11.03.2011

Enthüllung des Verschleierten

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Enthüllung des Verschleierten

Was in Pakistan vor sich geht von Peter Pannke

Noch immer kann man Menschen finden, die sich voller Nostalgie an das Lahore ihrer Kindheit erinnern. Man trifft sie vor allem in der indischen Schwesterstadt Delhi, wohin die Hindus und Sikhs des westlichen Punjab bei der blutigen Teilung des Subkontinents 1947 flohen; doch die kosmopolitische Stadt, in der es sich geruhsam leben ließ, hat sich seither gründlich verändert. Die historische Altstadt von Lahore nimmt heute nur noch einen winzigen Teil der explodierenden Metropole ein, und auch sie ist im Verschwinden begriffen. 2 500 renovierungsbedürftige Gebäude machte ein Projekt der Aga-Khan-Stiftung zur Bewahrung des architektonischen Erbes vor zehn Jahren aus, heute steht davon nur noch die Hälfte, der Rest musste Neubauten weichen.

Die Freudenmädchen, denen nach der Staatsgründung offiziell der Status von Künstlerinnen zuerkannt wurde und die ein legendäres Quartier in der Altstadt bevölkerten, wanderten in die Golfstaaten ab oder bieten ihren Kunden per Website Privatbesuche an. Mit ihnen verschwand eine jahrhundertealte Musik- und Tanztradition. Im Cooco’s Den, dem Restaurant, das der Maler Iqbal Hussain – selbst Sohn einer Tänzerin – im Dachgeschoss eines Hauses eröffnete, von dem man einen atemberaubenden Blick auf die Badshahi-Moschee hat, bleiben die Gäste aus.

Und noch eine Tradition ist bedroht: Zum Frühlingsfest Basant Papierdrachen steigen zu lassen, stellt für die Einwohner von Lahore einen der Höhepunkte des Jahres dar. Bei den Drachenwettkämpfen kommt es darauf an, die Schnur des Gegners mit der eigenen durchzutrennen, wozu die Schnüre in Leim getaucht und mit Glassplittern bestrichen werden. Neuartige, rasiermesserscharfe Beschichtungen hatten tödliche Unfälle zur Folge, Motorradfahrern wurden die Köpfe abgetrennt, Stromleitungen gekappt, Passanten von Gewehrsalven verletzt, die man zur Feier eines Sieges abfeuerte. Wie schon in den vorangegangenen Jahren wurde das Spektakel deshalb untersagt, und Lahore musste auch in diesem Februar auf sein traditionelles Fest verzichten.

Doch die Sorgen der Einwohner sind mehr als nur kultureller Natur. Bombenanschläge, Entführungen und Schießereien nehmen zu. Im Juni 2010 wurde der Schrein des Stadtheiligen Ali Bin Hujwiri, von den Gläubigen Data Ganj Bakhsh, „Spender geistiger Schätze“, genannt, Ziel eines blutigen Anschlags, als sich gerade tausende Pilger zum Gebet versammelt hatten. 42 Menschen starben, hunderte wurden verletzt. Seither gleicht der Schrein einem Hochsicherheitstrakt.

Beim Jahrestag des Heiligen im Januar 2011 zeigten Hunderttausende, dass sie sich nicht durch Terrordrohungen abschrecken lassen wollten, doch erneut kam es zu einem Anschlag – diesmal war eine schiitische Prozession in der Nachbarschaft das Ziel. Anfang Februar dann tötete eine weitere Bombe drei Besucher vor dem Heiligtum des Haider Sayeen. Seitdem werden alle Sufi-Schreine der Stadt bewacht – 1 000 gibt es davon allein in Lahore, 7 000 Polizisten sind dafür abgestellt.

Einer der ersten Sufis, die sich im Industal niederließen, war Ali Bin Hujwiri. Ihre Botschaft eines auf Verständigung mit der einheimischen Bevölkerung ausgerichteten Islam verbreiteten sie durch Qawwali-Hymnen, die bis heute populär sind. „Wer behauptet, es bereite ihm kein Vergnügen, der Musik zu lauschen, ist entweder ein Lügner und Heuchler oder er ist nicht bei Sinnen und befindet sich somit außerhalb der Kategorie von Mensch und Tier“, hielt Hujwiri im 11. Jahrhundert im „Kashf al-Mahjub“ (Enthüllung des Verschleierten), der ersten Abhandlung über den Sufismus in persischer Sprache, den puritanischen Verfechtern des Musikverbots entgegen.

An seinem Schrein, den bis heute täglich zehntausende, bei Festen bis zu eine halbe Million Pilger besuchen, lässt sich die Entwicklung der pakistanischen Gesellschaft ablesen. Traditionell holten auch die politischen Herrscher den Segen Hujwiris ein, doch das änderte sich, als sich 1977 der Militärdiktator Zia ul-Haq an die Macht putschte. Er versuchte den Einfluss der Sufis einzuschränken, die seit jeher die Erstarrung des Islam durch das Wirken der Mullahs kritisierten. Die Heiligenschreine – 400 allein in der Provinz Punjab – die bisher meist von den Nachkommen der ursprünglichen Gründer verwaltet wurden, wurden staatlicher Kontrolle unterstellt, was unter anderem bedeutete, dass die beträchtlichen Einnahmen, die die Pilger einbrachten, nun an die Regierung flossen. Gleichzeitig stärkte Zia ul-Haq den Einfluss der Mullahs, die in tausenden neu errichteten Moscheen und Koranschulen die dogmatische Interpretation des Islam ihrer saudi-arabischen Förderer predigten.

Das Ergebnis war eine Spaltung der pakistanischen Gesellschaft in die Anhänger des säkularen Staats und die neue, von Zia ul-Haq propagierte Richtung eines ebenso radikalen wie rückschrittlichen Islam. Wie tief diese Spaltung mittlerweile geht, wurde deutlich, als am 4. Januar Salman Taseer, der Gouverneur des Punjabs, von seinem Leibwächter erschossen wurde. Hassprediger hatten zu dem Mord aufgerufen, nachdem der liberale Politiker eine Christin im Gefängnis besucht hatte, der muslimische Nachbarinnen den Zugang zum Dorfbrunnen verwehrt hatten und sie, als sie dagegen protestierte, der Blasphemie bezichtigten.

Der Blasphemieparagraf, der eigentlich die friedliche Koexistenz der Religionen schützen sollte, stammte noch aus dem britischen Code; ul-Haq reduzierte ihn auf Beleidigungen des Propheten und setzte als einzig mögliche Ahndung die Todesstrafe fest. Taseers Mörder wurde auf dem Weg ins Gefängnis von einer Gruppe von Anwälten mit Rosenketten behängt und als Held gefeiert. 500 religiöse Führer erklärten die Ermordung des Gouverneurs für rechtens, da er mit der beabsichtigten Revision des Blasphemieparagrafen den Propheten beleidigt habe; jeder, der den Tod des Politikers betrauere, wurde ebenfalls mit dem Tod bedroht. Die Regierungspartei Pakistan People’s Party, der der Ermordete angehörte, verzichtete auf eine Gedenkveranstaltung, im Parlament konnte nicht einmal das übliche Gebet für den Verstorbenen gesprochen werden, da die anwesenden Mullahs sich weigerten, es zu leiten. Der Innenminister erklärte, er würde persönlich jeden erschießen, der den Propheten beleidige. Plakate an den Häuserwänden von Lahore, die den Mörder des Gouverneurs als Märtyrer priesen, wurden nicht entfernt.

Die Spannungen zwischen liberalen Gläubigen und Mullahs sind keineswegs neu. Besonders scharf hat der populäre, als der „Shakespeare des Punjabs“ apostrophierte Sufi-Dichter Bulleh Shah im 18. Jahrhundert die bigotten, auf politische Vorteile bedachten Mullahs gegeißelt. Dafür wurde er lebenslang von den Fatwas der Fundamentalisten verfolgt. Als er starb, verweigerten sie ihm – genau wie Salman Taseer – die islamische Beerdigung. Die Schlussszene des Stücks, das das Theater „Ajoka“, das einzige von nationaler Bedeutung, vor kurzem über Bulleh Shahs Leben inszenierte, wurde in Lahore als hellsichtiger Kommentar zu den aktuellen Ereignissen gesehen und begeistert beklatscht.

Die Morde von Lahore

Das Klima der Gesetzlosigkeit und Bedrohung, das durch die Untätigkeit der Regierung gegenüber den Mördern von Salman Taseer entstand, verstärkte sich noch, als der US-Amerikaner Raymond Davis im Lahorer Stadtteil Mozang Chungi zwei Pakistaner erschoss. Ein weiterer, der dem von einer wütenden Menge bedrohten Täter zu Hilfe kommen wollte, wurde von einem Wagen des amerikanischen Konsulats überrollt. Kurz danach erschien der US-Senator (und ehemalige Präsidentschaftskandidat) John Kerry in Islamabad und forderte die Herausgabe des Täters unter Verweis auf dessen diplomatische Immunität. Da unklar blieb, welche Funktion Davis ausübte und warum er bewaffnet war, begann die Gerüchteküche zu brodeln.

Erst im Dezember war Jonathan Banks als Leiter des CIA-Büros von Islamabad enttarnt worden, als ein betroffener Bauer aus der Grenzregion Waziristan Klage gegen den Einsatz von US-Kampfdrohnen gegen Zivilisten erhob. Der UNO-Sonderberichterstatter für außergerichtliche Hinrichtungen Philip Alston forderte die USA auf, ihre Regeln für den Drohneneinsatz offenzulegen und die Zahlen der zivilen Opfern zu nennen. Ein CIA-Sprecher erklärte dagegen, die „Maßnahmen der CIA gegen Terroristen“ seien „präzise, gesetzlich und effektiv“, doch Banks wurde umgehend aus Pakistan abgezogen. Davis sei der Nachfolger von Banks, wurde nun spekuliert; jedenfalls hörten die Drohnenangriffe nach seiner Verhaftung schlagartig auf.

Die Umstände der Tat waren mehr als merkwürdig und hätten aus einem Agententhriller stammen können: Mehrere Waffen, eimerweise international geächtete Munition, ein GPS-System, Dutzende von Telefonen, Ausweisen und Gesichtsmasken wurden im Wagen von Davis gefunden, ähnliche Gegenstände wurden aus dem fliehenden Fahrzeug des Konsulats geworfen, das ein gefälschtes Nummernschild trug. Der Vertreter der US-Botschaft erklärte zunächst, Raymond Davis sei nicht der richtige Name des Verhafteten, ließ diese Behauptung aber wieder fallen, als von pakistanischer Seite mit einer Anklage wegen Erschleichung eines Visums unter falschem Namen gedroht wurde.

Als einen Monat später der britische Guardian enthüllte, dass Davis tatsächlich für die CIA tätig war, gab die New York Times an, sie wisse das schon seit Wochen, sei aber von der Regierung Obama aufgefordert worden, diese Tatsache zu verschweigen. Die Situation eskalierte weiter, als die Witwe eines der beiden von Davis Getöteten Selbstmord beging, da sie fürchtete, die Ermordung ihres Mannes würde ungesühnt bleiben. Die pakistanische Regierung verwies die Amerikaner, die mit dem Entzug ihrer Hilfsleistungen drohten, auf die Entscheidung des Gerichts, die am 14. März erfolgen soll.

Ein weiterer Mord auf offener Straße geschah am 2. März. Wieder war die Tat vorher angekündigt worden. Das Opfer, Shahbaz Bhatti, der amtierende Minister für Minderheiten, war der einzige Christ im Regierungskabinett. Trotz massiver Drohungen hatte er es gewagt, sich gegen den Missbrauch des Blasphemiegesetzes auszusprechen.

Durch die Untätigkeit der Regierung ist ein gefährliches Vakuum entstanden. Steht dem Land der „Sturz ins Chaos“ bevor? Ahmed Rashid, dessen gleichnamiges Buch1 die fundierteste Studie zum Thema der Unterwanderung der pakistanischen Gesellschaft durch die Taliban ist, warnt vor einem bevorstehenden „klerikalen Tsunami“. Neuerdings ist der Journalist, der lange in England lebte, wieder in Lahore ansässig. So wie er sind in jüngster Zeit eine ganze Reihe prominenter Journalisten und Schriftsteller aus dem Ausland zurückgekehrt, allem Anschein nach, um nicht die gegenwärtige entscheidende Phase der Geschichte ihres Heimatlands zu versäumen, aber wohl auch, weil sie des Misstrauens überdrüssig sind, mit dem man im Westen jedem Pakistaner begegnet. Den westlichen Medien werfen sie vor, lediglich Horrorszenarien auszumalen, den sich abzeichnenden Widerstand liberaler Kräfte aber zu unterschlagen.

Obwohl man in Lahore schon vor Sonnenaufgang von dröhnenden Lautsprechern auf den Dächern der Moscheen geweckt wird, die die hysterischen Schimpfkanonaden aufgebrachter Mullahs übertragen, scheint der Kampf um die Zukunft Pakistans noch nicht ganz entschieden zu sein. Die Ermordung der Politiker wurde nicht nur bejubelt, es wurden auch Mahnwachen abgehalten, obwohl deren Teilnehmer dabei ihr Leben aufs Spiel setzten. Künstler protestieren im Fernsehen gegen die Bigotterie der Mullahs, Bürgerbewegungen wie „Citizens for Democracy“ formieren sich. Die Liberalen weisen immer wieder darauf hin, dass die Islamisten nie mehr als 20 Prozent der Wählerstimmen gewinnen konnten, wie gern auch vergessen wird, dass Pakistan mehr Opfer im Kampf gegen den Terrorismus gebracht hat als jedes andere Land.

„Wir kommen uns vor wie die Bösewichte in einem Horrorfilm“, bekannte der Schriftsteller Mohsin Hamid, der seine Karriere in den USA abbrach wie der Protagonist seines Erfolgsromans „Der Fundamentalist, der keiner sein wollte“, der nach seiner Rückkehr in die Altstadt von Lahore einem Amerikaner seine Lebensgeschichte erzählt. Über die Probleme junger Immigranten in New York nach dem 11. September schrieb H. M. Naqvi seinen brillanten Roman „Home Boy“. Und im Februar beim Literaturfestival von Karatschi meinte Mohammed Hanif, ein BBC-Journalist, der 2008 aus London nach Karatschi zurückkehrte und dessen satirischen Erstlingsroman „Eine Kiste explodierender Mangos“ vom Flugzeugabsturz Zia ul-Haqs handelt: „Die Grenzen zwischen Literatur und Journalismus verwischen immer mehr. In Pakistan schreiben die Zeitungen erfundene Geschichten, während angebliche Romane die Wahrheit erzählen.“

Der Regisseur Salmaan Peerzada, der seine Karriere in England an den Nagel hängte, um in Pakistan sozialkritische Filme zu drehen, ist skeptisch. Seine Filme wurden auf internationalen Festivals gezeigt, in Pakistan selbst aber kamen sie nie in die Kinos. „Die Tage der totalitären Regime in der islamischen Welt sind gezählt, die Menschen wollen Demokratie. Die Revolution, die in Ägypten anfing, ist säkular – in Pakistan dagegen bereiten die religiösen Kräfte eine islamische Revolution vor“, schreibt er auf seiner Facebook-Seite.

Fußnote: 1 Ahmed Rashid, „Sturz ins Chaos“, Düsseldorf (C. W. Leske, Edition Weltkiosk) 2010. Peter Pannke ist Autor und Musiker. Im Februar stellte er sein Buch „Dreamtalker“ beim Literaturfestival in Karatschi vor. Demnächst erscheint „Saints and Singers – Sufi Music in the Indus Valley“ (Oxford University Press).

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.03.2011, von Peter Pannke