08.10.2010

Gesucht: Taliban für den Frieden

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Gesucht: Taliban für den Frieden

von Jonathan Steele

Es ist lange her, dass man die Straße von Kabul nach Kandahar Eisenhower Highway nannte. Gebaut wurde die gut 500 Kilometer lange Teerpiste in den 1950er Jahren, als die USA und die Sowjetunion sich einen friedlichen Wettstreit um Afghanistan lieferten.

Danach verkehrten auf dieser Straße zwanzig Jahre lang unbehelligt Lastwagen und die bunt bemalten Busse bekiffter Hippies auf Asientour. Niemand musste um seine Sicherheit besorgt sein. Bis der Bürgerkrieg kam und 1979 die sowjetischen Truppen einmarschierten. Zu jener Zeit war die Straße eine Todesfalle. Es gab häufig Überfälle und Angriffe aus dem Hinterhalt. Das änderte sich erst, als die siegreichen Taliban im September 1996 in Kabul einzogen.

Als ich damals ein paar Wochen später diese Piste entlangfuhr, hatte ich nichts mehr zu fürchten, außer entsetzlichen Strapazen. Jahrelang war die Straße nicht ausgebessert worden. Sie war nur noch eine Ruine. Über lange Strecken wurde unser Pick-up auf der wellblechartigen Piste derart durchgerüttelt, dass die Fahrt selbst bei einem Tempo von fünf Stundenkilometern zur Tortur wurde. Statt sechs Stunden wie früher brauchten wir bis Kandahar 23 Stunden.

Ich wollte mit einem Kollegen von der New York Times das Herzland der Taliban erkunden. In Kabul hatten wir erlebt, wie übereifrige jugendliche Taliban-Kämpfer sich benahmen, als wären sie per Fallschirm in Gomorrha gelandet. Sie stoppten Autos und rissen die Musikkassetten aus den Stereoanlagen, sie durchkämmten die Krankenhäuser, schickten die behandelnden Ärztinnen nach Hause und befahlen den Männern, sich einen Bart wachsen zu lassen. Ihre ideologischen Führer saßen in Kandahar. Im „Verbindungsbüro“ der Taliban, wo wir um ein Interview baten, fragten wir einen ihrer Vertreter, wie es um ihre Finanzen steht und nach welchen Kriterien sie ihre Gelder ausgeben. Er sah uns verständnislos an. Es war offensichtlich, dass die Taliban nichts hatten, was auch nur entfernt einer regulären Verwaltung geschweige denn einem effektiven öffentlichen Dienst geähnelt hätte. Wir fragten, welche Rolle die Regierung bei der Verwendung der Hilfsgüter spiele, die damals noch immer von den UN und einigen westlichen NGOs geliefert wurden. Jetzt verstand der Mann und antwortete sichtlich erleichtert: „Wir suchen die Projekte aus, wir helfen ihnen, uns zu helfen“ – als würden die Taliban den Ausländern damit einen großen Gefallen tun.

Mullah Mohammad Hassan Rahmani, der Gouverneur von Kandahar und ein Mitstreiter des Taliban-Führers Mullah Omar, empfing uns bereitwillig und zuvorkommend zu einem zweistündigen Gespräch in seinem Büro. Mit erkennbar geübtem Schwung platzierte er die Metallkufe seiner Beinprothese auf einem kleinen Beistelltisch. Offenkundig wollte er uns dazu ermuntern, dass wir uns nach seinem Beitrag zum afghanischen Dschihad erkundigten. Das taten wir dann auch, und er erzählte sogleich, dass er sein rechtes Knie im Krieg gegen die Russen verloren hatte. Dann sprach er erstaunlich unbefangen über Mullah Omar, den er mehr als politischen Führer denn als Quelle religiöser Weisheit beschrieb. „Mit seinem religiösen Wissen ist es nicht so weit her. Dafür blieb ihm einfach keine Zeit, er war doch jahrelang in die Kämpfe verwickelt. Viele Gelehrte sind ihm an Wissen überlegen.“

Unter der Taliban-Herrschaft war Fernsehen verboten, und Mullah Rahmani erklärte uns auch warum: „Der Prophet hat die Verehrung von Statuen verboten, und Fernsehen ist so, als wenn man eine Statue ansieht. Auch das Herstellen und Angucken von Bildern ist eine Sünde.“ Ebenfalls verboten seien große Hochzeiten mit Musik und Tanz, wo Männer und Frauen zusammen feiern. Erlaubt sei dagegen der Schulbesuch von Mädchen, allerdings in separaten Gebäuden. Die Taliban hätten in den zwei Jahren, die sie in Kandahar an der Macht waren, nicht genug Geld gehabt, um neue Schulen zu bauen. Nach dem Krieg werde man den Frauen gestatten, auch außer Haus zu arbeiten.

Steinigung als Strafe für Ehebrecher fand Rahmani in Ordnung und beschrieb ausführlich, wie der Mann in einen Sack gesteckt wird, während die Frau, eingehüllt in die Burka, bis zur Hüfte in einer Grube stehe; dann werde die Menge auf sie losgelassen. Diese Art von Bestrafung wirke abschreckend, meinte der Gouverneur, tatsächlich habe es in Kandahar in den vergangenen beiden Jahren nur zwei oder drei Fälle gegeben, er selbst war „zu beschäftigt, um hinzugehen“. Ob die Taliban die Absicht hätten, ihre Lehren auch jenseits der afghanischen Grenzen zu verbreiten? Solche Behauptungen, beteuerte Hassan Rahmani, seien nichts als „feindliche Propaganda“. Afghanistan wünsche gute Beziehungen zu allen, man wolle sich nicht in die Angelegenheiten anderer Länder einmischen.

Seit dieser Begegnung mit den Taliban sind 14 Jahre vergangen, und seitdem hat keiner ihrer wichtigen Führer mehr ein solches Interview gewährt. Zwischen 1996 und dem Fall des Taliban-Regimes 2001 erhielten nur wenige Journalisten ein Visum für Afghanistan. Und keiner der führenden Mullahs hat sich seit Beginn des neuen Aufstands gegen die westliche Intervention auf ein Gespräch mit Journalisten eingelassen.

Etwa 30 „ausgesöhnte“ Taliban-Kämpfer leben heute in Gästehäusern der Regierung in Kabul, darunter auch ehemalige Taliban-Führer. Einige von ihnen waren nach dem Fall des Regimes von US-Truppen festgenommen und nach Guantánamo gebracht, dann aber aufgrund einer Amnestie freigelassen und nach Afghanistan zurückgeschickt worden. Andere waren so unbedeutend, dass man sie erst gar nicht eingesperrt hatte. Diese Leute sprechen mit Medienvertretern, und Präsident Hamid Karsai hofft, dass sie als Mittler dienen können. Aber nach 2001 waren sie alle nicht mehr aktiv an dem Aufstand beteiligt, und niemand weiß genau, ob sie überhaupt noch Kontakte zur heutigen Taliban-Führung haben (von Einfluss ganz zu schweigen).

Damit sind die Afghanen, auf die es ankommt, von der Bildfläche verschwunden. Und das ausgerechnet in dem Moment, da Präsident Obama seinen Krieg in einem an Vietnam erinnernden Sumpf versinken sieht und der Druck auf die USA und ihre Verbündeten zunimmt, eine politische Lösung zu finden, die inzwischen als das günstigste Ausstiegsszenario gilt. Mullah Hassan Rahmani ist abgetaucht, seit Kandahar 2001 von den Koalitionstruppen eingenommen wurde. Wo er sich derzeit aufhält, ist unbekannt; dasselbe gilt für Mullah Omar. Gerüchte besagen, dass er nahe der pakistanischen Stadt Quetta lebt, aber seit 2001 konnten weder Diplomaten noch Politiker noch Journalisten mit ihm sprechen. Gelegentliche Stellungnahmen auf der Website der Taliban sind die einzigen Lebenszeichen.

Also gibt es derzeit keine Antworten auf die entscheidenden Fragen: Haben sich die Taliban in den zehn Jahren seit dem Verlust ihrer Regierungsmacht verändert? Gibt es überhaupt so etwas wie Neo-Taliban, wie manche sagen? Und wie verhält es sich mit der jüngeren Generation der örtlichen Kommandeure, die heute an der Spitze des Widerstands gegen die westlichen Truppen stehen? Haben diese Leute regelmäßigen Kontakt zu Mullah Omar und ist er ihr Oberbefehlshaber, der die militärischen wie die politischen Ziele bestimmt? Und die wichtigste Frage: Gibt es überhaupt Spielraum für einen Kompromiss zwischen den Taliban, Präsident Karsai und den tadschikischen und usbekischen Warlords in seinem Umfeld – und damit eine realistische Überlebenschance für eine auf Machtteilung basierende Koalition in Kabul, falls sich die USA in den nächsten Jahren zurückziehen sollten?

Anzeichen dafür, dass die Taliban sich seit 2001 gewandelt haben, lassen sich in einer Aufsatzsammlung von Antonio Giustozzi finden, der am Krisenforschungszentrum der London School of Economics (LSE) arbeitet.1 Zum Beispiel vertreiben heute dieselben Leute, die früher das Fernsehen ablehnten, Propaganda-DVDs und produzieren Websites mit Nachrichten, Kommentaren und Fotostrecken.

In Helmand dürfen wieder Drachen steigen

Noch wichtiger sind die Veränderungen im sozialen Bereich. Giustozzi zufolge ist den Taliban klar geworden, dass sie mit ihren früheren Auffassungen über das Erziehungswesen viele Leute abgeschreckt haben, weshalb sie diese Position jetzt korrigieren. So berichtet Tom Coghlan aus Lashkar Gah, dass die Taliban in der Hauptstadt der südlichen Provinz Helmand ihren Verhaltenskodex „entschieden weniger repressiv“ interpretieren: Das Verbot von Fernsehen, Musik, Hundekämpfen und Drachensteigenlassen ist aufgehoben, ebenso die Vorschrift, wonach die Bärte so lang sein müssen, dass die Männer sie in der Faust halten können.2

Einige Beobachter glauben, die Luftschläge der USA hätten so viele Taliban-Führer getötet, dass der Krieg jetzt von einer neuen Generation der Zwanzig- und Dreißigjährigen geführt werde. Ihnen würden die militärischen Erfahrungen fehlen, die die Taliban-Generation von Mullah Omar – wie auch die Warlords der Nordallianz – im Krieg gegen die sowjetische Armee gemacht hatten. Unklar ist allerdings, ob das bedeutet, dass die neue Generation radikaler ist als ihre Vorgänger. Coghlan zitiert, was ihm ein Geistlicher der Taliban aus der Provinz Helmand im März 2008 gesagt hat: „Diese neuen verrückten Kerle sind wirklich sehr emotional. Sie sind süchtig nach Krieg.“

Neuere Umfragen zeigen, dass die meisten Afghanen dafür sind, mit den Taliban zu verhandeln, weil sie die Unsicherheit, die das ganze Land erfasst hat, nicht mehr aushalten. Nach einer Erhebung des International Council on Security and Development vom Mai 2010 sprachen sich in den Provinzen Helmand und Kandahar 74 Prozent der 423 befragten Männer für Verhandlungen aus. Ich selbst habe im März dieses Jahres in Kabul mehrere freiberuflich tätige Frauen interviewt. Obwohl diese Gruppe am meisten unter den Restriktionen leiden musste, die das Taliban-Regime für den Schulbesuch von Mädchen und die Berufstätigkeit von Frauen verordnet hatte, befürworteten alle einen Dialog mit den Taliban. Auch für sie ist das Allerwichtigste, einen Zustand zu beenden, den sie als Bürgerkrieg bezeichnen würden – und nicht als einen Aufstand, wie die Nato meint.

Diese Frauen sehen in den Taliban eine authentische nationalistische Bewegung mit legitimen Anliegen, der man eine Rolle im politischen Kräftespiel zugestehen müsse. Tue man das nicht, würde die Bevölkerung sowohl von den USA als auch der al-Qaida weiterhin instrumentalisiert werden. Deshalb sei es an der Zeit, sich von den einander bekämpfenden ausländischen Machtgruppen – den globalen Dschihadisten und dem US-Imperium – zu befreien.

Die Parlamentsabgeordnete Shukria Baraksai, die sich seit langem für die Rechte der Frauen engagiert, erläutert ihre Position so: „Vor drei Jahren habe ich meine Meinung geändert, als mir klar wurde, dass Afghanistan auf sich allein gestellt ist. Ich sage nicht, dass die internationale Gemeinschaft uns nicht unterstützt. Aber sie versteht uns einfach nicht. Die Taliban sind Teil unserer Bevölkerung. Sie haben andere Vorstellungen, aber als Demokraten haben wir das zu akzeptieren.“

Seit meinem letzten Besuch in Kabul vor drei Jahren hat sich die öffentliche Stimmung in Afghanistan dramatisch verändert. 2007 hatte das Comeback der Taliban gerade erst begonnen; damals ging es für die Alliierten vor allem darum, militärisch zu siegen. Der Wandel hat mehrere Ursachen: die wachsende Enttäuschung darüber, dass die vielen Milliarden Dollar an westlicher Hilfe offenbar nichts bewirkt haben, außer die Bankkonten ausländischer Berater und einheimischer Politiker aufzufüllen; die Verbitterung darüber, dass immer wieder – und häufig durch US-amerikanische Luftangriffe – Zivilisten verletzt oder getötet werden; das Gefühl der Erniedrigung und die Wut über das selbstherrliche Benehmen der ausländischen Truppen; und schließlich der Wunsch, einen nationalen Konsens und damit eine „afghanische Lösung“ des Problems zu finden. Die jüngsten verbalen Attacken von Präsident Karsai gegen die Amerikaner und andere Ausländer drückt also eine weit verbreitete Stimmung aus.

Die geheimen Dokumente über den Krieg, die Wikileaks im Juli ins Netz gestellt hat und die von drei renommierten Zeitungen aufgearbeitet wurden3 , machen zweierlei deutlich: Die prekäre Sicherheitslage hat sich verschlimmert und die Zahl der zivilen Opfer ist gestiegen. Nach einem UN-Bericht vom August hat sich die Anzahl der getöteten Zivilisten im ersten Halbjahr 2010 um fast ein Drittel erhöht – auch aufgrund von Mordanschlägen der Taliban, denen immer mehr Lehrer, Ärzte und der „Kollaboration“ verdächtigte Stammesführer zum Opfer fallen.

Die von Wikileaks veröffentlichen Dokumente beleuchten auch die Rolle des pakistanischen Geheimdienstes ISI (Inter-Services Intelligence), der die Taliban zu Beginn der 1990er Jahre finanziell unterstützt und seit 2001 viele ihrer Führer versteckt und abgeschirmt hat. Obwohl ein Großteil der Geheimdienstberichte auf fadenscheinigen Begründungen oder Vorurteilen basiert, steht die Unterstützung der Taliban durch den ISI außer Zweifel.

Wenn man mit Afghanen spricht, spürt man auch eine wachsende Verärgerung über Pakistan. Viele haben das Gefühl, dass das Nachbarland in dem Krieg ein Mittel sieht, um Afghanistan zu zersplittern und damit schwach zu halten. Der pakistanische Einfluss auf die Taliban gilt als unheilvoll, wobei die Meinungen darüber auseinander gehen, ob die Taliban Marionetten, willfährige Agenten oder Opfer sind. Viele afghanische Paschtunen sind der Auffassung, dass die nordwestlichen Territorien Pakistans, einschließlich der Stadt Peschawar, im Grunde paschtunisch seien. Von Kabul wurde die Durand-Linie, die 1893 als Grenze zwischen dem Britischen Empire und Afghanistan gezogen wurde, auch niemals offiziell anerkannt (siehe die Analyse von Georges Lefeuvre, S. 14/15). Und die Paschtunen unterstellen Pakistan, dass es nur deshalb die Gruppen kontrollieren will, die in Kabul an die Macht streben, damit das Thema Paschtunien nicht auf die Tagesordnung kommt.

Der einzige detaillierte Insiderbericht über die Taliban stammt von Abdul Salam Saif.4 Der Autor war früher als Botschafter der Bewegung in Pakistan, aber er spricht weder für Mullah Omar noch für die Quetta Shura, den Führungszirkel der afghanischen Taliban. Aus seinen Memoiren erfährt man, dass sich die führenden Taliban eher als Nationalisten, Reformer und Befreier denn als islamistische Ideologen sehen. Das passt zu dem, was mir Mullah Hassan Rahmani 1996 über Mullah Omar erzählt hat.

Auch bei Saif spürt man, dass er Pakistan und insbesondere den ISI zutiefst verachtet, etwa wenn er ausführlich schildert, wie er sich als Taliban-Vertreter in Islamabad der Angebote durch die Geheimdienstleute erwehren musste, denen er nur hinterhältige Motive unterstellt. Die Wut auf Pakistan rührt zum Teil aus Saifs Kindheit. Damals lebte er in einem Flüchtlingslager bei Peschawar, wo die Afghanen wie Bürger zweiter Klasse behandelt und von der Polizei schikaniert wurden. Aber die Wut hat auch mit der Rolle Pakistans im „Krieg gegen den Terror“ zu tun, die er für ebenso übel hält wie die der USA, denen er Folterpraktiken und die willkürliche Inhaftierung mutmaßlicher Terroristen vorwirft.

2001 wurde Saif nach dem Zusammenbruch des Taliban-Regimes festgenommen und nach Guantánamo verbracht, nachdem ihn die US-Armee in Kandahar und Bagram festgehalten hatte, davon zwanzig Tage lang in Einzelhaft und an Armen und Beinen gefesselt. Er berichtet davon, wie er in Kandahar ausgezogen und von männlichen wie weiblichen US-Soldaten gedemütigt und dabei auch fotografiert wurde (und das war lange vor Abu Ghraib).

Nach drei Jahren Guantánamo bot man ihm die Freilassung an. Bedingung: Er sollte unterschreiben, dass er al-Qaida und den Taliban angehört hatte und in Zukunft alle Verbindungen zu ihnen abbrechen werde. Seine Antwort lautete: „Ich war ein Talib, ich bin ein Talib und werde immer ein Talib sein, aber niemals habe ich al-Qaida angehört.“ Am Ende ließ man ihn laufen, nachdem er folgende Erklärung unterzeichnet hatte: „Hiermit bestätige ich, dass ich nicht an antiamerikanischen Aktivitäten oder militärischen Aktionen jedweder Art teilnehmen werde.“

In seinem Buch versichert Saif, dass er keine vorherige Kenntnis vom Attentat der al-Qaida am 11. September 2001 hatte. Das Ereignis sei für ihn ein Schock gewesen; er habe geweint, als er im Fernsehen die Bilder von den brennenden Gebäuden sah, die Menschen, die sich aus dem Fenster stürzten und wie Steine auf dem Boden aufschlugen. Aber sofort waren ihm auch die Folgen klar: „Ich wusste, dass am Ende Afghanistan und seine in Armut gefangene Bevölkerung für das büßen mussten, was gerade in Amerika geschehen war. Die USA würden sich rächen.“

Am 11. November bekam Saif einen Anruf von Mullah Omar, der mit ihm beratschlagen wollte, wie man reagieren solle. Tags darauf hielt Saif in Islamabad eine Pressekonferenz ab, auf der er die Attentate verurteilte. In der von ihm verlesenen Erklärung hieß es: „Alle Verantwortlichen müssen juristisch verfolgt werden. Wir wollen, dass sie vor Gericht gestellt werden, und wünschen uns, dass sich Amerika geduldig und besonnen verhält.“

Die Rolle Pakistans ist entscheidend

Zurück in Kandahar, hatte Saif ein Gespräch mit Mullah Omar, der sich absolut sicher war, dass die USA nicht angreifen würden. Saif war anderer Meinung. Er sagte dem Taliban-Führer, Pakistan dränge die USA zu Luftschlägen gegen Afghanistan und habe bereits Gespräche mit der Nordallianz aufgenommen, von der man in Islamabad annehme, sie werde in der Nach-Taliban-Ära eine führende Rolle in der Regierung übernehmen. Doch Omar ließ sich nicht überzeugen und sagte, die Taliban würden nichts unternehmen, solange ihnen Washington keine harten Beweise gegen Bin Laden liefern könne.

Diese Darstellung klingt plausibel, denn die Taliban trafen tatsächlich keinerlei Vorbereitungen für einen Krieg. Saif bezeugt jedoch auch, dass Mullah Omar damals jeden Bezug zur Realität verloren hatte. Schon die Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamijan im März 2001 hatte gezeigt, dass er sich in keiner Weise bewusst war, wie die Taliban vom Rest der Welt wahrgenommen wurden.

Über die heutigen politischen Positionen der Taliban wissen wir so gut wie nichts. Andererseits ist klar, dass die USA zu Gesprächen noch nicht bereit sind. Es gibt zwar Anzeichen dafür, dass David Petraeus, der neue Kommandeur der US-Truppen in Afghanistan, die Situation realistischer sieht als sein Vorgänger Stanley McChrystal, aber beide Generäle waren entschieden für den „surge“, die massive Verstärkung ihrer Truppen. Und das Image, das Petraeus mit dem Erfolg seiner Surge-Strategie im Irak erworben hat, könnte ihn noch stärker auf dieses Konzept verpflichten als McChrystal. Petraeus gilt in Washington als Mann des CIA und ist über die Rivalitäten zwischen den US-Geheimdiensten bestens informiert. Und natürlich weiß er auch, dass im Weißen Haus noch die Meinung vorherrscht, man müsse die Taliban erst einmal militärisch schwächen, bevor man an Verhandlungen denken kann. An diese Linie wird sich Petraeus halten.

Politisch setzt Washington auf das langfristige Konzept von „Versöhnung und Reintegration“. Im Klartext heißt dies: Amnestie nach vorheriger Kapitulation. Die Kommandeure und Kämpfer der Taliban sollen sich von der Gewalt lossagen und die Verfassung unterzeichnen, als Gegenleistung könnte man ihnen einen einmaligen Geldbetrag und vielleicht einen Job bieten. Für die einflussreichen Kräfte ist das aber kein besonders verlockendes Angebot. Schon 2005 hatte man eine Amnestie in Aussicht gestellt, auf die damals kein höherer Kommandeur eingegangen ist. Von den 142 Taliban-Anführern, die auf der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrats stehen, gaben nur 12 auf, und von denen hatte kein Einziger an dem Aufstand nach 2001 teilgenommen.

Die US-Truppen haben es mit verschiedenen lokalen Taliban-Kommandeuren zu tun und speziell im Südosten mit zwei vollkommen eigenständigen Gruppen: mit der Hisb-i-Islami (Islamische Partei) und dessen Gründer Gulbuddin Hekmatjar, und mit dem sogenannten Haqqani-Netzwerk.5 Diese Organisationen repräsentieren unterschiedliche regionale und Stammesgruppen, aber man muss schon viel Fantasie aufbringen, um sich vorzustellen, dass eine von ihnen an der Seite der Amerikaner gegen die andere Gruppe kämpfen würde. Bei früheren Versuchen, lokale Milizen zu gründen, waren die Erfolge jedenfalls höchst bescheiden.

Aussichtsreicher könnte es sein, auf lokaler Ebene einen Waffenstillstand anzubieten. Die gegnerischen Gruppen würden ihre Waffen behalten, dürften sie aber nicht mehr einsetzen, es sei denn gegen Eindringlinge von außen. Diese Taktik haben die Briten 2006 im Norden der Provinz Helmand erprobt. Damals brachten sie den Ältestenrat der Stadt Musa Qala dazu, die Taliban aufzufordern, bei einem Rückzug der Briten nicht in die Stadt einzurücken. Die Amerikaner hielten das für keine gute Idee, genauso wie General David Richards, der damals Kommandeur der internationalen Isaf-Truppen war und kurz darauf zum britischen Oberbefehlshaber aufrückte. Der Waffenstillstand ging dann allerdings in die Brüche, als der Bruder eines lokalen Taliban-Kommandeurs knapp außerhalb der entmilitarisierten Zone durch einen US-Luftangriff getötet wurde. Wenn das ein Versuch sein sollte, das Abkommen zu torpedieren, so war er erfolgreich.

Mit ihrem „Versöhnungs“-Konzept erkennt Washington immerhin zum ersten Mal an, dass die meisten Taliban-Kämpfer verständliche Motive haben, also keine Ideologen oder al-Qaida-artigen Islamisten sind, die einen weltweiten Glaubenskrieg anzetteln wollen. Der Versuch, einen durch lokale Stammesälteste vermittelten Dialog mit den Taliban einzuleiten, könnte unter der Voraussetzung Erfolg haben, dass man sich bemüht, deren langfristige Ziele zu verstehen, die über die Forderung nach Rückzug der westlichen Truppen aus ihren Gebieten – und letztlich aus ganz Afghanistan – hinausgehen.

Dies setzt voraus, dass es auf nationaler Ebene zu Gesprächen zwischen Karsai und Mullah Omar kommt.6 Ganz entscheidend ist dabei die Rolle Pakistans. Idealerweise müsste Pakistan an einem regionalen Forum der „Freunde Afghanistans“ beteiligt werden, dem auch der Iran, Indien, China, Turkmenistan, Tadschikistan, Usbekistan und Russland angehören. Diese Länder müssten sich verpflichten, Afghanistan als blockfreien Staat ohne ausländische Militärbasen anzuerkennen und sich nicht in seine inneren Angelegenheiten einzumischen.

Falls sich Pakistan in einem solchen Rahmen nicht ausreichend repräsentiert fühlt, könnte man auf das Modell der Genfer Verhandlungen zurückgreifen, die 1988 das Ende der sowjetische Okkupation besiegelt haben. Teilnehmer waren damals die Sowjetunion, die USA, Afghanistan und Pakistan; heute müssten es stattdessen die USA, Pakistan, die Regierung in Kabul und die Taliban sein. Am Ende müsste eine panafghanische Loja Dschirga stattfinden, also eine große Versammlung mit allen afghanischen Parteien: Regierung und Taliban, Hekmatjar und die beiden Haqqanis. Und natürlich müsste jede Änderung der Verfassung die Zustimmung der afghanischen Frauen- und Menschenrechtsgruppen finden.

Ist eine Lösung auf dieser Basis denkbar? Um einer Antwort auf diese Frage auch nur näher zu kommen, sind Sondierungsgespräche mit den Taliban unabdingbar. Im Lauf solcher Gespräche wird es zwangsläufig zu Missverständnissen und Unterbrechungen kommen, so läuft es eigentlich immer ab. Beim Nordirlandkonflikt zum Beispiel lagen zwischen den ersten Kontakten der konservativen britischen Regierung mit der IRA (Juni/Juli 1972) und dem Karfreitags-Abkommen von 1998 fast 26 Jahre. Und in Südafrika brauchten die Konfliktpartner, nachdem sie sich grundsätzlich über die Notwendigkeit einer Machtübergabe verständigt hatten, noch weitere vier Jahre, um sich auf ein detailliertes Abkommen zu einigen.

Wie würde ein Afghanistan nach dem Abzug der Amerikaner aussehen? Wahrscheinlich wäre es ein Staat mit einer schwachen Zentralregierung und relativ mächtigen halbautonomen Regionen (zumal Kabul noch nie ein starkes Machtzentrum war). Auch die nationale Armee dürfte in regionale Militäreinheiten aufgeteilt werden. Das heutige Offizierskorps ist nach wie vor von Tadschiken dominiert, mit denen die Taliban-Kommandeure schwerlich zusammenarbeiten werden.

Der längste Krieg Amerikas

Aber sind solche Überlegungen nicht verfrüht? Solange die Obama-Regierung sich nicht zu Verhandlungen durchringen kann, ist jeder Fortschritt blockiert. Als im März dieses Jahres der damalige britische Außenminister David Miliband Gespräche mit den Taliban vorschlug, wagte er nicht einmal, diese bei ihrem Namen zu nennen.7 Doch selbst auf diesen extrem vorsichtig formulierten Vorstoß reagierten Washingtons politische Entscheidungsträger negativ. Und die neue Londoner Regierung macht keine Anstalten, von dieser Linie abzuweichen.

Dennoch wird Obama irgendwann nicht umhin kommen, von seiner Politik der „Versöhnung“ zu einer Politik der „Verständigung“ überzugehen.8 Er wird also notgedrungen die Forderungen der Taliban berücksichtigen müssen, wenn es zu einer Kompromisslösung kommen soll, die für die Zeit nach dem Rückzug der USA eine Machtteilung in Form einer Koalitionsregierung in Kabul vorsehen müsste.

Auch die US-amerikanische Öffentlichkeit verzweifelt zusehends an diesem längsten Krieg, den das Land jemals geführt hat. Obama hat versprochen, seine Strategie im kommenden Dezember, ein Jahr nach der Ankündigung des afghanischen „surge“, erneut zu überprüfen. Das heißt, dass er kurz nach den Zwischenwahlen zum Kongress vor einer folgenreichen Alternative stehen wird: Soll er den Kampf um seine Wiederwahl im November 2012 als ein Präsident aufnehmen, der den endgültigen Abzug aus Afghanistan begonnen hat? Oder soll er die harte Linie durchziehen, obwohl ihm klar sein muss, dass jede Hoffnung auf eine militärische Niederlage der Taliban illusorisch ist?

Fußnoten: 1 Siehe den von Giustozzi herausgegebenen Band: „Decoding the New Taliban“, London (Hurst) 2009. 2 Coghlans Bericht erschien ebenfalls in dem von Giustozzi herausgegebenen Band (siehe Anmerkung 1). 3 Es handelt sich um New York Times, The Guardian und Der Spiegel, siehe: spiegel.de/thema/afghanistan_protokolle_2010. 4 Abdul Salam Saif, „My Life with the Taliban“, London (Hurst) 2010. 5 Benannt nach Vater und Sohn Haqqani; siehe dazu die Analyse auf den beiden nachstehenden Seiten sowie: Syed Saleem Shahzad, „Vom Aufstand zum Krieg“, Le Monde diplomatique, Oktober 2008. 6 Falls Omar nur mit den Amerikanern sprechen will, könnten im Rahmen der Verhandlungen auch Plenarsitzungen mit Karsai, den USA und den Taliban arrangiert werden, so dass die Taliban die anwesenden Amerikaner ansprechen könnten. 7 In seiner Rede vom 10. März 2010 im Massachusetts Institute of Technology sprach Miliband nur von „den Kräften, die unsere Truppen direkt oder indirekt angreifen“; web.mit.edu/newsoffice/2010/compton-miliband-0311.html. 8 Über angebliche Differenzen zwischen Obama und Petraeus siehe Robert Dreyfuss, „Woodward: Obama wants out of Afghanistan“, The Nation, 22. September 2010, unter: www.thenation.com/blogs/dreyfuss/?pid=339676.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Jonathan Steele war lange Zeit außenpolitischer Chefkorrespondent des Londoner Guardian und beschäftigt sich seit 1981 mit Afghanistan. Seine letzte Publikation: „Defeat: Why the Americans and British lost Iraq“, Berkeley, CA (Counterpoint) 2008.

© London Review of Books, für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin.

Le Monde diplomatique vom 08.10.2010, von Jonathan Steele