10.11.2006

China, Nordkorea und die Bombe

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China, Nordkorea und die Bombe

Auch nachdem sich Pjöngjang zu weiteren Verhandlungen bereit erklärt hat, geht man in Peking davon aus, dass Nordkorea sein Atomwaffenprogramm weiter betreibt. Denn der Test vom 9. Oktober hat die Position der DVRK gegenüber Washington eher noch gestärkt. In China hofft man jedoch, dass die Diplomatie eine neue Chance erhält von Dingli Shen

Die Demokratische Volksrepublik Korea (DVRK) hat – allem internationalen Druck zum Trotz – schließlich doch einen Atomwaffentest durchgeführt. Darin zeigt sich, dass die Führung in Pjöngjang allein ihre eigenen Interessen verfolgt und ihre Entscheidung in erster Linie von der Abwägung der Vor- und Nachteile eines solchen Tests abhängig macht und nicht etwa von den Interessen anderer Länder.

Im Folgenden wird erstens erörtert, welche Vorteile der Atomwaffentest der DVRK bringen könnte, und zweitens, warum andere Länder in dieser Sache wahrscheinlich wenig ausrichten können.

Seit es Nuklearwaffen gibt, haben die USA diese Waffen niemals gegen Länder eingesetzt, die selbst Atommächte sind. Dabei ist es keineswegs so, dass Washington den Einsatz solcher Waffen nie erwogen hätte. Richtig ist vielmehr, dass man es nicht gewagt hat. Mittlerweile freigegebene Geheimdokumente belegen, dass ein präventiver Atomschlag gegen chinesische Anlagen durchaus geplant war, mit dem Ziel, die Entwicklung einer chinesischen Atombombe zu stoppen. Doch am Ende schreckte man davor zurück.

Dieses Thema hat auch mit der Taiwanfrage zu tun. Obwohl die USA mit der „Unabhängigkeit Taiwans“ eher sympathisieren und diese Idee sogar unterstützen, müssen sie so tun, als seien sie dagegen. Der schlichte Grund ist, dass man sich in Washington über eines im Klaren ist: Sollte die Anerkennung eines „unabhängigen Taiwan“ zur militärischen Konfrontation zwischen China und den USA führen, könnte das auch für die USA katastrophale Folgen haben, weil China über ein beträchtliches atomares Arsenal verfügt.

Diese Tatsachen sind für die DVRK eine wichtige Lehre: Gegen Länder, die Atomwaffen besitzen, riskieren die USA keinen Krieg, wogegen sie Angriffe auf Staaten ohne Nuklearwaffen wie Irak oder Jugoslawien gewagt haben. Für Pjöngjang folgt daraus, dass man selbst Nuklearwaffen entwickeln müsse, die mit geeigneten Trägerwaffen eine abschreckende Drohung gegen US-amerikanische Ziele in Ostasien und der Pazifikregion darstellen.

Dass die DVRK auf diese Weise imstande ist, die Sicherheit des Staates aus eigener Kraft zu garantieren, gilt wiederum als Voraussetzung für die Verwirklichung der „Juche“-Philosophie. Einer Politik, die sich nur auf die eigenen Kräfte verlässt, also nicht auf die Entwicklung normaler oder freundschaftlicher Beziehungen mit den USA setzt und auch nicht auf besondere Beziehungen zu China, Russland oder anderen Ländern angewiesen ist.

In Nordkorea glaubt man, dass die Vereinigten Staaten das eigene Land nicht angreifen werden. Dafür gibt es aus der Sicht Pjöngjangs fünf wesentliche Gründe: erstens die nukleare Abschreckung der DVRK; zweitens die abschreckende Wirkung der konventionellen nordkoreanischen Streitkräfte; drittens die Opposition Südkoreas und Japans, also der regionalen Verbündeten der USA; viertens die Opposition Chinas, Russlands und anderer Länder; und fünftens mehrere simultane Faktoren, die Washington zur Zurückhaltung zwingen, darunter die Situation im Irak, die nukleare Herausforderung durch den Iran und die instabile Lage im gesamten Mittleren Osten.

Der Abschreckungseffekt von Atomwaffen ist ein wichtiger Faktor, der die USA zur Vorsicht zwingt. Hinzu kommt die reguläre Armee Nordkoreas in Stärke von einer Million Mann plus fünf Millionen in paramilitärischen Einheiten. Die grenznahe Stationierung dieser Bodentruppen wirkt als konventionelle Abschreckung gegenüber Südkorea und den auf südkoreanischem Territorium stationierten US-Truppen. Was Japan betrifft, so reichen die Raketen vom Typ „Nodong“ als militärische Warnung aus. Das bedeutet, dass die USA, falls sie einen Angriff auf Nordkorea ins Auge fassen würden, ganz sicher mit der Opposition Südkoreas und sogar Japans zu rechnen hätten.

Vor kurzem wurde bekannt, was die Clinton-Regierung als Kosten für den militärischen Sturz des nordkoreanischen Regimes veranschlagt hat. Demnach rechnete man mit 100 000 toten und verwundeten US-Soldaten und mit direkten Kriegskosten von 100 Milliarden Dollar, dazu indirekten Kosten von 1 000 Milliarden Dollar.

Ein Präventivschlag der USA gegen Nordkorea würde auch auf die Opposition Chinas und Russlands stoßen. China und die DVRK haben 1961 einen Kooperations- und Beistandsvertrag unterzeichnet. Völkerrechtlich gesehen ist dieser Vertrag nach wie vor in Kraft und kann nur im beiderseitigen Einvernehmen modifiziert oder beendet werden. Bei einer Invasion in Nordkorea wäre China nach diesem Vertrag verpflichtet, dem Nachbarstaat zur Hilfe zu kommen. Schon deshalb können die USA bei einer Aggression gegen die DVRK nicht mit der Unterstützung Chinas rechnen.

Washington hat aber kein Interesse darin, sich noch einmal (wie im Koreakrieg von 1950 bis 1953) mit China anzulegen, nur weil Pjöngjang Atomwaffen entwickelt. Auch die Beziehungen, die Russland zur DVRK unterhält, sind ein sensibler Faktor. Schon aus geostrategischen Sicherheitserwägungen wird Moskau ein gewaltsames Vorgehen Washingtons gegen Nordkorea entschieden ablehnen.

Den USA sind in der weltpolitischen Arena ohnehin die Hände gebunden. Der Krieg in Afghanistan ist noch längst nicht zu Ende. Auch mit seinem robusten Auftreten in Sachen iranischer Nuklearpolitik wird Washington keinen Erfolg haben. Noch stärker ist es in seiner politischen Handlungsfähigkeit durch die Situation im Irak eingeschränkt. Die Bush-Regierung wird sich angesichts der prekären innenpolitischen Lage in diesem Jahr gewiss hüten, durch einen Angriff auf Nordkorea ihre politische Zukunft zu gefährden. Das gibt der DVRK noch mehr Zeit, Atomwaffen zu entwickeln oder sogar zu testen.

China ist derzeit vor allem interessiert, seine wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben, aber auch die nationale Wiedervereinigung zu erlangen. Im Hinblick auf das zweite Ziel sieht Peking seine Hauptaufgabe derzeit darin, gegen eine Unabhängigkeit Taiwans zu arbeiten, während die Wiedervereinigung nur das Endziel darstellt.

Im Hinblick darauf ist die DVRK für China von einem gewissen Nutzen, da sie das militärische Drohpotenzial der USA in Ostasien teilweise zu binden vermag. Zudem hilft Nordkorea auf der Basis des erwähnten Bündnisvertrags, das Haupteinfallstor zu unseren Gebieten im Nordosten zu verteidigen. Da die DVRK also einen Beitrag zur nationalen Sicherheit Chinas leistet, kann Peking Nordkorea unmöglich im Stich lassen. Und völlig undenkbar sind umfassende Sanktionen gegen Nordkorea, nur um weitere Atomwaffentests zu verhindern.

Umgekehrt dürfte Pjöngjang kalkulieren, dass Peking sehr daran interessiert ist, in Korea keinen „Regimewechsel“ zu erleben und die politische Stabilität auf der Halbinsel zu bewahren. Deshalb geht man wohl davon aus, dass China sich mit den nordkoreanischen Atomwaffentests wohl oder übel abfinden muss. Desgleichen dürfte man in Nordkorea annehmen, dass auch Russland am Ende keine substanziellen Sanktionen gegen das eigene Land verhängen wird, obwohl man in Moskau über die Atomwaffentests gewiss nicht glücklich ist.

Aus all diesen Gründen dürfte Nordkorea kalkulieren, dass das Regime nicht nur keinen Militärschlag der USA zu befürchten hat, sondern auch keine einschneidenden ökonomischen Sanktionen der internationalen Gemeinschaft. Im Fall weiterer Atomtests werden sich die Nachteile also in Grenzen halten. Dem steht sogar ein möglicher Vorteil gegenüber: Als Atomwaffenstaat könnte Nordkorea seine Ausgaben für konventionelle Rüstung reduzieren und damit mehr Geld für die ökonomische Entwicklung einsetzen. Pjöngjang setzt auf Atomtests also auch aus rüstungsökonomischen Gründen.

In der internationalen Gemeinschaft wächst die Besorgnis, dass die nordkoreanischen Tests Japan und die Republik Korea dazu bringen könnten, ebenfalls ein Programm zur Entwicklung von Atomwaffen aufzulegen. Doch dies ist nicht sehr wahrscheinlich, denn es impliziert die Annahme, dass die Allianz zwischen den USA und ihren beiden Partnern in Ostasien als nicht besonders verlässlich gesehen wird. Eine solche Entwicklung würde zwangsläufig das Bündnis mit den USA unterminieren und die sicherheitspolitische Konstellation in Ostasien, die bislang von den USA dominiert wird, noch stärker in Frage stellen.

Die Vereinigten Staaten dürften außerstande sein, die Atomwaffentests der DVRK zu unterbinden, aber sie besitzen immer noch die Fähigkeit, ihre ostasiatischen Verbündeten an der selbstständigen Entwicklung von Atomwaffen zu hindern. Tatsächlich haben einige Politiker in Japan nach dem ersten nordkoreanischen Atomwaffentest eine Diskussion über japanische Atomwaffen losgetreten. Doch die öffentliche Meinung im Lande wie auch der Druck aus Washington brachten diese Stimmen rasch zum Verstummen. Und US- Außenministerin Condoleezza Rice hat sogleich versichert, die USA würden den Schutz Japans mit allen nötigen Mitteln gewährleisten. Ebenso hat US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld klargestellt, dass der Schutz Südkoreas weiterhin garantiert sei.

Technisch dürfte es für Nordkorea kein großes Problem mehr sein, tatsächlich einsetzbare Nuklearwaffen zu entwickeln und auch zu testen. Man hat jedenfalls schon ausreichend spaltbares Material, um bis zu zehn Atomsprengköpfe von der Stärke der auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Bomben herzustellen. Auch zur Herstellung von waffenfähigem Plutonium ist Nordkorea bereits in der Lage. Die Baupläne für Atomwaffen der ersten Generation sind inzwischen ein offenes Geheimnis. Desgleichen ist bekannt, dass die Nordkoreaner den Zündungsmechanismus technologisch beherrschen.

In Pjöngjang rechnet man für den Fall von weiteren Atomwaffentests mit folgende Konsequenzen: Erstens wird die internationale Gemeinschaft begrenzte Sanktionen beschließen; zweitens wird China gezwungen sein, sich an solchen begrenzten Sanktionen gegen die DVRK zu beteiligen; drittens werden die USA ihre militärische Kooperation mit ihren Verbündeten in Ostasien verstärken; und viertens wird sich die sicherheitspolitische Lage in Nordostasien wahrscheinlich noch weiter verkomplizieren.

Für Nordkorea sind jedoch die eigenen nationalen Interessen wichtiger als sein Verhältnis zu China. Deshalb wird das Regime nicht darauf verzichten, mittels Atomwaffentests seine nationale Sicherheit aus eigener Kraft zu gewährleisten. Davon wird es sich durch die Interessen Pekings nicht abhalten lassen, und auch nicht durch einen möglichen chinesischen Druck auf Pjöngjang. Denn die eigene Sicherheit will das Regime letzten Endes keinen anderen Mächten anvertrauen, es will in dieser Hinsicht nicht auf Bündnisbeziehungen angewiesen sein. Die DVRK wird also weitere Atomwaffentests durchführen, weil die Vorteile in ihren Augen die Nachteile überwiegen.

Was China betrifft, so hat das Land für den Fall weiterer nordkoreanischer Atomwaffentest keine großen Alternativen, denn die sicherheitspolitischen Beziehungen zwischen China und der DVRK stellen keine Einbahnstraße dar. Peking kann auf Pjöngjang keinen übermäßigen Druck ausüben. Es hat einfach keine Möglichkeit, die Nordkoreaner daran zu hindern, ihre fundamentalen Interessen zu verfolgen, ohne damit seine eigenen fundamentalen Interessen zu beeinträchtigen. Zwischen beiden Ländern gibt es also eine Interessenbalance, die auch heute noch Bestand hat, da die Gefahr eines „unabhängigen Taiwans“ noch drängender geworden ist.

Aus diesen Gründen sind in den letzten zwölf Jahren alle chinesischen Bemühungen, die DVRK zur Einstellung ihres Atomwaffenprogramms zu überreden, prinzipiell gescheitert. Sollte Nordkorea weitere Atomwaffentests durchführen, wird China zwar nicht umhin können, sich an eventuellen Sanktionen zu beteiligen, auch an Import- und Exportrestriktionen für nukleare Technologie. Doch ökonomische Sanktionen dürfte und sollte China blockieren. Innerhalb des Spektrums von Optionen – zwischen zu weichen Sanktionen, mit denen wir uns als wenig verantwortungsvolle Macht darstellen würden, und zu harten Sanktionen, die Nordkorea zu extremen Reaktionen zwingen oder aber einen „Regimewechsel“ herbeiführen würden – kann sich Peking nur am Kriterium des kleineren Übels orientieren.

Aus dieser Analyse folgt, dass wir der Frage der nordkoreanischen Atomtests größte Aufmerksamkeit schenken, ohne indessen einem realitätsblinden Pessimismus zu verfallen.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Dingli Shen ist Leiter des Instituts für Internationale Studien und zugleich Direktor des Zentrums für Amerikastudien an der Fudan University in Schanghai, wo er auch das „Programm für Abrüstung und regionale Sicherheit“ leitet.

Le Monde diplomatique vom 10.11.2006, von Dingli Shen