15.12.2006

Die Partei der Knastbrüder

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Die Partei der Knastbrüder

Eine mächtige Mafia hält den Staat São Paulo im Griff von João de Barros

Drei nächtliche Anschlagsserien. Molotowcocktails und selbst gebastelte Bomben flogen gegen Polizeireviere, öffentliche Gebäude, Banken und Supermärkte. Mehr als hundert Busse gingen in Flammen auf. Die 1 004 Attentate in São Paulo im Mai, Juli und August wurden von der kriminellen Vereinigung „Erstes Kommando der Hauptstadt“ (Primeiro Comando da Capital, PCC) verübt. Sie legten an manchen Tagen die ganze Stadt lahm und damit das Herz der brasilianischen Wirtschaft – der Großraum São Paulo ist mit 20 Millionen Einwohnern eine der Megalopolen der Welt.

Die Geschäfte blieben geschlossen, ebenso Kinos und Theater, Restaurants und Bars, der Verkehr kam zum Erliegen. Im Juli standen zwei Millionen Einwohner der Stadt von einem Tag auf den anderen ohne funktionierende öffentliche Verkehrsmittel da.

Die offizielle Bilanz der Ereignisse: 34 Polizisten und 11 Gefängniswärter wurden getötet; 123 Zivilisten wurden von Todesschwadronen, die mit der Polizei von São Paulo in Verbindung stehen sollen1 , hingerichtet. Bis jetzt war dies die blutigste Episode des offenen Krieges, den das PCC (von seinen Mitgliedern die „Partei“ genannt) seit den 1990er-Jahren gegen die Staatsgewalt von São Paulo führt. Heute kontrolliert die kriminelle Vereinigung 130 der 144 staatlichen Gefängnisse.

Das Erste Kommando der Hauptstadt wurde im August 1993 im Gefängnis von Taubaté gegründet, im Inneren des Bundesstaats São Paulo. Hier herrscht ein unerbittliches Regiment: Einzelzellen, knapp zwei Stunden Hofgang pro Tag; Radio und Fernsehen, Zeitungen, Zeitschriften und Bücher sind verboten, private Besuche ebenso; es gibt nur kaltes Wasser, die Toiletten werden von den Wärtern erst geleert, wenn die Luft völlig verpestet ist; im Essen, das man kaum als solches bezeichnen kann, wimmeln Kakerlaken. Wagt es ein Häftling, sich laut zu beschweren, wird er mit Eisenrohren verprügelt.

Der Direktor dieser Strafanstalt, José Ismael Pedrosa, ließ den Kerkermeistern diese Misshandlungen durchgehen. Er war zuvor Gefängnisdirektor von Carandiru, wo 1992 ein Stoßtrupp der Militärpolizei ein Massaker verübte und 111 Insassen tötete. (Pedrosa kam im Oktober 2005 durch ein dem PCC zugeschriebenen Attentat ums Leben.)

Es begann im Gefängnis von Taubaté

An jenem 31. August 1993 erlaubte Pedrosa den Gefangenen von Taubaté, ein Fußballturnier zu veranstalten, nachdem er zuvor ein Jahr lang alle Anfragen abgelehnt hatte. Doch zu dem Spiel zwischen dem Comando Caïpira, dessen Mitglieder aus dem Bundesstaat stammten, und der Hauptstadtmannschaft, die sich den Namen Primeiro Comando da Capital gegeben hatte, sollte es gar nicht erst kommen. Als sich die beiden Mannschaften am Eingang zum Hof begegneten, packte der Häftling José Márcio Felicio, genannt „Geleião“ (der „Schwabbelige“), 1,90 Meter groß und 130 Kilo schwer, einen Gegner mit beiden Händen am Kopf und brach ihm das Genick. Der allgemeine Aufruhr legte sich erst, als ein weiterer Häftling ermordet wurde, ebenfalls von „Geleião“.

Danach schloss er mit sieben anderen Gefangenen, die auch eine Strafe zu gewärtigen hatten, einen Pakt: „Wer einen von uns angreift, greift uns alle an – wir sind die Mannschaft PCC, die Gründer des Ersten Hauptstadtkommandos.“

Die „Ideologie der Brüder“ verbreitete sich sofort in allen Gefängnissen. „Geleião“, „Cesinha“ (César Augusto Roriz da Silva) und „Mizael“ (Mizael Aparecido da Silva) leiteten die ersten Aktionen des PCC, vor allem der äußerst gewalttätige „Cesinha“ sowie „Mizael“, der hellste Kopf der Gruppe. Er soll das Statut der neuen Vereinigung verfasst haben. Es umfasst 16 Artikel, die jedes Mitglied strikt befolgen muss. Im ersten Artikel heißt es: „Loyalität, Respekt und Solidarität der Partei gegenüber stehen über allem.“ In den folgenden Artikeln ist von einer „Vereinigung gegen die ungerechte Behandlung in den Gefängnissen“ die Rede, von der Unterstützung der Menschen draußen für die gefangenen „Brüder“, von Respekt und Solidarität unter den Gefangenen statt Diebstahl, Vergewaltigung und Erpressung, die das Statut verurteilt. Wer diese Gesetze missachtet, kann mit dem Tod bestraft werden. Das Dokument schließt mit dem Aufruf: „Wir kennen unsere Kraft und die unserer Gegner. Sie sind mächtig, aber wir sind bereit und einig; und ein einiges Volk kann niemals besiegt werden. Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden!“

Neue Mitglieder wurden von einem der „Partei“-Gründer „getauft“ und hörten direkt auf sein Kommando. Die Organisation wuchs schnell. Kaum drei Jahre später verfügte sie bereits über eine Armee von „Generälen“, die das Statut verkündeten, Häftlinge um die Bruderschaft organisierten und Gegner bestraften. Nach ihrer Taufe wurden neue Mitglieder zu „Flurpiloten“ ihrer Gefängnistrakte ernannt und tauften dann wieder andere Häftlinge, die „Brüder“. Keiner wurde gezwungen, der Organisation beizutreten. Sympathisanten hießen „Cousins“.

Die repressive Justizpolitik der letzten zehn Jahre hat dazu geführt, dass allein im Bundesstaat São Paulo 141 000 Menschen inhaftiert sind. Das sind doppelt so viele Häftlinge, wie die Haftanstalten eigentlich aufnehmen können.2 Die meisten von ihnen gehören inzwischen dem PCC an oder stehen ihm nahe. „Cesinha“ und „Geleião“ leiteten die wachsende Organisation per Mobiltelefon von ihren Zellen aus.3

Die Regierung von São Paolo bemerkte das erst im Jahre 2001, als anlässlich der Verlegung einiger Häftlinge nach Taubaté eine riesige Gefangenenrevolte losbrach. Denn diese Verlegung geschah entgegen einer Absprache zwischen den Führern des PCC und der Regierung des Bundesstaats. Um Aufstände zu vermeiden, durch die die mittelalterlichen Haftbedingungen in den überfüllten Gefängnissen bekannt werden würden, hatte die Regierung den Häftlingen ein paar Zugeständnisse gemacht und dabei stillschweigend anerkannt, dass sich die Gefängnisse in der Hand der „Partei“ befanden. Die Verlegung stellte einen Bruch dieser Vereinbarung dar, und die „Piloten“ erhielten per Mobiltelefon den Befehl zu revoltieren: „virar“. Binnen kurzer Zeit meuterten 30 000 Häftlinge in 29 Gefängnissen in 19 Städten, vor allem in der Hauptstadt. Das Fernsehen zeigte den Aufstand live, das spektakuläre Ereignis machte das PCC berühmt und enthüllte schonungslos die Missstände im Strafvollzug. Die „Partei“ hatte ihr Ziel erreicht: Ihr Aufstand war die Topmeldung des Tages in Brasilien und im Ausland. Die Gegenmaßnahmen der Regierung verfehlten ihr Ziel: Die Anführer wurden auf verschiedene Gefängnisse verteilt, wodurch die PCC-Propaganda weiter verbreitet wurde, die Vorteile für „Parteimitglieder“ versprach. Heute sind es schätzungsweise 50 000.

Dabei dient der legitime Kampf gegen die Unterdrückung im Strafvollzugssystem als Fassade für ein lukrativeres Geschäft: den Drogenhandel, der nach Schätzungen allein in São Paulo einen Jahresumsatz von 300 Millionen Dollar erzielt. Das PCC hat den Bundesstaat in Regionen aufgeteilt, die von „Straßenpiloten“ betreut werden. Sie machen ihre Geschäfte mit einem Netzwerk von Zwischenhändlern, die für die „Geschäftsführer“ der Drogenbosse arbeiten. 4

„Diese Bosse benehmen sich wie die Mafiabosse im Film“, sagt Kommissar Cosmos Stikovitz Filho vom Drogendezernat. „Sie geben nur Befehle, ohne sich die Finger schmutzig zu machen. Diese Leute genießen einen sozialen hohen Status, fahren im BMW oder Benz durch die Gegend, sind über jeden Verdacht erhaben. Wenn ich Ihnen ein paar Namen nennen würde, würden Sie umfallen.“

Das PCC hat in einigen Bezirken die Bandenkriege beendet und für Ruhe gesorgt, deshalb fällt es ihm nicht schwer, Jugendliche aus den Armenvierteln als Kleindealer zu rekrutieren. Die schätzen sich glücklich, einer so mächtigen Organisation anzugehören, sei es auch auf unterster Ebene.

Die graue Eminenz der Unterwelt

Auch in den Strafanstalten werden Drogen verkauft. Ein Häftling, den ich im Gefängnis von Hortolandia traf, erklärte mir: „Jeder Gefängnisdirektor weiß, dass maconha (Cannabis) den Häftling beruhigt; es erlaubt ihm, zu ‚reisen‘ und Luftschlösser zu bauen. Wenn maconha knapp wird, steigt die Gewalt. Deshalb wird der Konsum toleriert.“ Ein anderer Häftling lobt das PCC: „Es gibt weniger Tote, weil es die Insassen kontrolliert. Niemand tötet ohne Erlaubnis. Die Handys und die Drogen kommen durch Besucher und bestochene Aufseher rein. Und das PCC hilft denen, die am wenigsten haben: Es besorgt ihnen Sachen, die sie brauchen, zahlt den Bus für Besucher, die von weit her kommen, organisiert am Kindertag eine Tombola mit Bällen und Fahrrädern. Wer tut so viel? Nur die Partei!“

Er vergisst allerdings zu erwähnen, dass jedes Mitglied seinen Monatsbeitrag zahlen muss – der Entlassene ebenso wie die Familie eines Häftlings. Wer dies nicht tut, kann mit dem Tode bestraft werden. Er muss das Geld aufbringen, ganz gleich, ob er Pech hatte, überfallen wurde oder seine Geschäfte nicht gut liefen. „Das PCC ist überall“, sagt Staatsanwalt Márcio Christino. „Es beherrscht die Gefängnisse. Es organisiert Ausbrüche. Es tötet seine Feinde oder zwingt sie zum Selbstmord. Es verübt Bombenanschläge. Es korrumpiert die Vertreter der öffentlichen Ordnung. Es bietet den Autoritäten die Stirn.“

Ein mythischer Name geistert durch die Unterwelt, die Polizeibehörden und die Medien: „Marcola“, der Spitzname des Bankräubers M. Marco Williams Herbas Camacho, der zu 39 Jahren Haft verurteilt wurde, von denen er schon 19 abgesessen hat. Er soll zudem die Ermordung eines corregidors5 geplant haben. „Marcola“ verhält sich unauffällig, gilt als gebildet – man sagt, er habe mehr als 2 000 Bücher gelesen – und spricht nicht mit Journalisten. In den Zeitungsarchiven gibt es nur wenige Bilder von ihm, und von ihm erfährt man nur, was er bei Verhören zu antworten geruht.

Polizei und Innenministerium halten „Marcola“ für den eigentlichen Kopf der Organisation. Er hat dagegen stets erklärt: „Es gibt keinen Beweis für meine Zugehörigkeit zum PCC. Die Presse und sogar die Gefangenen lenken die Aufmerksamkeit auf mich. Ich bin niemandes Chef. Ich kämpfe für meine Rechte. Wenn sich die Masse der Inhaftierten meinem Kampf anschließt, kann ich nichts dafür.“

Ob mit oder ohne Beweise, „Marcola“ sitzt in Isolationshaft (Regime Disciplinar Diferenciado, RDD): Eine sechs Quadratmeter kleine Einzelzelle mit Luke zum Lüften, Betonbett, Kloeimer und kalter Dusche. Im Sommer steigen die Temperaturen auf über vierzig Grad. Zwei Stunden Hofgang pro Tag und zwei Stunden Besuchszeit pro Woche für zwei Besucher, Trennscheibe oder Gitter, kein körperlicher Kontakt. Es gibt weder Radio noch Fernsehen, nur Lesen ist erlaubt.

Bei seiner Befragung durch den parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Waffenhandel, soll „Marcola“ einem Abgeordneten zufolge gesagt haben: „Wollen Sie hier das Verbrechen bekämpfen? Aber es findet da draußen statt! Bekämpfen Sie die Wirtschaftskriminalität! Ich möchte nicht respektlos erscheinen, aber ich büße gerade für das, was ich getan habe, und auch für das, was man mir vorwirft. Doch die Abgeordneten, diese gut bezahlten Blutsauger, sind immun! Die Politiker übernehmen nie die Verantwortung für ihre Fehler und ihr Versagen, während ich für die meinen geradestehen muss.“

Bei der Attentatserie von São Paulo im Frühsommer bot die Zentralregierung Hilfe an.6 Präsident Lula wollte sogar Bundestruppen schicken. Cláudio Lembo von der bürgerlichen Oppositionspartei PFL (Partido da Frente Liberal), Gouverneur von São Paulo, lehnte dies ab und erklärte, die Lage sei unter Kontrolle. So kurz vor den Wahlen am 1. Oktober 2006 konnte Lembo das Angebot des Präsidenten nicht annehmen, ohne damit das Scheitern seiner Polizei einzugestehen, die mit ihren 150 000 Mann als die beste im Land gilt.

Selbst als am 12. August 2006 der Journalist Guilherme Poetanova und der Kameramann Alexandre Calado gekidnappt wurden, änderte Lembo seine Meinung nicht. Beide Entführten arbeiteten für den einflussreichen Sender Rede Globo. Als Bedingung für ihre Freilassung forderte das PCC die Ausstrahlung einer Videobotschaft, die „eine würdige Behandlung der Gefangenen gemäß dem Strafvollzugsgesetz“ forderte. Obwohl die Polizei sich dagegen wehrte, wurde das Video gesendet. Wenige Stunden später tauchten die Entführten wieder auf.

Es sind die Menschenrechtsverletzungen, Demütigungen und vielfältigen Mängel in den Gefängnissen, die die Banden zu Anwälten der Gefangenen machen. „Die Polizei hat Angst, die Menschen haben Angst, und sie haben allen Grund dazu“, empört sich die Soziologin Vera Malaguti Batista, „Aber wenn man mit dem Problem weiterhin so unvernünftig umgeht, werden der Hass, die Wut, die Gewalt weiter wachsen. (…) Die Leute müssen über die Insassen und die Zustände in den Gefängnissen Bescheid wissen.“7

Im Mai erklärte Präsident Lula auf dem EU-Lateinamerika-Gipfel in Wien, die Wurzel des Übels läge in den unzureichenden Sozialleistungen, und fügte hinzu: „Es kostet uns weniger, ein Kind zur Schule und auf die Universität zu schicken, als wenn ein Jugendlicher im Gefängnis sitzt.“8 Wird die Umsetzung dieser weisen Aussage ein Ziel seiner zweiten Amtszeit sein?

Fußnoten:

1 Amnesty international, „Brazil : Further criminal attacks in São Paulo“, AMR 19/025/2006 vom 14. Juli 2006. 2 Siehe Mario Osava, „La situation explosive des prisons du Brésil“, in: InfoSud, Genf, 17. Juli 2006, www.infosud.org., „São Paulo, el poder tras las rejas“, in: El País, Madrid, 30. September 2006. 3 Diese Art der Kommunikation wurde aufgegeben, weil die Polizei die Telefone abhörte. Befehle werden jetzt von Verwandten der Häftlinge übermittelt, oder, wie einige behaupten, von ihren Anwälten. 4 Das PCC kämpft ebenfalls gegen das rivalisierende „Rote Kommando“ (Comando Vermel) um die Herrschaft über die Gefängnisse und die Kontrolle des Drogenhandels in São Paulo. 5 Beamter der Kontrollbehörde, die Unregelmäßigkeiten innerhalb der Justiz untersucht. 6 40 Millionen Euro, vorgesehen zum Teil für den Wiederaufbau der zerstörten Gefängnisse. 7 Pagina 12, Buenos Aires, 16. Mai 2006. 8 El País, Madrid, 15. Mai 2006. Aus dem Französischen von Sabine Jainski João Barros ist Journalist bei der Monatszeitschrift Caros Amigos in Rio de Janeiro.

Le Monde diplomatique vom 15.12.2006, von João de Barros