10.11.2006

Grober Keil

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Grober Keil

Seit einigen Jahren kursiert in den Medien das Etikett „Islamo-Faschismus“. Kürzlich hat es auch George W. Bush entdeckt von Stefan Durand

Gilles Deleuze polemisierte 1977 gegen das „schale Denken der Neuen Philosophen“ und warf ihnen vor: „Sie hantieren mit riesigen Begriffen, so riesig wie hohle Zähne – das Gesetz, die Macht, der Herr, die Welt, die Rebellion, der Glaube usw. Damit können sie groteske Mixturen, summarische Dualismen herstellen: das Gesetz und der Rebell, die Macht und der Engel.“ So „kriegen sie alles klein“, die ganze Arbeit derer, die sich bemühen, „präzise artikulierte oder sehr differenzierte Begriffe zu bilden, um den grobschlächtigen Dualismen zu entkommen“1 .

Dreißig Jahre später nun propagieren diese immer noch „schalen“, aber nicht mehr wirklich „neuen“ Denker – „Philosophen“ möchte man sie nicht nennen – auf der Grundlage „grotesker Mixturen“ in der französischen Öffentlichkeit den hohlen Begriff des „islamischen Faschismus“.

Man könnte einfach darüber hinweggehen, hätte nicht US-Präsident George W. Bush diesen Begriff am 7. August verwendet und wäre er nicht auch bei anderen offiziellen Auftritten US-amerikanischer Politiker aufgetaucht. Verschiedene Organisationen – al-Qaida, Muslimbrüder, Hamas oder Hisbollah – wurden bei solchen Anlässen in einen Topf geworfen und pauschal zu „Nachfolgern der Nazis und Kommunisten“ erklärt. Mit der Neubewertung des „Kriegs gegen den Terrorismus“ als „Krieg gegen den islamischen Faschismus“ wird versucht, die fundamentalistischen islamischen Bewegungen in einen Kontext einzureihen, so wie man im 20. Jahrhundert unterschiedslos von „Totalitarismus“ sprach. Die aktuelle Meinungsmache zielt darauf ab, der Kriegstreiberei eine neue Legitimation zu verschaffen, indem sie sich auf grobe Vergleichsbegriffe stützt und die alte „Politik der Angst“ wiederbelebt.

Im Weekly Standard brüstete sich der Journalist Stephen Schwartz kürzlich damit, Schöpfer des Kunstworts „Islamo-Faschismus“ zu sein.2 Schwartz ist im Übrigen auch Mitarbeiter der umstrittenen Internetpublikation FrontPage Magazine von David Horowitz. Da Schwartz den Begriff aber erstmals vor fünf Jahren benutzt hat, kann er ihn schwerlich erfunden haben. Es war vielmehr der Publizist und Historiker Malise Ruthven, der ihn 1990 im Independent zum ersten Mal verwendet hat, um die Diktaturen in der muslimischen Welt zu beschreiben.3 Christopher Hitchens, ein glänzender, ehemals linker Journalist, der sich wie Schwartz im Irakkrieg auf Bushs Seite schlug, hatte den Begriff nach dem 11. September 2001 übernommen und in den USA bekannt gemacht. Dass die Formulierung „Islamo-Faschismus“ nun in einer Pressekonferenz von Präsident Bush aufgegriffen wurde, könnte auch von Thesen des außerordentlich islamfeindlichen Orientalisten Bernard Lewis angeregt worden sein, der das Weiße Haus berät und als dessen Schüler sich auch Schwartz betrachtet.4

Legt man Faschismusdefinitionen von zum Beispiel Hannah Arendt, Stanley Payne oder Robert Paxton zugrunde, so wird deutlich, dass keine der islamistischen Bewegungen, die Bush summarisch des Islamo-Faschismus bezichtigt, den Kriterien entspricht. Dabei ist es nicht so, dass Religion und Faschismus unvereinbar wären. Auch wenn Payne die Ansicht vertritt, der Faschismus brauche einen säkularen Handlungsspielraum, um sich herausbilden zu können, halten Paxton und andere ihm entgegen, dies gelte nur für europäische Verhältnisse.5 Es kann also durchaus einen muslimischen Faschismus geben, wie es übrigens einen christlichen, einen hinduistischen oder einen jüdischen Faschismus geben kann.

Doch die Bewegungen, die die Bush-Administration angreift, passen nicht in diese Kategorisierung. Der Islamismus ist ein neues und andersartiges zeitgenössisches Phänomen. Gewiss lassen sich in den fundamentalistischen Bewegungen der islamischen Welt manche Elemente des traditionellen Faschismus entdecken: insbesondere die paramilitärische Organisation, die obsessive Beschäftigung mit der Demütigung und Opferrolle einer Gemeinschaft und der Kult um ein charismatisches Oberhaupt (allerdings nicht zu vergleichen mit dem Führerkult um Mussolini oder Hitler). In der Regel aber fehlen alle anderen Merkmale, die als Grundzüge des Faschismus gelten, wie der expansionistische Nationalismus, der Korporatismus, die Bürokratie oder der Körperkult.

Islamistische Bewegungen sind häufig transnational und daher weit entfernt von jenem „integralen Nationalismus“, der den europäischen Faschismus der 1930er-Jahre charakterisiert. Auch wenn Al-Qaida-Zellen in zahlreichen Ländern operieren, auch wenn der Traum bestimmter islamistischer Gruppierungen in der Rückeroberung Andalusiens, Siziliens oder in der Wiedereinrichtung des Kalifats besteht, wehren sich Organisationen wie die Hamas oder die Hisbollah gegen die Besetzung ihres Territoriums. Dabei sind ihre religiöse Ausrichtung und die bewaffneten Aktionen, vor allem die Attentate auf Zivilisten, durchaus anfechtbar. Und was das Taliban-Regime in Afghanistan betrifft, so war es durch seinen religiösen Absolutismus eher mit den obskurantistischen Theokratien des Mittelalters verwandt als mit den faschistischen Diktaturen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg in hochindustrialisierten Gesellschaften durchsetzen konnten.

Im islamischen Kontext fehlt die dem Faschismus inhärente Dimension des Korporatismus, der eine Verschmelzung zwischen Staat, Unternehmen und Berufsverbänden bedeutet. Die enge Beziehung zwischen den Basarhändlern und dem islamistischen Regime etwa im Iran kann man damit nicht vergleichen. Außerdem werden die islamistischen Bewegungen im Allgemeinen nicht von der Militärindustrie eines Landes getragen. Allenfalls im Iran gibt es Verbindungen zwischen der religiösen Führung des Staates und der mächtigen Militärindustrie. Aber eine solche Verbindung gibt es auch in Ländern, die man nicht als „faschistisch“ bezeichnen kann, beispielsweise in den USA, Frankreich oder Japan.

Der Rückgriff auf einen „Parteistaat“ stellt eine notwendige Bedingung für die Ausübung faschistischer Macht dar. Doch die anvisierten islamistischen Gruppen sind vorwiegend nichtstaatliche Organisationen, die an der Macht in ihrem Lande nicht teilhaben oder von staatlicher Seite sogar verfolgt werden. Im Übrigen erscheinen die ideologischen Aspekte, so paradox es klingen mag, wenn die Religion zum ideologischen Leitmotiv wird, bei diesen islamistischen Organisationen oft zweitrangig zu sein. Es existiert hier also kein „Primat der Ideologie“, auf dem nach Raymond Aron6 jedes totalitäre System beruht. Die islamistischen Bewegungen instrumentalisieren vielmehr die Religion und versuchen sich ihrer als Ideologie zu bedienen. Aber dahinter steht nicht der Wille, einen „neuen Menschen“ zu schaffen. Es handelt sich eher um religiöse oder gesellschaftliche „Archaismen“ denn um eine globale und kohärente Weltanschauung. Obendrein hängt der Erfolg, den diese Bewegungen in der Bevölkerung genießen, oft von anderen als ideologischen Faktoren ab. Die Hamas-Wahl beispielsweise spiegelt nicht etwa die Zustimmung des palästinensischen Volkes zur religiösen Ideologie dieser Bewegung wieder, sondern ist vielmehr das Ergebnis einer Protestwahl gegen die Korruption innerhalb der Fatah. Oder nehmen wir den Libanon, wo die Hisbollah massenhaft Anhänger findet, ohne dass diese sich zwangsläufig mit der islamistischen Ideologie identifizieren. Und die Intellektuellen, die solche Gruppierungen unterstützen, tun es im Allgemeinen trotz und nicht wegen der islamistischen Ideologie. Der Faschismus und der Nationalsozialismus dagegen haben gerade durch ihre Ideologien tausende von Intellektuellen in ihren Bann gezogen. Eine Organisation wie al-Qaida kann sich einer Unterstützung dieser Art nur selten rühmen, zumal deren Praktiken eher an Sekten aus alter Zeit erinnern als an die der faschistischen Regime in Europa.

Der Faschismus und der Nationalsozialismus waren Massenbewegungen, gegründet auf die Politisierung und Zustimmung einer breiten Volksmasse, während die islamistischen Organisationen trotz Wirtschaftskrisen und kollektiver Demütigung in den meisten muslimischen Ländern auf Zivilgesellschaften stoßen, in denen die Menschen durchaus an ihren Freiheiten hängen. In Nordafrika haben die fundamentalistischen islamischen Bewegungen nicht wesentlich mehr Zulauf als in Europa die extremen Rechten. Al-Qaida überzeugt nur einen sehr geringen Teil der Muslime. In der gesamten islamischen Welt existieren trotz der häufig von den USA abhängigen Diktaturen lebendige, die Religion nicht praktizierende, antitotalitäre Zivilgesellschaften.

„Der wichtigste Einwand gegen die Versuchung, islamisch-fundamentalistische Bewegungen wie al-Qaida oder die Taliban als faschistisch zu bezeichnen, ist der, dass sie keine Gegenreaktion auf eine schlecht funktionierende Demokratie sind. Damit ist ihre Einheit, um Émile Durkheims berühmte Unterscheidung aufzugreifen, eher mechanisch als organisch.7 Und vor allem jedoch haben sie keine ‚freien Institutionen aufgegeben‘, weil sie solche niemals gehabt haben“, schreibt Robert O. Paxton.8 Es wären noch eine Reihe anderer Elemente zu nennen, um die Analogie mit dem Faschismus zurückzuweisen: kein Nachrichtenmonopol (im Iran und sogar in Saudi-Arabien gibt es trotz strengster Kontrollen durch die religiöse Macht kleine Lücken für die Freiheit), kein Sozialdarwinismus, keine Planwirtschaft oder staatlich gelenkte Industrieproduktion, kein Waffenmonopol usw.

Natürlich ist die Islamische Republik Iran ein problematischer Fall. Deren Präsident Mahmud Ahmadinedschad hat einen „Parteistaat“ im Rücken, mit Hilfe des „Ministeriums für Kultur und islamische Orientierung“ lässt er die Medien kontrollieren; ihm untersteht die planwirtschaftlich organisierte Produktion ebenso wie der riesige Komplex der iranischen Militärindustrie. Aber kann man darum – sogar hier stellt sich die Frage – von Islamo-Faschismus sprechen? Nicht wirklich, noch gibt es das Gegengewicht einer wachen Zivilgesellschaft. Der iranische Präsident muss sich mit der Madschlis, dem Parlament, einigen. Es hat mehrere Monate gedauert, bis das Parlament bereit war, Ahmadinedschad die Einsetzung bestimmter Minister zu genehmigen. Im Übrigen hat die Nummer eins des iranischen Staats, das geistliche Oberhaupt Ajatollah Chamenei, verfügt, dass die Entscheidungen der Regierung der Zustimmung des Schlichtungsrats bedürfen, der zum Beispiel in das Gesetzgebungsverfahren eingreifen kann. Vorsitzender dieses Gremiums ist Haschemi Rafsandschani, der geschlagene Gegenkandidat bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Sommer.

Rivalitätskämpfe im Iran

Ahmadinedschad muss sich auch mit dem früheren Präsidenten einigen, dem „Reformer“ Mohammed Chatami, der immer noch eine beträchtliche Popularität genießt und unter anderem mit Rafsandschani im Führungskollektiv des Schlichtungsrats sitzt, der „Hohen Kammer“, die Chamenei im Oktober 2005 gründete. Der Kommentator Zvi Barel schrieb in der israelischen Tageszeitung Ha’aretz, die antiisraelischen Hetzreden des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad erklärten sich aus „den ideologischen Spannungen und den Kräfteverhältnissen innerhalb der islamischen Republik“.9 Schließlich fällt es dem „Populisten“ Ahmadinedschad außerordentlich schwer, die Eliten zu gewinnen, und ein großer Teil der iranischen Zivilgesellschaft ist entschlossen, gegen die Herrschaft der Ultrakonservativen zu kämpfen.

Auch wenn der Oberbegriff „Islamo-Faschismus“ unangemessen erscheint, bedeutet das nicht, dass es im islamischen Kontext keine Faschismen gibt. In der arabischen und islamischen Welt herrschen viele Diktaturen oder autoritäre Regime, die man als faschistoid bezeichnen könnte. Doch weil sie Verbündete der USA in deren „Weltkrieg gegen den Terrorismus“ sind, bleiben die Diktatoren von Aserbaidschan, Usbekistan, Kasachstan und Turkmenistan, allesamt muslimische Staaten, von der US-amerikanischen Kritik verschont, obwohl der halb faschistische Charakter ihrer Regime nicht zu übersehen ist. Und trotz ihres Fundamentalismus und der religiösen Volksverdummung, trotz der Unterstützung radikal-islamistischer Bewegungen und sonstiger Entgleisungen gilt die saudische Monarchie der US-Administration als sakrosankt. Das Bekenntnis zur Außenpolitik Washingtons scheint es wert zu sein, den Saudis für alle autokratischen Verirrungen die Absolution zu erteilen. Und nachdem der libysche Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi, wie von Washington verlangt, seiner turbulenten Vergangenheit abgeschworen hatte, konnte er den 37. Jahrestag seiner Machtergreifung mit einem Aufruf zur Ermordung seiner politischen Gegner feiern, ohne dass sich im Westen irgendjemand darüber aufgeregt hätte.10

Es war zweifellos berechtigt, die Diktatur von Staatspräsident Saddam Hussein, der Baath-Partei und ihres Geheimdienstes, des Mukhabarat, als faschistisch zu bezeichnen. Husseins Regime war ultranationalistisch, es beruhte auf einem übersteigerten Führerkult, machte keinen Unterschied zwischen öffentlicher und Privatsphäre und verhielt sich obendrein noch expansionistisch. Bei einer Konferenz 1987 in Kuwait hatte der palästinensische Intellektuelle Edward Said die Herrscher der Golfregion gewarnt: „Wenn ihr Saddam Hussein weiterhin finanziell unter die Arme greift, macht ihr euch zu Komplizen dieses arabischen Faschismus, dem ihr am Ende zum Opfer fallen werdet.“ Die kuwaitischen Machthaber verstanden die Warnung erst nach der Invasion ihres Landes am 2. August 1990.

Die Scheinheiligkeit ist umso frappierender, wenn man bedenkt, dass diejenigen, die wie die neuen Taliban heute als Islamo-Faschisten bezeichnet werden, sich in ihrer Ideologie kaum von der islamischen Guerilla unterscheiden, die während ihres Kampfs gegen die Sowjets in Washington als das „moralische Äquivalent“ der Gründerväter der Vereinigten Staaten beweihräuchert wurden.11 Auch die ägyptische Muslimbruderschaft wurde von den britischen und US-amerikanischen Geheimdiensten großzügig unterstützt. Und die israelische Regierung begünstigte die Muslimbrüder in Palästina (bevor aus ihnen die Hamas entstand), um die Macht der Fatah, der Marxisten und damit auch der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO einzudämmen. Bestimmte fanatische Bewegungen, die den Terrorismus zu ihrer Waffe gemacht haben, können und müssen entschieden kritisiert werden, aber nicht mit provokativen, gezielt in die Welt gesetzten Begriffen wie „Nazi-Islamismus“ oder „Islamo-Faschismus“, die ganze Bevölkerungen stigmatisieren, indem sie deren Religion direkt mit den Extremisten in Verbindung bringen. Einen irreführenden Begriff abzulehnen bedeutet keineswegs, sich der Kritik an den Verbrechen und der Weltanschauung radikaler Islamisten zu enthalten. Zahlreiche muslimische Intellektuelle lassen sich in ihrer Meinungsfreiheit nicht beschneiden. Hat der brillante, 1999 verstorbene pakistanische Wissenschaftler Eqbal Ahmad nicht unerhörten Mut bewiesen, als er vor der aufgebrachten Menge seiner Landsleute den durch die iranische „Fatwa“ mit dem Tod bedrohten Schriftsteller Salman Rushdie verteidigte?

Doch all diese Überlegungen zur exakten Definition des Faschismus sind für die Jacksonianer12 und die Neokonservativen, die in der Außenpolitik der USA den Ton angeben, kaum von Belang. Für sie ist der Begriff „islamischer Faschismus“ vor allem deshalb nützlich, weil er Emotionen schürt und Angst verbreitet. Eben darin liegt die große Gefahr. Die Idee, der Westen bekämpfe einen neuen Faschismus und neue Hitlerfiguren, soll in der öffentlichen Meinung eine Bresche schlagen für die Notwendigkeit des „Präventivkriegs“. „Die Alliierten haben schließlich auch Dresden bombardiert“, erwiderten einige Neokonservative auf die Kritik am israelischen Abwurf hunderter von Streubomben auf libanesische Wohnviertel.

Ein, zwei, drei, viele Hitler

Gegner zu „nazifizieren“ ist nicht neu. Immer wieder entdecken die westlichen Medien ein „Viertes Reich“ und einen „neuen Führer“. Nacheinander wurden Gamal Abdel-Nasser, Jassir Arafat, Slobodan Milosevic, Saddam Hussein und jetzt Mahmud Ahmadinedschad mit Hitler verglichen. Nasser wurde der „Hitler vom Nil“ genannt, und Menachem Begin hat Arafat als „arabischen Hitler“ bezeichnet.

Heute bieten der iranische Präsident und seine Kampfreden wieder einen fruchtbaren Boden für die Manipulation der Medien. So hat beispielsweise der in Paris lebende Exiliraner Amir Taheri, der vor seiner Flucht im Jahr 1980 Chefredakteur der Tageszeitung Kayhan war, die „Nachricht“ verbreitet, das iranische Parlament habe beschlossen, die jüdische Bevölkerung solle demnächst gezwungen werden, den gelben Stern zu tragen. Obgleich eine Falschmeldung, wurde das Gerücht unter dem Titel „Das 4. Reich“ von der konservativen kanadischen Tageszeitung The National Post aufgegriffen. Mochten die iranische Presse und iranische Juden die Nachricht noch so heftig bestreiten, der „Mediencoup“ war gelungen, und seither sind in Kanada und in den USA viele davon überzeugt, dass die jüdische Bevölkerung im Iran einen gelben Stern tragen muss und der Iran infolgedessen ein Viertes Reich darstellt – was sich für den Fall, dass die USA einen Präventivkrieg gegen den Iran beschließen sollten, als sehr nützlich erweisen kann.

Gewalt ist keine Sprache

Im Lauf der Jahre hat der britische, in Princeton lehrende Historiker Bernard Lewis die Auffassung popularisiert, der zufolge „Orientalen“ nur durch Gewalt zur Räson gebracht werden könnten. Er wäre gut beraten, Hannah Arendt zu lesen, die schrieb: „Trotz aller gegenteiligen Hoffnungen sieht es so aus, als ob Gewalt die einzige Sprache sei, die die Araber nicht verstehen können.“13

Dutzende disparater und oft auch untereinander zerstrittener Bewegungen, die ganz verschiedene Ziele verfolgen, allesamt als Islamo-Faschisten zu bezeichnen, macht es möglich, den Mythos einer weltweiten islamischen Verschwörung zu erschaffen. Die profanen geopolitischen Fragen nach den Ursachen, die zur Entstehung der meisten dieser Bewegungen geführt haben, werden so gänzlich beiseite geschoben. Insbesondere die kolonialen Besetzungen und die Gebietskonflikte müssen auf gerechte Weise gelöst werden, damit der aktuelle islamistische Terror sich nicht mehr darauf berufen kann.

Alle, die gegen diese so absurden wie kontraproduktiven Kriege protestieren, werden mit billigen Anspielungen auf Churchill verspottet. Und statt in ihnen besonnene Geister zu erkennen, gelten sie als „nützliche Idioten“, moderne Wiedergänger von Edouard Daladier und Neville Chamberlain14 . „Nichts könnte schlimmer sein als vermeintliche Lehren aus der Geschichte, wenn diese falsch verstanden und falsch gedeutet wird“, hat Paul Valéry einmal gesagt.

Fußnoten:

1 Gilles Deleuze, „Über die Neuen Philosophen und ein allgemeineres Problem“, in: „Schizophrenie und Gesellschaft“, übersetzt von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2005, S. 133. 2 Vgl. den Artikel von Stephen Schwartz, „What is islamofascism?“, in: The Weekly Standard, 17. August 2006. 3 „Von Marokko bis Pakistan ist die autoritäre Herrschaft, um nicht zu sagen der Islamo-Faschismus, eher die Regel als die Ausnahme“, in: The Independent, 8. September 1990. 4 Siehe Alain Gresh, „Bernard Lewis et le gène de l’islam“, in: Le Monde diplomatique, August 2005. 5 Payne zufolge würde „ein religiöser Faschismus unvermeidlich seinen Führer einschränken, nicht nur durch die kulturelle Macht des Klerus, sondern auch durch die Vorschriften, Regeln und Werte traditioneller Religionen“. Vgl. Robert O. Paxton, „Anatomie des Faschismus“, übersetzt von Dietmar Zimmer, München (DVA) 2006, S. 297. 6 Vgl. Raymond Aron, „Demokratie und Totalitarismus“, Hamburg (Wegner) 1970. 7 Zur Vereinfachung unterscheidet Durkheim die „organische Solidarität“, charakterisiert durch Differenzierung und ein schwaches Kollektivbewusstsein, von der „mechanischen Solidarität“, charakterisiert durch Ähnlichkeiten und ein starkes Kollektivbewusstsein. 8 Vgl. Robert O. Paxton, „Anatomie des Faschismus“, a. a. O., S. 298. 9 Dieser Artikel erschien am 3. November 2005 unter dem Titel „Cause toujours, Ahmadinejad“ auch im Courrier International. 10 Reuters, Meldung vom 31. August 2006. Zu anderen Zeiten hätte diese Nachricht in den großen Zeitungen der USA für Schlagzeilen gesorgt. 11 Ein globales Panorama dieser gefährlichen Beziehungen liefert der Professor der Columbia-Universität Mahmood Mamdani in „Guter Moslem, böser Moslem. Amerika und die Wurzeln des Terrors“, Hamburg (Edition Nautilus) 2006. 12 Walter Russel Mead vom Council on Foreign Relations hat die Ultranationalisten, die nicht zögern, nach außen einzugreifen, aber im Gegensatz zu den Neokonservativen nicht am inneren „Nation Building“ teilnehmen, nach dem US-amerikanischen Präsidenten Andrew Jackson (1829–1837) „Jacksonianer“ genannt. Dick Cheney und Donald Rumsfeld gelten als „Jacksonianer“. 13 Hannah Arendt, „Frieden oder Waffenstillstand im Nahen Osten“, in: Eike Geisel und Klaus Bittermann (Hg.), „Die Krise des Zionismus“, Band 2: Essays und Kommentare, Berlin (Edition Tiamat) 1989. 14 Anspielung auf das Münchener Abkommen von 1938, bei dem Großbritannien und Frankreich, vertreten durch Chamberlain und Daladier, zur Vermeidung eines Krieges Hitlers Nazideutschland erlaubten, das Sudetenland zu annektieren, obwohl die junge Republik Tschechoslowakei mit der Unterstützung der beiden Demokratien gerechnet hatte. Aus dem Französischen von Grete Osterwald Stefan Durand ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 10.11.2006, von Stefan Durand