08.05.2014

Das große Wegwerfen

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Das große Wegwerfen

von Valentin Thurn

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Ein Drittel der Lebensmittel, die weltweit erzeugt werden, verdirbt oder landet auf dem Müll, in den Industrieländern sogar die Hälfte. Lebensmittel sind Massenware, die Discounter unterbieten sich gegenseitig mit Niedrigpreisen, in den Kühlregalen stehen mehr als 100 Joghurtsorten zur Auswahl, und doch landet der eine Becher, für den wir uns schließlich entschieden haben, nur zu oft ungeöffnet im Mülleimer.

Der japanische Umweltforscher Kohei Watanabe hat Mülltonnen in England, Deutschland, Österreich, Japan und Malaysia untersucht und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der Anteil essbarer Lebensmittel überall rund 10 Prozent beträgt. Wo immer das System Supermarkt in einer Gesellschaft ankommt, beginnt eine Entfremdung zwischen Konsumenten und Erzeugern, die die Verschwendung begünstigt.

Bis in die 1970er Jahre haben die Menschen in den Industrieländern 40 bis 50 Prozent ihres Einkommens für Essen ausgegeben – heute sind es nur noch 10 bis 20 Prozent. In der Hektik des Alltags kaufen viele nur einmal in der Woche ein: Am Samstag wird der Kühlschrank vollgestopft, aber in den nächsten Tagen kommt man spät nach Hause, isst dann nur noch einen Döner um die Ecke oder lässt sich eine Pizza bringen. Und schon verkommt zu Hause das frische Gemüse. Im Supermarkt bekommen wir zu jeder Tages- und Jahreszeit alles, was wir gerade haben wollen: noch um Mitternacht frisches Brot und im Winter Erdbeeren. Das appetitlich arrangierte Überangebot verführt uns, mehr zu kaufen, als wir verwerten können. Kein Wunder, dass vieles vom Kühlschrank direkt in den Mülleimer wandert. Weil es schnell gehen muss, greifen wir gern zu Convenience Food mit kurzer Haltbarkeit. Was von den vorportionierten Mengen übrigbleibt, wird entsorgt.

Studien zufolge sind in der EU die Verbraucher für rund 40 bis 45 Prozent des Lebensmittelmüllbergs verantwortlich. Das heißt aber auch: Das meiste wird weggeworfen, bevor es die Verbraucher erreicht. Eine Lösung wird es nur geben, wenn in der Produktionskette alle zusammenarbeiten. Kein Händler kann etwas verändern, wenn seine Kunden nicht mitziehen. Die Verbraucher können kein Signal über ihre Kaufentscheidung setzen, wenn der Supermarkt überhaupt keine krummen Gurken anbietet. Und wenn Supermärkte die Müllproblematik einfach an ihre Zulieferer weiterreichen, indem sie sich „just in time“ beliefern lassen, ist auch nichts erreicht, weil dann bei den Speditionsfirmen nur umso mehr Überschüsse anfallen.

Wie man die ganze Produktionskette anspricht, zeigt ausgerechnet das für ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein nicht gerade bekannte Großbritannien. Die Briten deponieren immer noch einen Großteil ihrer Abfälle auf Müllkippen. Und die sind randvoll, zudem droht die EU schon mit Millionen-Strafzahlungen. Beides hat einen Druck erzeugt, der dazu führte, dass die frühere Labour-Regierung Gegenmaßnahmen ergriff. Das Waste & Resources Action Programme (Wrap) wurde ins Leben gerufen, detaillierte Studien zur Ressourcenverschwendung angefertigt und Kampagnen zur Müllvermeidung gestartet.

Auch die Unternehmen blieben nicht verschont. Die Regierung holte sie an den Verhandlungstisch, indem sie mit gesetzlichen Regulierungen drohte. Mit Erfolg: 2005 verpflichteten sich die Lebensmittelhersteller im „Courtauld Commitment“ – das inzwischen in Phase 3 angekommen ist1 – zu einer Müllreduzierung um 5 Prozent in zwei Jahren. Zum Bedauern vieler Umweltpolitiker gab es keine Strafandrohung, falls dieses Ziel nicht erreicht würde. Einziges Druckmittel war, dass die Unternehmen blamiert wären. Und das reichte offenbar: Industrie und Handel schafften die angepeilten 5 Prozent. Die Bemühungen zur Müllreduzierung haben auch den Regierungswechsel überdauert: Die Cameron-Regierung handelt mit der Gastronomiebranche gerade ein weiteres „Courtauld Commitment“ aus.

Eigentlich müsste der Handel schon aus betriebswirtschaftlichen Gründen daran interessiert sein, die Verschwendung zu begrenzen. Doch um den Kunden die immergleichen, perfekt aussehenden Produkte anbieten zu können, wird besonders bei frischer Ware kräftig aussortiert. Sobald ein Blatt welk ist, wird der ganze Salat weggeworfen. Wenn nur ein einziger Pfirsich schimmelt, wandert die ganze Packung in die Tonne. Die Arbeitszeit der Angestellten darauf zu verwenden, einzelne Obst- und Gemüsestücke auszusortieren, ist für den Händler zu teuer. Die entsorgte Ware ist natürlich eingepreist: Wenn wir zehn Joghurtbecher kaufen, zahlen wir einen weiteren mit, der im Müllcontainer landet.

Milchprodukte und Käse werden zwei bis sechs Tage vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums aus den Regalen entfernt. Das meiste davon wäre noch genießbar, sogar über das Datum hinaus. Eine einfache Prüfung – hingucken, riechen – würde reichen, um das festzustellen. Schließlich drucken die Hersteller das Datum selbst auf, sie nutzen den Verbraucherschutz als Vorwand für immer kürzere Haltbarkeitsfristen.

Aber um Haltbarkeit geht es in Wirklichkeit sowieso nur bei Fleisch-, Fisch- und Eiprodukten, da ist das Verbrauchsdatum aus hygienischen Gründen unbedingt zu beachten. Bei allen anderen Produkten garantiert das Mindesthaltbarkeitsdatum nur bestimmte Eigenschaften, zum Beispiel, dass ein Joghurt bis zum genannten Datum cremig bleibt. Danach ist er meist noch tagelang einwandfrei, es kann nur sein, dass sich oben etwas Molke absetzt. Einmal durchrühren, und der Joghurt ist wieder cremig.

Die Verschwendung beginnt auf dem Acker

Die niederländische Supermarktkette Jumbo hatte eine geniale Idee: Wer ein Produkt mit einer Ablauffrist von ein oder zwei Tagen im Regal entdeckt, darf seinen Fund umsonst mitnehmen. So wird die Optik umgedreht: Die Kunden suchen nicht mehr nach Produkten mit möglichst langem Haltbarkeitsdatum, sondern nach solchen, die sonst aussortiert und vernichtet würden – und erledigen nebenher das Aussortieren, für das normalerweise die Angestellten des Supermarkts zuständig sind.

Ein besonders dramatisches Beispiel ist das Brot. Bäckereien werfen durchschnittlich 10 bis 20 Prozent ihrer Tagesproduktion weg und liefern die Reste im besten Fall an eine Tafel oder einen Tierfutterhersteller. Mit den 3 Millionen Tonnen Brot, die in Europa jedes Jahr auf dem Müll landen, könnte ganz Spanien versorgt werden. Diese enorme Verschwendung kommt auch daher, dass die Handelsketten mit den Bäckern Kommissionsvereinbarungen abschließen – alles, was übrig bleibt, muss zurückgenommen werden.

Die Verschwendung fängt bereits auf dem Acker an. Das liegt vor allem an den Handelsnormen, die Form, Farbe und Größe von landwirtschaftlichen Erzeugnissen bestimmen. Viele denken bei Normen an die übertriebene EU-Bürokratie und die berühmte Gurke, deren Krümmung bis 2009 von der EU geregelt wurde. Doch als Brüssel die Gurkennorm abschaffte, hat der Handel die Standards trotzdem beibehalten. Noch heute gibt es keine krummen Gurken im Supermarkt. Denn für Transport und Lagerung ist es praktischer, wenn die Gurken schön gerade und gleich lang sind. Qualität oder Geschmack spielen für diese Normen keine Rolle. Sie sind nur dazu da, um dem Handel das Agieren auf globalisierten Märkten zu erleichtern. Auf diese Weise kann er Produkte unbesehen bestellen.

Bei optischen Macken ist es etwas anderes: Was nicht ins Raster passt, bleibt direkt auf dem Feld liegen oder wird auf dem Bauernhof aussortiert und an die Tiere verfüttert, sofern der Bauer noch welche hat. Zuverlässige Zahlen darüber, was die Landwirtschaft aussortiert oder gezielt vergammeln lässt, gibt es allerdings kaum. Bei Kartoffeln und manchen Gemüsesorten sind es wohl um die 40 Prozent der Ernte.

Weltweit werden jährlich rund 1,3 Milliarden Tonnen Nahrungsmittel umsonst produziert. Die Welternährungsorganisation FAO kommt in einer Studie zu dem Schluss, dass es effizienter sei, „in der gesamten Wertschöpfungskette Verluste zu begrenzen, als mehr zu produzieren“. Damit rückt sie von ihrer früheren Position ab, das Hungerproblem einer wachsenden Weltbevölkerung könne nur durch Produktionssteigerungen gelöst werden.

Dem „food waste“ (Lebensmittelverschwendung) in den Industrieländern steht der „food loss“ (Nachernteverlust) in den Entwicklungsländern gegenüber, verursacht durch fehlende Kühl- und Lagerhäuser und schlechte Straßen. In den Entwicklungs- und Schwellenländern verderben bis zu 40 Prozent der Nahrungsmittel, bevor sie überhaupt die Märkte erreichen. In Europa hingegen werden 40 Prozent aller Lebensmittel auf Handels- oder Konsumentenebene ungenutzt entsorgt. Besonders krass ist der Unterschied bei den Verbrauchern: Während sie in Europa und Nordamerika über 100 Kilogramm pro Person und Jahr wegwerfen, sind es in Afrika südlich der Sahara weniger als 10 Kilo.

Die Verschwendung im globalen Norden verschärft das Hungerproblem im globalen Süden. Auf der einen Seite können Landwirte in Afrika, Asien und Lateinamerika aufgrund der Handelsnormen nicht die gesamte Ernte nutzen. Auf der anderen Seite erhöht die Wegwerfkultur der Industrieländer den Preisdruck auf dem Weltmarkt. Denn wenn wir mehr konsumieren – und sei es nur für die Mülltonne –, steigt die Nachfrage und damit der Preis gerade auch für Grundnahrungsmittel wie Weizen, Mais und Reis. Diese Preise, die heute an den großen Getreidebörsen in Chicago, Zürich oder Wien bestimmt werden, sind in den letzten Jahren so in die Höhe geschossen, dass sich Millionen Menschen in ärmeren Ländern die Grundnahrungsmittel kaum noch leisten können.

Es geht nicht um Verzicht, sondern um Effizienz und um ein Bewusstsein dafür, dass Mechanismen, die für einzelne Unternehmen rentabel sein mögen, volkswirtschaftlich katastrophal sind. Die Verschwendung von Essen ist auch eine Verschwendung von Ressourcen. Lebensmittel werden mit einem enormen Energieaufwand erzeugt. Das Stockholm Water Institute hat errechnet, dass ein Viertel des gesamten Wasserverbrauchs der Erde für die Produktion von Lebensmitteln vergeudet wird, die am Ende vernichtet werden.2 Hinzu kommt, dass ein Drittel der Klimagase von der Landwirtschaft produziert wird. Man wird die Abfälle nie auf null herunterfahren können, aber die EU hält eine Halbierung des Lebensmittelmülls für durchaus realistisch. Ohne große Einbußen beim Lebensstandard könnten ihre Industrieländer damit ungefähr so viele Klimagase einsparen, wie wenn sie jedes zweite Auto stilllegen würden.

Angesichts schwindender Ressourcen setzt sich die Einsicht, dass ein Großteil unserer Lebensmittelverschwendung unnötig und vermeidbar ist, mehr und mehr durch. Die FAO fordert, die Verluste und die Verschwendung von Nahrungsmitteln in den nächsten 15 Jahren zu halbieren, nach der Devise: „reduce, redistribute, recycle“, auf Deutsch: reduzieren, umverteilen, wiederaufbereiten. In Entwicklungsländern gilt es vor allem den Nachernteverlust zu minimieren: durch eine bessere Infrastruktur, Kühlketten und den fairen Marktzugang für Kleinbauern. Die Industrieländer müssen ihrerseits Agrarsubventionen und Qualitätsnormen abbauen, die nur den Interessen der Transport- und Verarbeitungsindustrie dienen.

Fußnoten: 1 Siehe www.wrap.org.uk/node/14507. 2 Siehe Jan Lundqvist, Charlotte de Fraiture und David Molden, „Saving Water: From Field to Fork – Curbing Losses and Wastage in the Food Chain“, Siwi Policy Brief, Stockholm (Siwi) 2008. Valentin Thurn ist Filmemacher (unter anderem von „Taste the Waste“), Publizist und Gründer der International Federation of Environmental Journalists, IFEJ. www.ThurnFilm.de. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.05.2014, von Valentin Thurn