildnis, die deutschen Flüsse versandeten, Wasserfluten unterspülten die vernachlässigten Deiche, die asiatische Steppe schiebe sich nach Westen vor.

Die Zuzug von Millionen Flüchtlingen erzeugte im Westen Deutschlands einen Flächenbedarf, dem der größte Teil der Moore und zahlreiche Waldflächen weichen mussten. Im Verein mit den Folgen des deutschen „Wirtschaftswunders“ wurde so ein neuer Großangriff auf die natürliche Umwelt ausgelöst. Noch mehr Flüsse schrumpften zu verschmutzten, einbetonierten Kanälen, die Belastung durch Kunstdünger und chemische Stoffe killte die letzten Fische, es entstanden noch mehr Staudämme und Wasserkraftwerke. Und der „Aufbau des Sozialismus“ in der DDR hatte unter anderem den sauren Regen und das „Waldsterben“ zur Folge und belastete die Böden mit so viel Chemieabwässern, dass zum Beispiel in Bitterfeld das Grundwasser die Säurekonzentration von Essig übertraf.

Diese einseitige Entwicklung seit den Tagen Friedrichs des Großen erreichte in den 1970er-Jahren ihren Scheitelpunkt. Die Kehrtwende begann, um es exakt zu sagen, 1969 mit der sozialliberalen Koalition, die ökologische Fragen auf die politische Tagesordnung setzte. Das war auch eine Reaktion auf die weltweite Panik, die nach der revolutionären Welle von 1968 eingesetzt hatte. In der Bundesrepublik wie in den USA und in Großbritannien bot sich „die Umwelt“ als ein Thema an, das einerseits für Linke attraktiv schien, andererseits aber deren Energien vom direkten Angriff auf die politischen Strukturen ablenkte und auf ein „weicheres“ Ziel orientierte. Der Paradigmenwechsel funktionierte. In Deutschland begann sich die Leidenschaft der jungen Revolutionäre in eine Richtung zu kanalisieren, die zur Gründung der Grünen-Partei führte. In den 1970er-Jahre vollendete sich dann eine Entwicklung, die in den Worten von Blackbourn „die Naturschutzidee in ökologisches Bewusstsein verwandelte und eine rasche politische Wanderungsbewegung von rechts nach links vollendete“.

Was das Oderbruch betrifft, entwickelte sich auch bei diesem Thema seit der deutschen Vereinigung von 1990 eine „grüne“ Sichtweise. Heute wird das Oderbruch häufig als „Paradies“ beschrieben, „wo die Natur noch intakt ist“. Doch so ist es nicht. Der ruhig dahinfließende Strom ist immer noch der alte Entwässerungskanal, den Friedrich II. ausheben ließ, und die gelben Blumenteppiche, die sich an seinen Ufern erstrecken, sind lauter Adonisröschen – eine aus Südeuropa eingewanderte Spezies.

Selbst die katastrophale Flut von 1997, die im Westen Polens ganze Städte unter Wasser setzte und das Oderbruch fast zerstört hätte, war weniger eine Natur- als eine von Menschen gemachte Katastrophe: Ihre Hauptursache war die Abholzung von Wäldern und die Zerstörung von natürlichen Überflutungszonen am Oberlauf der Oder in Polen und Tschechien.

Am Ende seines Buches denkt Blackbourn über die Illusionen nach, die das Bemühen der Menschen um die Gestaltung ihrer Umwelt begleiten. Das Oderbruch in seiner heutigen Gestalt ist ein dünnbesiedelter Landstrich, der aber mehr als 250 Jahre nach seiner künstlichen Entstehung „die Patina des Alters“ erworben habe. Gleichwohl würde Blackbourn keineswegs wünschen, „dieses Land würde in die ‚Wasser- und Sumpfwildnis‘ zurückverwandelt, die es vor der Trockenlegung war – selbst wenn das möglich wäre“.

Und es ist nicht möglich. Nach Blackbourn müssen wir uns endlich der Einsicht beugen, dass wir die Natur weder „restaurieren“ noch ihren Wandel aufhalten können. Der Mensch vermag eine Landschaft lediglich für eine begrenzte Zeit so zu verändern, dass sie seinen praktischen oder ästhetischen Bedürfnissen gerecht wird. Aber danach wird die Landschaft ihre alte Rolle zurückfordern und den Prozess ihrer unberechenbaren Verwandlung wiederaufnehmen. Die „Eroberung der Natur“ kann allenfalls zu einem Waffenstillstand führen.

Fußnoten: 1 David Blackbourn, „The Conquest of Nature: Water, Landscape and the Making of Modern Germany“, London (Cape) 2006. 2 Theodor Fontane, „Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Zweiter Teil: Das Oderland“, Berlin (Aufbau Taschenbuch Verlag) 1994, S. 34 ff., Zitat S. 37. 3 Friedrich Engels, „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“, Karl Marx, Friedrich Engels, Werke (MEW), Bd. 20, Berlin (Dietz Verlag) 1962, S. 444–455. © Le Monde diplomatique, Berlin Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Neal Ascherson lebt als Autor und Publizist in London. Auf Deutsch zuletzt erschienen: „Schwarzes Meer“, Berlin (Berlin Verlag) 1996.

Le Monde diplomatique vom 11.08.2006, von Neal Ascherson