10.09.2010

Absolut Chávez

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Absolut Chávez

Wahlen in Venezuela von Gerhard Dilger

Es ist wieder Wahlkampf in Venezuela. Die Wahl zur Nationalversammlung am 26. September ist eine wichtige Nagelprobe für Präsident Hugo Chávez und das Projekt der „bolivarischen Revolution“. Wegen des kurzsichtigen Boykotts der Parlamentswahl Ende 2005 durch die rechten Oppositionsparteien hatte das Regierungslager bisher freie Bahn in der Legislative und konnte seinen Weg zum „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ durchsetzen. Daran änderte sich auch wenig, nachdem sich die kleineren Linksparteien – Podemos (Wir können es) 2007 und Patria Para Todos (Vaterland für alle, PPT) – vor wenigen Monaten vom Chavismo getrennt hatten.

Wie immer vor wichtigen Abstimmungen setzt Chávez auf Polarisierung und Verbalradikalismus: Nicht weniger als „die Zukunft der Revolution“ und „die Unabhängigkeit des Landes“ stünden nun auf dem Spiel, sagte er vor über 40.000 Parteigängern in seiner Heimatstadt Barinas,1 die Opposition müsse „zermalmt“ werden: „Es wäre wirklich eine Tragödie, wenn diese verfaulte, konterrevolutionäre fünfte Kolonne (…) die Mehrheit in der Nationalversammlung übernehmen würde.“

Dazu wird es aller Voraussicht nach nicht kommen. Dafür hat die Regierungsallianz aus dem Partido Socialista Unificado de Venezuela (Sozialistische Einheitspartei Venezuelas, PSUV) und den Kommunisten bereits im Vorfeld durch eine Neuordnung der Wahlkreise und die teilweise Einführung des Mehrheitswahlrechts gesorgt. Die meisten Beobachter rechnen damit, dass sich der Chavismo – selbst bei deutlichen Stimmeneinbußen – eine absolute Mehrheit der 165 Sitze in der Nationalversammlung wird sichern können. Chávez’ Wahlziel liegt allerdings deutlich darüber: Er strebt die Zweidrittelmehrheit an, mit der die Regierungskontrolle über den Obersten Gerichtshof und den Nationalen Wahlrat erhalten bliebe. Und mit einer Dreifünftelmehrheit kann das Parlament dem Präsidenten immer noch das Regieren per Dekret ermöglichen.

Doch der um Podemos erweiterte Bürgerblock um Christ- und Sozialdemokraten, der insgesamt 24 Parteien umfasst, hat aus den Fehlern der vergangenen Jahre gelernt. Ähnlich wie bei den Regionalwahlen vom November 2008 tritt die Opposition mit gemeinsamen Kandidaten an, diesmal unter dem Namen Mesa de Unidad Democrática (Tisch der demokratischen Einheit, MUD). Neu ist diesmal, dass sich ehemalige Verbündete des Präsidenten, allen voran die PPT, als dritte Kraft im Lande positionieren wollen.

„Der politische Prozess in Venezuela befindet sich in seiner kritischsten Phase der letzten elfeinhalb Jahre“, meint der linke Soziologe Edgardo Lander, „und anders als früher, etwa bei dem Putsch im April 2002, sind die Probleme diesmal vor allem hausgemacht: galoppierende Inflation, mehr Arbeitslosigkeit, schwindende Kaufkraft. All das hat nach der langen Wachstumsphase zwischen 2003 und 2008 stark zugenommen.“

Wie alle Länder Südamerikas profitierte auch Venezuela vor der Weltwirtschaftskrise vom Rohstoffboom, also von den hohen Erdöleinnahmen. Chávez verdreifachte die Sozialausgaben, die Armut wurde halbiert. Doch die Chance zur dringend nötigen Diversifizierung der Wirtschaft wurde während dieser fetten Jahre vertan – allen hehren Absichten zum Trotz.2

Bei allen „autoritären Tendenzen und der Fixierung auf den Staat“, die an den Realsozialismus des 20. Jahrhunderts erinnern, sieht die Historikerin Margarita López Maya noch mehr Parallelen zur venezolanischen IV. Republik (1958–1998), die Chávez ja überwinden will: „Es handelt sich um ein äußerst ineffizientes, unproduktives Wirtschaftssystem, wir importieren nach wie vor über 70 Prozent der Lebensmittel.“ Die Wirtschaft bleibe von den Öleinnahmen abhängig wie eh und je.3 Und die Rezession trifft das Land besonders hart, im ersten Trimester 2010 schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt um 5,8 Prozent.

Es war die Zeit der Stromrationierungen, zu denen die Regierung durch eine extreme Dürreperiode gezwungen wurde. Für Unruhe sorgten zudem die Abwertung der Landeswährung Bolívar, die Verhaftung von mutmaßlich korrupten Bankern und die Verstaatlichung von Lebensmittelfirmen, die an Spekulationsgeschäften verdient haben sollen.4 Mittlerweile haben sich dank üppiger Regenfälle die Stauseen wieder gefüllt, doch vor allem in der Provinz kommt es wegen der Überlastung der Stromleitungen immer wieder zu Blackouts. Trotz eines enorm gestiegenen Energieverbrauchs wurden in den letzten Jahren kaum neue Kraftwerke installiert, und die Instandhaltung der bestehenden Infrastruktur ist mangelhaft. Dabei ist die Stromversorgung nur ein Beispiel für die gravierenden Managementprobleme im Staatssektor.

Dem Meinungsforscher Luis Vicente León zufolge stieg die „Krisenwahrnehmung“ der VenezolanerInnen im Februar auf 69 Prozent, während Chávez’ Popularität auf 43 Prozent sank. Das seien gut 30 Punkte weniger, als seine Spitzenwerte im Jahr 2006 betragen hätten, seither habe er aber wieder Boden gutmachen können, meint León.

Der ehemalige Guerillero Teodoro Petkoff, der in den 1990er Jahren neoliberaler Planungsminister war und jetzt als Chefredakteur der kleinen oppositionellen Tageszeitung Tal Cual einer der vehementesten Chávez-Kritiker ist, sieht den Staatschef an seinem bisherigen Tiefpunkt angelangt. Doch auch er räumt ein: „Chávez’ emotionale Verbindung zu einem großen Teil der Bevölkerung ist nach wie vor sehr stark.“

In Venezuela begegnet man der quasi religiösen Verehrung, die viele Menschen dem ehemaligen Fallschirmspringer entgegenbringen, auf Schritt und Tritt. „Der charismatische Mestize Chávez ist die Verkörperung des Venezolaners aus dem Volk“, sagt der Basisaktivist Juan Martínez, „schon deswegen identifizieren sich Millionen mit ihm.“ Im Alltag ist der Präsident auf Plakaten, großen Stellwänden, Hausmauern und in den Medien stets gegenwärtig, die Regierung fördert diesen Personenkult.

Anders als ein Großteil der Berichterstattung über Venezuela vermuten ließe, findet sich in den dortigen Medien ein breites Spektrum an Meinungen. Die Kontroverse um eine Titelseite der Tageszeitung El Nacional, auf der ein Artikel über illegale Kleinwaffen mit einem überdimensionierten Foto aus dem überfüllten Leichenschauhaus illustriert war,5 sahen die meisten Venezolaner eher gelassen. Nach einigen juristischen Scharmützeln kann das Blatt weiterhin unzensiert berichten.

Die meisten Printmedien sind in Privathand und regierungskritisch, wie auch die Fernseh- und Radiosender mit den höchsten Einschaltquoten, doch Letztere werden häufig für lange Liveauftritte des Staatschefs gleichgeschaltet. Seine stundenlange Sonntagssendung im Fernsehen „Aló Presidente“ hat Chávez während des Wahlkampfs ausgesetzt, aber seiner Medienpräsenz tut das kaum Abbruch.

Praktisch täglich schwört der Präsident seine Anhänger auf die Bedeutung der Wahl ein. Nach wie vor ist er ein Hoffnungsträger für Millionen. Freddy Bernal, chavistischer Parlamentskandidat und früherer Bezirksbürgermeister von Caracas, schildert einen Besuch in einem Armenviertel der Hauptstadt: „Eines Tages bin ich den Berg hochgegangen und habe das Foto des Kommandanten in einem armseligen Haus gesehen. Ich habe die Besitzerin gefragt, warum, wo sie doch immer noch in Armut lebte, und sie hat geantwortet: Eines Tages wird der Reichtum kommen.“

Doch an der Parteibasis registriert Edgardo Lander „zunehmendes Unbehagen“, allerdings würden die Sozialisten in Wahlkampfzeiten regelrecht erpresserisch unter Druck gesetzt. „Da ist kein Platz für Kritik“, meint der prominente Akademiker. Er rechnet damit, dass sich wiederholt, was beim Referendum über die weitgehende Verfassungsreform6 vom Dezember 2007 geschah, die Chávez sehr viel mehr Macht eingeräumt hatte. Es war die einzige Abstimmung, die Chávez bislang verloren hat: „Wegen der Dauerpolarisierung, die eine starke Klassenkomponente hat, halte ich es zwar für unwahrscheinlich, dass die früheren Chávez-Wähler nun massenweise für konservative Kandidaten stimmen, aber auch eine hohe Beteiligung käme der Rechten zugute, zumal deren Anhänger hochmotiviert sind.“

Herausforderung Kriminalität

Das große Wahlkampfthema der Opposition ist die galoppierende Kriminalität, die keineswegs mit Chávez begonnen, aber mittlerweile Rekordhöhen erreicht hat – vor allem in Caracas, aber auch landesweit. Ende August wurde eine Studie des Nationalen Statistikinstituts bekannt, wonach 2009 die Mordrate in Venezuela mit 75 pro 100.000 Einwohner mehr als doppelt so hoch war wie im Bürgerkriegsland Kolumbien.

Die Lage ist dramatisch, vor allem in den Armenvierteln der großen Städte. Viel zu lange hat die Regierung darauf vertraut, dass sich mit der Verbesserung der materiellen Lage von Millionen auch die Sicherheitslage entspannen würde. Dass dies ein Trugschluss ist, zeigt sich in ganz Südamerika. Der bewaffnete Konflikt in Kolumbien wirkt sich zudem direkt auf Venezuela aus, Guerilleros und vor allem Paramilitärs aus dem Nachbarland agieren schon längst in den Grenzregionen, aber nicht nur dort. Hinweise aus Regierungskreisen, dass „der Kapitalismus“ oder die repressive Antidrogenpolitik der USA die Machenschaften der Rauschgift- und Waffenmafia erst richtig befördere, hilft deren Opfern in den Armenvierteln nicht weiter. Nach Angaben des Innenministeriums wird jedes fünfte Verbrechen von einem Polizisten begangen. Die oft korrupten und unterbezahlten Uniformierten seien unfähig, die Sicherheit im Lande zu garantieren, räumte Soraya El Achkar Ende August vor der ausländischen Presse ein.

Die langjährige Menschenrechtsaktivistin ist eine der Leiterinnen eines ambitionierten Reformprojekts, mit der die Regierung auf das verlorene Verfassungsreferendum reagierte: dem Aufbau der Nationalen Bolivianischen Polizei, die vor allem präventiv und bevölkerungsnah agieren und dabei die Menschenrechte achten soll. Die ersten gut 1 000 Abgänger der neuen Polizeischule sind seit Ende 2009 im Hauptstadtviertel Catia aktiv.7

Innerhalb von zwei Jahren müssten sich 138 Polizeieinheiten der Bundesstaaten und Gemeinden der neuen Philosophie anpassen, sagte El Achkar, „sonst werden sie aufgelöst“. Die neue Nationalpolizei solle landesweit in zehn besonders kritischen Regionen zum Einsatz kommen und bis Ende 2011 in Caracas die Mehrheit aller Sicherheitskräfte stellen.

Margarita López Maya lobt diese Anstrengungen. „Doch allein damit ist dem äußerst komplexen Problem der Unsicherheit nicht beizukommen“, meint die 59-Jährige, die Chávez in den ersten Jahren unterstützt hat, nun aber für die PPT in einem Hauptstadtwahlkreis antritt. „Die Gewalt hat auch sehr viel mit den fehlenden Perspektiven für die Jugendlichen zu tun, mit dem Justizsystem, das einfach nicht funktioniert, mit der extremen Gewalt in den Gefängnissen oder dem riesigen Waffenschwarzmarkt“, sagt López Maya. Auch die extreme Polarisierung – „angefangen bei der Sprache des Präsidenten“ – führe zu einer gefährlichen Spaltung der Gesellschaft und damit zu mehr Unsicherheit, davon ist sie überzeugt. Ihr Anliegen sei es, diese Polarisierung aufzubrechen, und dabei gebe es bereits erste Fortschritte: „Die Kandidaten der Opposition treten gemäßigter auf, wenn auch mehr oder weniger ehrlich, und auch in den Medien ist diese Art des Diskurses angekommen.“

Edgardo Lander begrüßt den Versuch der PTT, sich zwischen den beiden Blöcken zu positionieren, als „wichtige Bresche im Chavismo, der bis jetzt so monolithisch war“. Allerdings hätten die Linksdissidenten wegen der Wahlrechtsreform nur in drei Staaten echte Chancen auf Parlamentssitze, meint er. Unabhängig von der Sitzverteilung kann er sich jedoch vorstellen, dass sich bei einer annähernden Stimmengleichheit zwischen Regierungslager einerseits und PTT/MUD andererseits „das Kräfteverhältnis und die Stimmung im Lande spürbar ändern“, auch im Hinblick auf die Präsidentschaftswahl 2012.

Nach den Wahlen werde die Kritik im sozialistischen Lager wieder an die Oberfläche kommen, hofft Lander, „ähnlich wie nach dem verlorenen Referendum. Doch damals wurde die interessante öffentliche Debatte sehr schnell von oben abgewürgt.“8 Für ihn ist die mangelhafte Diskussionskultur „die vielleicht zentrale Ursache, warum es nicht vorangeht“. Und er warnt: „Die Geschichte zeigt doch, dass es nicht funktioniert, wenn man nur Befehle von oben ausführen darf. Sollte sich Chávez zu einer weiteren Radikalisierung entschließen, könnte das sehr gefährlich werden. Dann würden alle Erfolge der letzten Jahre aufs Spiel gesetzt.“

Fußnoten: 1 El Universal (Online), 21. August 2010, www.eluniversal.com/2010/08/21/pol_ava_chavez-ordena-demole_21A4366451.shtml. 2 Siehe Marc Weisbrot, „Venezuelas verlorene Jahre“, Le Monde diplomatique, April 2010. 3 Zusammen mit ihrem Mann hat sie die Sackgasse des Erdölsozialismus beschrieben: Margarita López Maya und Luis E. Lander, „Responses of Venezuela’s rentier socialism to the recent decline of international oil prices“, Birgit Daiber (Hg.), „The Left in Government. Latin America and Europe Compared“, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Brüssel 2010, S. 211–240, rosalux-europa.info/userfiles/file/theleftingovernment_web.pdf . Zur Rolle des Erdöls im 20. Jahrhundert: Fernando Coronil, „The Magical State: Nature, Money, and Modernity in Venezuela“, Chicago (University Press) 1997. 4 Steve Ellner, „Chávez Pushes the Limits: Radicalization and Discontent in Venezuela“, Nacla Report on the Americas, Juli/August 2010, https://nacla.org/node/6633. 5 impresodigital.el-nacional.com/ediciones/2010/08/13/PV/tapa.pdf. 6 Margarita López Maya, „Zum Referendum von Venezuela“, Le Monde diplomatique, Dezember 2007. 7 Maurice Lemoine, „La Police nationale bolivarienne relève le défi“, Le Monde diplomatique (französische Ausgabe), August 2010, www.monde-diplomatique.fr/2010/08/LEMOINE/19524. 8 Selbst innerhalb der PSUV sind diese Prozesse äußerst schwierig. Siehe Eric Toussaint, „Bolivarian Venezuela at a Crossroads, Part 2: Debate and Contradiction in the PSUV“, Juni 2010, venezuelanalysis.com/analysis/5492.

Gerhard Dilger ist Südamerikakorrespondent von taz, WOZ und anderen deutschsprachigen Medien. Er lebt im südbrasilianischen Porto Alegre. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.09.2010, von Gerhard Dilger