08.05.2014

Nicht Hutu, nicht Tutsi, nicht Twa

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Nicht Hutu, nicht Tutsi, nicht Twa

Gespräche in Ruanda über Herkunft und Versöhnung von Jonas Weyrosta

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Bei Einbruch der Dämmerung beziehen in Kigali schwer bewaffnete Soldaten ihre Stellungen an Straßenkreuzungen, hinter Bäumen und vor Geschäften – als müsse sich die Bevölkerung in der Nacht vor sich selbst beschützen. Allein der Gedanke, dass 2017 Paul Kagame nicht mehr Präsident sein wird, lässt viele Ruander schon heute um den Frieden in ihrem Land bangen. Nur eine Verfassungsänderung würde es Kagame ermöglichen, seine Erfolgsgeschichte – ein Ruanda in Frieden und Sicherheit – fortzusetzen.

Bei Tage fühlt man sich hier sicher: Kigali ist eine unaufgeregte Hauptstadt, sauber und ordentlich. Die Busse, früher mit Porträts von Bob Marley oder dem legendären US-Rapper 2Pac bemalt, sind heute schlicht weiß. Viele Verkehrspolizisten sind im Einsatz – die Menschen sollen schließlich pünktlich zur Arbeit erscheinen. Wo vor ein paar Jahren noch Chaos herrschte, regeln heute Ampeln die Autoströme. Doch nicht nur im Verkehr ist die staatliche Kontrolle allgegenwärtig.

In sechs Jahren soll Kagames ambitioniertes Entwicklungsprogramm „Vision 2020“ abgeschlossen sein. Die Regierung setzt vor allem auf moderne Technologien. Und der Fortschritt scheint mittlerweile auch in anderen Städten angekommen zu sein. Moderne Prachtbauten schmücken das idyllische Gisenyi am Kivusee und die Universitätsstadt Butare im Süden des Landes. Fernab der großen Straßen bekommt man von den rasanten Entwicklungen allerdings nicht viel mit. Was in der Hauptstadt beschlossen wird, erfahren die Leute auf dem Land aus dem Radio. In letzter Zeit wurde viel über die neue staatliche Kampagne „Ndi umunyarwanda“ („Ich bin Ruander/in“) berichtet. Und zum ersten Mal hat ein Hutu seine Landsleute öffentlich um Verzeihung gebeten. Dabei war der aus einer Hutu-Familie stammende Filmemacher, Schauspieler und Autor Edouard Bamporiki erst 11 Jahre alt war, als vor 20 Jahren der Völkermord begann.

In seiner ersten Amtshandlung ließ Kagame 1994 die ethnische Zugehörigkeit als Tutsi, Hutu oder Twa aus den Personalausweisen streichen. Weil das offenbar nicht gereicht hat, will die Regierung mit Kampagnen wie „Ndi umunyarwanda“ auch das Denken der Menschen verändern.

Josephine* kann der Politik ihres Präsidenten nichts abgewinnen. „Aber Kagame ist nicht das eigentliche Problem. Das Problem steckt in den Köpfen der Leute.“ Sie lebt in einer Siedlung in der Nähe von Nyabuguru. Die fünfzehn Häuser wurden für Überlebende des Genozids gebaut. Ringsherum fruchtbare Böden und keine Menschenseele. Hier leben Ruander, die 1994 ihr Hab und Gut verloren haben, sowie viele Witwen und Waisen. Eine Stiftung für Überlebende sichert ihnen bis heute ein Existenzminimum und finanziert den Kindern die Schulbildung, in der Regel auch das Studium. Was Josephine mit den Köpfen der Leute meint, wird bei einem gemeinsamen Spaziergang durch das Dorf klar. Niemand würdigt sie eines Blickes, nur wenige erwidern ihren Gruß und ernten dafür verachtende Blicke.

Josephine ist Tutsi, oder vielmehr sie war es. Da sie vor dem Genozid mit einem Hutu verheiratet war, wird sie von der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen. Als ihre Ehe bekannt wurde, bekam sie kein Geld mehr aus dem Überlebendenfonds. „Hier im Dorf haben die Vertreter des Fonds und die Kirchen die Hoheit über das Denken der Leute. Die Leute wissen es nicht besser, so setzt sich der ethnische Hass einfach fort. Den Kindern wird hier beigebracht, Hutus zu hassen, ob die Regierung das möchte oder nicht.“ Auf die Frage, was sie von der neuen Kampagne halte, antwortet sie mit gedämpfter Stimme. Unter dem Türspalt der Haustür zeichnen sich Schatten ab. Josephine wechselt ins Französische, weil das im Dorf niemand versteht. „Wir sollten hier nicht über die Versöhnungspolitik sprechen, das ist zu gefährlich.“ Ihr Sohn Bosco* zeigt in Richtung Hinterhof. „Draußen können wir ungestört reden, da sehen wir, wenn uns jemand zuhört.“

Wir spazieren über das Bohnenfeld, das Josephine mit ihren Enkelkindern bewirtschaftet. Ihre Nervosität löst sich bei einer Zigarette und der Gewissheit, nicht belauscht zu werden. „Ich habe von ‚Ndi umunyarwanda‘ gehört. Alle Radiosender berichten darüber. Aber die Regierung macht das doch in erster Linie für die Ausländer, die in Ruanda leben. Es soll so aussehen, als sei das Land versöhnt. Das ist wichtig für die Investoren.“ Sie tritt ihre Zigarette aus und verscharrt sie im roten Sand. „Es war damals eine gute Idee, die Ethnien aufzugeben. Aber damit änderte sich nichts in den Köpfen der Menschen. Hier im Dorf bekomme ich täglich zu spüren, dass ich eine Tutsi bin, die sich mit einem Hutu eingelassen hat. Meine Kinder werden diskriminiert und finden kaum eine Anstellung, weil sie sowohl Hutu als auch Tutsi sind.“

Bosco hört seiner Mutter aufmerksam zu. Der 30-jährige Anwalt lebt in Kigali und arbeitet für eine Organisation, die gegen ethnische Diskriminierung in der Rechtsprechung kämpft. Sein Studium hat er sich selbst finanziert, auf staatliche Unterstützung konnte er als Sohn eines Hutu nicht hoffen. Bosco schreibt ein Buch über sein Leben zwischen den Ethnien. Glaubt er an die neue ruandische Identität? Da lacht er nur kurz auf. „Ich glaube daran, dass ich Ruander bin. Dafür brauche ich aber nicht die Hilfe der Regierung.“ Die Frage, was er sich für die Zukunft seines Landes wünsche, stimmt ihn nachdenklich. „Die Politiker sind klug. Sie arbeiten daran, die Ethnien abzuschaffen. Ethnien sind rückständig und ein afrikanisches Klischee. Aber an der Situation der Menschen ändert diese Politik leider nichts. Privilegien und Benachteiligungen gibt es auch ohne ethnische Frage.“

Als Präsident Kagame im vergangenen Dezember die „Ich bin Ruander“-Kampagne vorgestellt hat, sprach er über den neuen ruandischen Geist und davon, dass man die Fesseln der Vergangenheit loswerden, nach vorn blicken und miteinander reden müsse – vor allem sollte die jüngere Generation zu Wort kommen. Die 1999 gegründete Nationale Einheits- und Versöhnungskommission hat die Kampagne organisiert, deren Veranstaltungen für viele Berufsgruppen, vom Polizisten über den Professor bis zum Gefängniswärter, Pflicht sind. Sie beginnen mit einem historischen Exkurs, der eine eindeutige Botschaft vermittelt: Ursache des Völkermords war die Spaltung der Gesellschaft in Ethnien.

In einer Sporthalle in Muhanga haben sich etwa 150 Menschen versammelt. Die Tische sind in den Nationalfarben geschmückt, es gibt kostenlose Verpflegung. „Mein Name ist Claude Nzeyimana*, ich bin Hutu und fühle mich schuldig.“ Der junge Mann in der ersten Reihe klopft vorsichtig auf das Mikrofon. Ein greller Pfeifton erklingt. Alle blicken auf. „Als mein Vater unsere Nachbarn tötete, war ich noch ein Kind. Ich habe bis heute nicht verstanden, warum er unsere Freunde plötzlich hasste.“ Seine Stimme beginnt zu beben, er nimmt das Mikrofon in die andere Hand, ringt um Fassung. „Aber warum muss ich mich schuldig fühlen? Ich habe doch nie etwas verbrochen. Ich war noch ein Kind.“ Er bricht ab. Es melden sich nur wenige. Doch jede Hand, die sich hebt, macht den anderen Mut. Die meisten haben noch nie öffentlich über die Erfahrungen von 1994 gesprochen oder die Wörter Hutu und Tutsi laut ausgesprochen.

„Es geht gar nicht um Schuld oder Verantwortung“, sagt Richard Kananga von der Nationalen Einheits- und Versöhnungskommission. „Niemand kann für Verbrechen, die er nicht begangen hat, zur Rechenschaft gezogen werden.“ Kananga wuchs im ugandischen Exil auf und kehrte 1995 in seine zerstörte Heimat zurück. Er studierte in Uganda und den USA Politikwissenschaften und Konfliktmanagement und gehört zu der Elite der Tutsi, die dank guter Englischkenntnisse und ihrer Nähe zur Regierung hohe Posten bekommen. Seit 1995 leitet Kananga die Abteilung Konfliktmanagement und Peace Building der Versöhnungskommission. „Für uns ist es wichtig, die zukünftigen Generationen vom Erbe der Geschichte zu entlasten. Es darf in der Analyse des Genozids nicht immer nur um die Schuld der Hutu gehen. Viel wichtiger ist es, den Blick in die Zukunft zu richten. Wir sind alle Ruander, keine Hutu, keine Tutsi, keine Twa.“ Was sich wie auswendig gelernt anhört, steht so auch in der Broschüre zur Kampagne. „Wir geben den Menschen die Chance, über ihre Erfahrungen zu sprechen. In der Öffentlichkeit und mit Unterstützung von Fachleuten.“ Auf die Frage, ob denn die Leute in Anwesenheit von Regierungsvertretern frei sprechen können, lächelt Kananga verhalten. „Natürlich, wir sind ein freies Land.“

„Eine neue Identität ist eine gute Idee. Aber unter uns, wir wissen doch, dass die Leute nicht sagen, was sie wirklich denken“, entgegnet der Chefausbilder des National Police Colleges in Musanze im Vorgespräch mit Floride Tuyisabe von der Versöhnungskommission. Tuyisabe soll an der Polizeischule einen Vortrag über die „Ndi umunyarwanda“-Kampagne halten. Die Polizisten sind Multiplikatoren. Sie sollen das Gehörte in ihre Distrikte tragen. Auf kritische Fragen war Tuyisabe offenbar nicht eingestellt. Sie hat Mühe, ihre Argumente auszuführen. „Vor wenigen Jahren noch hätten wir gar nicht über die Vergangenheit gesprochen“, muss sie schließlich auch zugeben.

Man merkt, dass der Ausbilder und sein Assistent sich zwar mit ihrer persönlichen Meinung zurückhalten, und doch signalisieren sie Tuyisabe höflich und bestimmt, dass sie von dieser Kampagne mehr erwarten als Gespräche über die Vergangenheit. „Was wir hier abstrakt besprechen, hat doch mit dem Leben der Menschen nichts zu tun. Ihr von der Regierung sagt uns, was wir den Leuten erzählen sollen, und wir werden das auch tun. Die Ruander sind es ja gewohnt, zu tun, was ihnen die Regierung sagt. Wir verändern hier aber nicht die Gefühle der Menschen.“ Der Assistent rutscht sichtlich nervös auf seinem Stuhl herum. Die Worte seines Vorgesetzten sind mutig und ungewöhnlich. Schließlich lenkt der Ausbilder ein und sagt, es gehe ihm nicht um Regierungskritik. „Was zählt, ist einzig der Frieden. Dafür sind wir bereit, alles zu geben.“

Zurück in Kigali, resümiert Tuyisabe den Tag bei einer Tasse Tee. „Diese Arbeit ist wirklich anstrengend. Wir glauben fest an unsere Ideen, aber sie sind schwer zu vermitteln.“ Wie es denn in Deutschland gelungen sei, eine Kultur zu schaffen, in der man unbefangen über das Dritte Reich sprechen könne, möchte sie wissen. Die Antwort, dass es viel mehr als zwanzig Jahre gedauert hat und dass die deutsche Schuld ein immer wiederkehrendes Thema ist, scheint sie nicht zufriedenzustellen.

Amelie* sitzt im Hof hinter ihrer Wohnung, sie wirkt müde, am Abend zuvor war ihre Graduiertenfeier. Sie hat „Leadership und Hospitality Management“ studiert. Ein Studiengang mit Zukunft. „Schließlich wird Tourismus immer wichtiger für Ruanda. Und Führungskräfte brauchen wir hier überall.“ Amelie wuchs im Problembezirk Kimisagara auf, wo sich Sozialarbeiter um die Leute kümmern, bei denen die Wohltaten der Regierung nicht ankommen und die noch immer unter ethnischer Diskriminierung leiden.

„Dass ich Ruanderin bin, muss mir die Regierung nicht erklären. Aber wieso geht es plötzlich wieder um Ethnien? Das macht mir Angst. Ich bin 23 und habe erst an der Uni gelernt, dass es Ethnien gibt.“ Ihre Mutter hatte ihr nie von den ethnischen Unterschieden erzählt. Auch im Freundeskreis war das nie Thema. „Plötzlich reden alle von Ethnien und Schuld. Aber das hat mit meinem Leben nichts zu tun, ich hatte bisher keine ethnische Identität.“ Sie erzählt von den Tutsi-Studenten, die vom Überlebendenfonds unterstützt werden und sich deshalb, anders als viele Hutu, das teure Studium leisten können. „Es ist gefährlich für ein Land, wenn unter Studierenden Rivalitäten um das Essen entstehen. Manche Hutu teilen sich ihre Mahlzeiten auf. Einer geht morgens essen, der andere am Abend.“

Richard Kananga kennt die Kritik. Er betont, es gehe weder um Ethnien noch um pauschale Schuldzuweisungen. „Um mit der Vergangenheit abzuschließen, ist es aber wichtig, die Wahrheit auszusprechen.“ Die neue ruandische Identität müsse auf Fleiß und Gehorsam basieren. Das sei die Zukunft für Ruanda. Gehorsam gegenüber der Politik des Präsidenten. Öffentlichen Widerspruch hört man selten. Die kritischen Internetseiten sind in Ruanda selbst gesperrt. Die Medien überbieten sich mit Lobhudeleien auf den Präsidenten. Kagame ist es gelungen, eine autoritäre Führung demokratisch zu legitimieren, indem er in die Köpfe der Menschen hineinregiert.

Bei einem Spaziergang durch den Stadtteil Nyamirambo deutet Bosco, der junge Anwalt, auf den gegenüberliegenden Hügel Romero. „Das ist die Zukunft Kigalis.“ Prächtige Villen und hohe Zäune. Swimmingpools statt quirliger Märkte. „Hutu und Tutsi kann man hier schon lange durch Arm und Reich ersetzen. Kagame hat seine Leute in guten Jobs untergebracht. Die Schulen unterrichten auf Englisch, das ist die Sprache der Tutsi, die nach Uganda geflohen und zurückgekehrt sind. Viele Hutu bleiben dabei auf der Strecke.“

Auch der Polizeiausbilder in Musanze ist um die Zukunft besorgt: „Die Menschen in Ruanda sind manipulierbar. Es ist wie 1994, das Problem waren doch nicht die Ethnien, das Problem war die Anfälligkeit für die Worte der Mächtigen.“

* Die Namen wurden auf Wunsch der Gesprächspartner geändert. Jonas Weyrosta studiert Politikwissenschaft an der Universität Bremen. Er war Praktikant der Nationalen Einheits- und Versöhnungskommission Ruandas. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.05.2014, von Jonas Weyrosta