12.11.2010

Die Liebe der Linken zu Lateinamerika

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Die Liebe der Linken zu Lateinamerika

Vom Radical Chic des 19. Jahrhunderts bis zur Nicaragua-Solidarität von Tobias Rupprecht

Zahlreiche lateinamerikanische Staaten begehen 2010 den 200. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit. Politisch sagte sich die Neue Welt vor 200 Jahren von Europa los, ideell blieben beide aber immer eng verbunden. Die Eliten Lateinamerikas formten, regierten und reformierten ihre neu gegründeten Staaten nach europäischem Muster. Und Lateinamerika übte in diesen zwei Jahrhunderten immer wieder eine enorme Faszination auf die europäische Intelligenz aus. Die Begeisterung der hiesigen Linken für die sozialistischen Experimente in Kuba, Chile und Nicaragua war nur der offensichtlichste Höhepunkt einer langen Tradition, den Subkontinent zur Projektionsfläche europäischer Sehnsüchte, Fantasien und Frustrationen zu machen.

Linke Bewegungen romantisierten nicht nur lateinamerikanische Revolutionen. Sie übernahmen auch ideengeschichtlich und politisch zwiespältige europäische Vorstellungen einer vormodernen Idylle. Der deutsche Blick auf Lateinamerika hatte dabei stets seine Besonderheiten.

Es begann wie so oft mit einem Missverständnis: Als sich 1810 die ersten spanischen Kolonien vom spanischen Mutterland lossagten, war das zunächst ein konservativer Akt: Napoleon hatte Madrid eingenommen, seinen Bruder als König installiert und für die Kolonien ähnliche Reformen angestoßen wie im besetzten Europa. Die kreolischen Eliten sahen dadurch ihre Pfründen bedroht und wandten sich vom Mutterland ab. Aufklärerisch gesinnte Intellektuelle in Europa aber feierten die Befreiung Lateinamerikas vom spanischen Joch.

Unter vielen Liberalen hatte die ursprünglich protestantisch-britische leyenda negra Verbreitung gefunden: Die Spanier galten als besonders grausames und reaktionäres Volk, das spanische Königshaus verkörperte für die Aufklärer den Antirationalismus, den religiösen Fanatismus und das erstarrte alte politische System. Die lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen erschienen daher als Vorkämpfer gegen die alte Ordnung Europas.

Der Freiheitskämpfer Simón Bolívar, der ab Mitte der 1810er Jahre an die Spitze der Bewegung gelangte, steht für die Zweischneidigkeit dieser Bewunderung: Einerseits vertrat er im Gegensatz zur Mehrheit der kreolischen Eliten tatsächlich auch progressive, demokratische Ideale wie den Kampf gegen Sklaverei und grundlegende Sozialreformen. Aber er schuf mit seinen autokratischen Neigungen auch ein Herrschaftsmodell, auf das sich in der Folge zahlreiche linke Caudillos und populistische Präsidenten beriefen, die von der Revolution sprachen und die Diktatur meinten. Seine Haltung zu den indigenen Völkern und afrikanischstämmigen Sklaven war widersprüchlich und wahrte bei aller emanzipatorischen Rhetorik im Zweifelsfall die Interessen der neuen herrschenden Klasse, des kreolischen Besitzbürgertums. Letztlich änderte sich die Situation der Indigenen kaum, und die Sklaverei wurde trotz mehrerer Revolten erst in den 1850er Jahren, fast ein Vierteljahrhundert nach Bolívars Tod, in den meisten Ländern Südamerikas abgeschafft.

Französische und britische Freiwillige, die sich den Befreiungsheeren anschlossen, interessierten sich wenig für diese Widersprüche. Noch die bürgerlichen Revolutionäre von 1848 pflegten einen europaweiten radical chic, der den lateinamerikanischen Unabhängigkeitskampf bedingungslos glorifizierte. In den 1830er Jahren hatte Giuseppe Garibaldi mit französischen, baskischen und italienischen Freiwilligen auf der Seite der Liberalen in Bürgerkriegen in Brasilien und Uruguay gekämpft, bevor er Führer der nationalen italienischen Bewegung wurde. Viele weitere europäische 1848er bewunderten und unterstützten zumindest rhetorisch lateinamerikanische Radikale.1

In Deutschland hatte der Lateinamerika-Enthusiasmus der liberal-nationalen Bewegung im 19. Jahrhundert dabei allerdings seine eigenen Widersprüchlichkeiten: Auf der einen Seite begeisterten sich viele für den Freiheitskampf in Amerika, andererseits fabrizierten deutsche Schriftsteller gleichzeitig massenweise Romane, Lieder und Theaterstücke über fiktive deutsche Conquistadores und Zivilisatoren Lateinamerikas.2 Sie schufen somit einen literarischen Ersatz für die ersehnten, aber noch fehlenden realen deutschen Kolonien.

Die schönen Rebellen von Mexiko

Für die europäische Linke prägte aber weiter die Rebellion das Image Lateinamerikas. Auch wenn der Weltkrieg und die Oktoberrevolution im Nachhinein den historischen Blick verstellten: Die mexikanische Revolution ab 1910 faszinierte und bestärkte die gesamte europäische Avantgarde in ihrer Ablehnung des europäischen Status quo. Vor allem russische Künstler zogen Parallelen zu den Ereignissen in ihrem eigenen Land: Aus dem Pariser Exil unterzog Ilja Ehrenburg in seinem ersten Roman3 die Oktoberrevolution einer satirischen Analyse: Die titelgebende mexikanische Hauptfigur Julio Jurenito überprüft die die russische Revolution auf ihre Tragweite und spart nicht mit Kritik an blutigen Exzessen. Der kommunistische Avantgarde-Dichter Wladimir Majakowski reiste Anfang der 1920er Jahre über Spanien und Kuba nach Mexiko. In zahlreichen Gedichten und einem Reisetagebuch verarbeitete er begeistert seine Entdeckung Amerikas. Und Sergei Eisenstein kam nach Lateinamerika, um sein pathetisches Revolutionsepos „¡Que viva México!“ zu drehen, das die Überwindung der jahrhundertelangen Ausbeutung des Volkes durch die Revolution feierte.

Mit der Mexikanischen Revolution war der Mythos von Lateinamerika als Ort der romantischen Rebellion nun tief verwurzelt. Neben dem aufsässig-rebellischen, fortschrittlichen, demokratischen Bild sahen viele Europäer der Jahrhundertwende aber auch dessen genaues Gegenteil in der Neuen Welt. Im kriselnden Europa am Vorabend des Weltkriegs machte sich zunehmend ein Unbehagen an der Moderne breit. Spanien war vielen schon im 19. Jahrhundert auch als ein mythischer, antirationaler und im positiven Sinne vormoderner Ort erschienen, ähnlich dem zeitgenössischen Orient. Spätromantische Schriftsteller von Théophile Gautier in Frankreich bis Wassili Botkin in Russland schwärmten für Andalusien; dessen „exotische-leidenschaftliche Kultur“ war für Gautier eine „Offenbarung, die Entdeckung meiner wahren Heimat“. In der Musik trugen Georges Bizets „Carmen“ und Nikolai Rimski-Korsakow mit seinem „Capriccio Espagnol“ zu einem verklärend-exotisierenden Bild Spaniens bei. Diese Wahrnehmung erstreckte sich um 1900 auch auf die gesamte hispanische Welt. Viele sahen das moderne Europa am Abgrund und Lateinamerika als Hoffnung für einen Neubeginn.

Im Kaiserreich entdeckten völkische Gruppierungen deutsche Auswanderer, die lange ohne offizielle Kontakte zu ihrem Heimatland gewesen waren. „Hier degeneriert der Deutsche nicht!“, stellten sie in den deutschen Siedlungen in Südbrasilien erfreut fest. Soziale Schichten, regionale Unterschiede, Dekadenz, all die gefühlten Übel des modernen Kaiserreichs schien es hier nicht zu geben; alle waren gleich, frei und deutsch. Man pflegte eine Nostalgie einer vormodernen, vorindustriellen Volksgemeinschaft.4 Mit Reiseberichten suchten Autoren die nun nicht mehr „Auswanderer“, sondern „Auslandsdeutsche“ genannten Kolonisten enger ans Deutsche Reich zu binden. Es galt deren Identität zu wahren und der Welt kundzutun, wie tüchtig Deutsche dort arbeiteten.

In ihrer Ablehnung der industriellen Verhältnisse in Europa sahen der antimoderne Flügel der völkischen Bewegung und besonders die Lebensreformbewegung voller Bewunderung auf das vermeintlich freiere Leben und die überbordende Natur Lateinamerikas. Vegetarierkolonien entstanden in Brasilien, auch der junge Hermann Hesse spielte lange mit dem Gedanken, sich einer anzuschließen. Der Maler und Schriftsteller Max Dauthendey gründete 1897 eine Künstlerkolonie in Mexiko, deren Scheitern er in seinem Roman „Die Raubmenschen“ verarbeitete.

Auf der einen Seite blickten linke europäische Intellektuelle in der Zwischenkriegszeit hoffnungsfroh auf die Spanische Republik; später sollten sie viele ihren lateinamerikanischen Kollegen in den Internationalen Brigaden im Bürgerkrieg begegnen. Zur gleichen Zeit schrieben streng konservative deutsche Autoren, mit zum Teil deutlich rassistischen Anleihen, ihren völkischen Hispano-Exotismus fort. Eduard Stuckens vierbändiger Roman „Die weißen Götter“ entstand kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Vom Untergang des Aztekenreichs zog er eine Parallele zur befürchteten kulturellen Vernichtung des besiegten deutschen Volkes.

Kasimir Edschmids Romane aus Lateinamerika5 übernahmen einerseits den gängigen Topos vom Zivilisationsgefälle, Europa sei „voll Gesetz, voll Sinn und voll Vernünftigkeit“, die Lateinamerikaner bringen dagegen „keine Dauer in diesen Kontinent. Sie gaben sich alle Mühe zu ordnen, zu gliedern, aufzubauen und zu gestalten – aber sie mussten schließlich alles wieder zerschlagen.“ Bei überbordendem Rassismus (Indios sind „wie nigger-boys“) und sexuellen Stereotypen sind Edschmids Schilderungen gleichzeitig voller Bewunderung für das „wilde Treiben“ und die häufigen Revolutionen („wie ein leidenschaftlicher Sport“). Es braucht immer nur einen anständigen Deutschen (das sind meist preußische Militärs, die in dortigen Armeen als illegale Berater tätig sind), um ein bisschen Disziplin in den Laden zu bringen.

Die Nazis hatten dann bekanntermaßen auch keine größeren Probleme, mit den nach ihren Kategorien „völlig durchrassten“ lateinamerikanischen Ländern geopolitisch zu paktieren – und nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg dort Unterschlupf zu suchen. Die Kontakte zu den Diktatoren hatte während des Dritten Reiches unter anderem das Iberoamerikanische Institut in Berlin vermittelt.

Die gewöhnlichen Deutschen schwelgten nach den harten Nachkriegsjahren in den heilen Gegenwelten populärer Unterhaltung. Neben dem Traum vom Italienurlaub war nun wieder Lateinamerika, anknüpfend an die vorherige Verklärung als vormoderner Idylle, Fluchtpunkt für exotische Sehnsüchte. Caterina Valente sang mit Silvio Francesco unter dem Namen Club Argentina über „Die Herren Mexikaner“ und „Die Damenwelt in Chile“. Sie brachte den kubanischen Schlager „Quizás, quizás, quizás“ zum deutschen Publikum, tanzte den „Popocatepetl-Twist“ („bei dem Pepito alle Mädchen küsst“), und den „Madison in Mexico“, feierte gerade noch vor der Revolution eine „Fiesta Cubana“, auf der sie herzerweichend bat: „Spiel noch einmal für mich, Habanero“.

Bis in die 1970er Jahre und darüber hinaus, immer wieder aufgewärmt, gehörten „Sierra Madre del Sur“, „Fiesta Mexicana“ und „Der Puppenspieler von Mexiko“ ins Standardrepertoire des deutschsprachigen Schlagersängers. Szenestar Heino wirkte kräftig mit an der völligen Verkitschung eines Kontinents: „Die Sonne von Mexico“ und der „Carneval in Rio“ waren von Revolution und Unabhängigkeitskampf so weit weg wie Düsseldorf-Oberbilk von Santiago de Chile. Und auch im westdeutschen Film der 1950er Jahre (etwa in Curt Goetz’ „Das Haus in Montevideo“) sorgte der Topos Lateinamerika für eine maßvolle Dosis Frivolität und Exotik im Hintergrund biederer Geschichten.

Che Guevara, der Jesus mit der Knarre

Während des Kalten Krieges tauchte Lateinamerika in der deutschsprachigen Literatur wie im Autorenkino immer dann als Ort der Handlung auf, wenn Grenzen von Rationalität und Zivilisation verhandelt wurden. In Werner Herzogs „Fitzcarraldo“ bringt der europäische Industrielle Brian Fitzgerald unter wahnwitzigen Anstrengungen, aber immerhin noch erfolgreich, westliche Hochkultur in Form eines Opernhauses in die Tiefe des peruanischen Urwalds.

Kolonialfantasien aber hatten nun endgültig ausgedient: Der deutsche Plantagenbesitzer in Max Frischs „Homo faber“ aus den späten 1950er Jahren erhängt sich auf seinem Anwesen in Guatemala. Faber selbst, der hyperrationale, technikgläubige Entwicklungshelfer der Unesco, stürzt mit dem Flugzeug über Mexiko ab und verliert sich und seinen Glauben in der Schwüle Mittelamerikas, in der „Hitze mit schleimiger Sonne und klebriger Luft, [im] Gestank von Schlamm, der an der Sonne verwest“. Die Triebe, die Unvernunft, das Animalische setzen sich durch („Wo man hinspuckt, keimt es!“).

Lateinamerika blieb der schon traditionelle Gegenentwurf zum rationalen Westeuropa, das sich aber nun nicht mehr durchsetzt, das stecken bleibt und eingeholt wird. Jahre später in Uwe Timms „Schlangenbaum“ treibt die Flucht aus dem Arrivierten, Spießigen, geordnet Langweiligen den deutschen Ingenieur Wagner in den Dschungel Südamerikas. Er stürzt sich in eine Welt, die wie die des Homo Faber von Zufall und Irrationalität geprägt und voller Todesmotive, undurchdringlicher Natur und penetranter Körperlichkeit ist. Der stets frisch rasierte europäische Techniker scheitert mit seiner Ratio am lateinamerikanischen Schicksal.

Gerade hier bündeln sich die verschiedenen ideengeschichtlichen Traditionen: Timms Lateinamerikabild war, laut eigener Aussage, geprägt von den Trivialromanen seiner Kindheit, einer Gegenwelt zu seinem autoritären Umfeld. „Eine größere Möglichkeit der Freiheit und der Entfaltung der Sinne“ verband er mit diesem imaginierten Kontinent. In den 1960er und 1970er Jahren durchlief er die ganze Bandbreite linksradikaler Bewegungen in der Bundesrepublik – in denen viele ähnlich Sozialisierte voller Hoffnungen nach Kuba oder Chile blickten.

Doch nicht über die deutschsprachigen Autoren verfestigte sich das Bild Lateinamerikas als Ort der Irrationalität und Antimoderne. Die Autoren des Magischen Realismus, damals ebenso wie Frisch und Timm durch die Bank politisch Linke, lösten ab den 1960er Jahren einen beispiellosen Boom der lateinamerikanischen Literatur in West- wie Osteuropa aus. García Márquez, Asturias, Carpentier und andere entwarfen ein mythisches, zum Teil auch revolutionäres hispanisches Amerika voller Wunder und Exotik, das hervorragend zu dessen Bild in der europäischen Öffentlichkeit passte. Dass diese Romane mehr als zwei Jahrzehnte lang reißenden Absatz fanden, hing auch mit einem verstärkten politischen Bewusstsein um die Belange der Dritten Welt zusammen.

Als die Vertreter der aufkommenden westeuropäischen Neuen Linken, aber auch eine junge idealistische Generation antistalinistischer Sozialisten in Osteuropa voller Bewunderung auf die Kubanische Revolution und in der Folge auf ganz Lateinamerika blickten, standen sie also in der Kontinuität ambivalenter ideengeschichtlicher Traditionen. Antiimperialistische Kämpfe fanden während des Kalten Kriegs zwar mehr in Asien und Afrika statt, und historisch wirkungsmächtigere Umwälzungen waren in den USA, in Frankreich und Russland passiert.

Aber Lateinamerika bediente einerseits dank seiner Widerstands- und Rebellionsgeschichte einen revolutionären Romantizismus, andererseits aber antimoderne Reflexe, die auf die zwiespältigen Traditionen der Lebensreformbewegungen sowie eine exotisierend-idealisierende Sicht auf autochthone Kulturen zurückgingen.

Die Überzeugung, einer weltweiten gesellschaftlichen Transformation beizuwohnen, bestimmte das Denken der 1960er und 1970er Jahre. Lateinamerika war die Region, die am meisten zu dieser globalen Befindlichkeit beitrug. Die Kubanische Revolution war nicht die Ursache, verstärkte aber den Eindruck umwälzender Neuerung – im Positiven wie Negativen: Für Konservative schien der Albtraum der kommunistischen Weltrevolution seinen Anfang zu nehmen. Für die rebellierenden Bürgerkinder in den europäischen Großstädten waren die kubanischen Revolutionäre Identifikationsfiguren in der Auflehnung gegen die als verkrustet und miefig empfundenen Strukturen der Nachkriegszeit. Ein Che-Guevara-Hemd, die Solidarität mit Allendes Chile, der Hass auf Pinochet und den US-Imperialismus, später die Unterstützung der Sandinistas in Nicaragua waren Identifikationsmuster linker Protestbewegungen. Es waren aber nicht ausschließlich politische Gründe, die die meist jungen akademischen Linken an Lateinamerika begeisterten.

Die Revolution kam auch in einer exotisch-ansprechenden Verpackung: Aus Kuba kamen Bilder von schönen jungen Rebellen unter Palmen an sonnigen Stränden. Und Allende wurde nicht nur verehrt, weil er der erste demokratisch gewählte sozialistische Präsident war. Sein „Sozialismus mit Rotwein“, unterlegt mit der Musik von Victor Jara, sprach auch ästhetisch an. Lateinamerikanische Folklore war zu dieser Zeit schon längst zur Musik kommunistischer und linker Parteien in Italien und Frankreich geworden. Im deutschsprachigen Raum und in Osteuropa war bis in die 1960er Jahre lateinamerikanisches Liedgut noch von der konservativen Schlagerszene vereinnahmt: Während José Martís „Guantanamera“ anderorts die Hymne von Gewerkschaftsbewegungen war, tingelte hierzulande die Schlagersängerin Manuela damit durch die Hitparaden.

Erst mit dem Aufkommen der Nueva Canción Ende der 1960er erhielt die Latino-Folklore durch linke Ikonen wie Jara auch in Mittel- und Osteuropa einen politischen Touch. Nun sang Franz-Josef Degenhardt in Westdeutschland über Chile, und im Osten stellte Wolf Biermann den Bonzen in seinem Land den „Jesus mit der Knarre“ (Che Guevara) als wahren Sozialisten gegenüber. Alles, was auf Spanisch gesungen war, klang jetzt irgendwie links.

Auf linken Feiern von Paris bis Moskau hörte man lateinamerikanische Musik, und sogar im Ende der 1970er Jahre aufkommenden Politpunk bezog man sich auf la revolución: Eines der einflussreichsten Alben des Genres, 1980 von der englischen Band The Clash aufgenommen, hieß „Sandinista“.Und wenn Die Ärzte in Berlin über ihre vergangenen Revolutionsträume sangen („Kopfüber in die Hölle“, 1993), taten sie das zu Flamenco-Gitarren.

Die freudig beschriebene und besungene Revolution suchten einige Extremisten der Neuen Linken in Europa bekanntermaßen mit aller Gewalt in die Tat umzusetzen. Auch hierfür suchten sie Inspiration in Lateinamerika: Die italienischen Brigate Rosse übernahmen die Taktik, die Tupamaros West-Berlin sogar den Namen der uruguayischen Stadtguerilla.

Der intellektuellere Teil der Neuen Linken verlegte das Subjekt der Revolution vom übersättigten europäischen Proletariat auf die Dritte Welt, glorifizierte die lateinamerikanische revolutionäre Tradition und schuf die ideelle Grundlage für eher praktisch orientierte Terroristen. Als 1970 Carlos Marighellas „Handbuch des Stadtguerillo“ beim Frankfurter Stroemfeld Verlag herauskam, wurde es prompt verbindliche Lektüre für die Mitglieder der Roten Armee Fraktion.

Chiapas-Kaffee für den täglichen Aufstand

Für den intellektuellen Widerstand entstanden aus den Solidaritätskomitees gegen lateinamerikanische Militärdiktaturen Forschungseinrichtungen wie die „Informationsstelle Lateinamerika“ in Bonn und linke Zeitschriften wie die Berliner Lateinamerika-Nachrichten.

Neben dem revolutionären Romantizismus übernahm die Neue Linke auch Elemente der ursprünglich deutlich konservativ konnotierten, antimodernen Tradition der Lebensreformbewegung. Die Alternativen Gruppen, die ab den späten 1970er Jahren aus der Neuen Linken hervorgingen, verbanden die Revolutionsromantik mit Naturverbundenheit, einer Verklärung ursprünglicher Lebensart, gesunder und ökologischer Ernährung und Vegetarismus.

Mit den politisch und biologisch korrekten Agrarprodukten aus Mittelamerika unterstützte man nicht nur den freien Bauern auf seiner Scholle, sondern auch dessen politisches Bewusstsein. Linke Szeneläden verkauften (und verkaufen bis heute) den „Chiapas-Kaffee für den täglichen Aufstand“. Daneben im Regal lagen bunte Tücher aus den Anden, Panflöten und Indio-Traumfänger. Bilder von strickenden Aymara-Männern schmückten WG-Küchen und versicherten den frauenbewegten MitbewohnerInnen die Konstruiertheit von Geschlechterrollen. Gudrun Pausewangs emphatische Romane schilderten lebhaft die Armut und Unterdrückung der lateinamerikanischen Unterschichten.

Und selbst zu diesen Hochzeiten der Friedensbewegung stand weiter die Frage nach revolutionärer Gewalt im Raum: Die tageszeitung spendete „Waffen für El Salvador“, noch in den hintersten Ecken der Sowjetunion sammelten Aktivisten für die Revolutionäre in Nicaragua, und selbst einige linke Christen, die seit den späten 1960ern fasziniert von der Befreiungstheologie waren, schlossen wie ihre kämpfenden Glaubensbrüder in zahlreichen lateinamerikanischen Guerillas Gewaltanwendung nicht kategorisch aus. Die ideellen Wurzeln der Lateinamerikabegeisterung innerhalb der europäischen Linken während des Kalten Kriegs lassen sich aufdecken, warum aber war sie gerade im Deutschland der 1960er Jahre größer als je zuvor? Neben der eher eskapistischen Komponente, die (nicht nur bei der Linken) Lateinamerika als vormodernes Utopia erscheinen ließ, gab es in Deutschland einen spezifischen politischen Faktor: den belasteten Diskurs um Volk und Nation.

In Südeuropa, in Skandinavien, in der Sowjetunion, überall sahen sich Linke auf der Seite „ihres“ Volkes und hatten eine affirmative Haltung zum Nationalismus. „Rechts“, das waren nach ihrer Vorstellung die Feinde der Nation, die Ausbeuter, die kosmopolitischen Kapitalisten. Den Linken der deutschen Nachkriegsgeneration war diese Identifikation verbaut. Nicht nur war unklar, welche der deutschsprachigen Mitteleuropäer jetzt eigentlich zur „deutschen Nation“ gehörten, auch weckte das gesamte nationale Vokabular tiefbraune Assoziationen. Den Deutschen fehlte nicht eine nationale Identität, nur das Sprechen darüber war tabuisiert: „Das Volk geeint“ klang nach Goebbels, „El pueblo unido“ dagegen nach sozialer Gerechtigkeit.

Die Nationalismen lateinamerikanischer Länder, mit denen man sich zudem noch leichter identifizieren konnte als mit kulturell weiter entfernten Asiaten oder Afrikanern, konnte man ohne schlechtes Gewissen „irgendwie gut“ finden. Nicht wenige Vertreter der westdeutschen Neuen Linken kamen aus einem deutsch-nationalen Umfeld, einige drifteten später in den Rechtsradikalismus ab. Viele empfanden die Teilung und amerikanische Besatzung Deutschlands als kränkend – im Antiimperialismus fanden sie eine alternative Möglichkeit, antiamerikanischen Ressentiments zu artikulieren. (Dass deutsche Neonazis heute Che-Guevara-Hemden tragen, steht in der Kontinuität solcher Projektionen.)

André Gunder Franks „Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika“ und Eduardo Galeanos Manifest „Die offenen Adern Lateinamerikas“ machten die Dependenztheorie auch im Europa der 1960er- und 1970er Jahre populär. Imperialismus hieß aus lateinamerikanischer Sicht vorrangig Einfluss der USA; der antiimperialistische Teil der deutschen Linken identifizierte sich gern mit marginalisierten Opfern des US-Kapitalismus.

Es begann mit einem Missverständnis, und es endet mit einem: Die Unabhängigkeitskämpfer um Simón Bolívar, die großen Denker Lateinamerikas im 19. Jahrhundert wie José Martí und die sozialistischen lateinamerikanischen Autoren der 1960er Jahre vertraten eigentlich eher einen Pan-Hispano-Amerikanismus als einen europäisch geprägten Nationalismus. Mit dem antiliberalen Antiamerikanismus eines Fidel Castro aber konnte sich die Neue Linke überall in Europa gut identifizieren.

Nach dem Ende des Kalten Kriegs und dem Abzug der Besatzungsmächte aus Deutschland flachte die Begeisterung für Lateinamerika merklich ab – auch in Lateinamerika selbst, wie Jorge Volpí kürzlich in einem großen Essay6 über die dortige Intelligenzija und über Selbst- und Fremdwahrnehmungen des Raums „Lateinamerika“ feststellte: Kaum ein Mexikaner, Brasilianer oder Peruaner sehe sich heute noch vorrangig als Lateinamerikaner. Die neuen sozialistischen Experimente in Bolivien und Venezuela sind so antiliberal und antiamerikanisch wie gehabt, aber in Europa finden sie nur noch wenig positive politische Resonanz. Als ein Erbe der großen linken Solidarität mit Lateinamerika und seinen sozialen Bewegungen findet immerhin das Weltsozialforum, die globalisierungskritische Gegenveranstaltung zu den G-8-Gipfeln, heute meist in Südamerika statt.

Fußnoten: 1 Christopher Bayly, „The Birth of the Modern World“, Oxford (Blackwell) 2004, S. 4. 2 Susanne Zantop, „Colonial Fantasies. Conquest, Family, and Nation in precolonial Germany 1770–1870“, Durham (Duke University Press) 1997. 3 „Die Abenteuer des Julio Jurenito“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1976, 1990. 4 Sebastian Conrad, „Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich“, München (C. H. Beck) 2006. 5 „Glanz und Elend Südamerikas. Roman eines Erdteils“, 1931; „Deutsches Schicksal“, 1932. 6 Jorge Volpí, „El insomnio de Bolívar. Cuatro consideraciónes intempestivas sobre América Latina en el siglo XXI.“, México, D. F. (Editorial Debate) 2009.

Tobias Rupprecht ist Historiker am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.11.2010, von Tobias Rupprecht