10.06.2011

China wird alt, bevor es reich werden kann

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China wird alt, bevor es reich werden kann

Schon jetzt zeigen sich die negativen Folgen der jahrzehntelangen Geburtenpolitik, des künstlich erzeugten Frauenmangels und der riesigen Defizite bei der sozialen Sicherung von Isabelle Attané

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Mit 1,35 Milliarden Einwohnern ist China im Jahr 2010 das bevölkerungsreichste Land der Erde. Und das wird noch mindestens für die nächsten zwanzig Jahre so bleiben. Erst nach 2030 wird es von Indien überholt werden, das dann etwa 20 Millionen Einwohner mehr zählen wird (siehe obere Grafik). 1950 stellten die Chinesen noch 22 Prozent der Weltbevölkerung, heute sind es weniger als 20 Prozent, und ihr relativer Anteil sinkt kontinuierlich. Dieser Rückgang auf globaler Ebene verdankt sich zum Teil dem starken Bevölkerungswachstum in einigen Entwicklungsregionen der Welt, vor allem in Afrika, dessen Anteil zwischen 1950 und 2010 von 9 auf 15 Prozent gestiegen ist; oder in Indien, das im selben Zeitraum von 15 auf 18 Prozent der Weltbevölkerung wuchs. Doch das ist nicht der einzige Grund.

Eine andere Ursache des relativen Bevölkerungsrückgangs hängt mit der chinesischen Geburtenkontrolle seit den 1970er Jahren zusammen – die strengste Bevölkerungspolitik, die jemals über einen so langen Zeitraum praktiziert wurde. Nachdem von 1971 bis 1978 zwei Kinder pro Paar in den Städten und drei auf dem Land erlaubt waren, verschärfte die Regierung ab 1979 die Beschränkungen noch einmal und verordnete der Mehrheit der Bevölkerung die Ein-Kind-Politik. Damals wurde diese Maßnahme zur unabdingbaren Voraussetzung erklärt, um das Ziel der seit 1978 von Reformpräsident Deng Xiaoping propagierten wirtschaftlichen Modernisierung zu erreichen: Es sollten mehr staatliche Mittel für das Wirtschaftswachstum freigestellt und der Lebensstandard insgesamt verbessert werden.

Im Jahr 1970 hatten die Chinesinnen im Durchschnitt noch fast sechs Kinder bekommen, heute sind es weniger als zwei, also ebenso wenig wie in den führenden Industrieländern. Anfang der 1970er Jahre wuchs die Bevölkerung pro Jahr um 20 Millionen, in den 2000er Jahren dagegen nur noch um 7,5 Millionen – ein Rückgang um fast zwei Drittel. Mitte des 21. Jahrhunderts wird das demografische Übergewicht Chinas verschwinden: Es wird nur noch 16 Prozent der Weltbevölkerung stellen, Indien dagegen 18 und Afrika 22 Prozent.

Das verlangsamte Bevölkerungswachstum war bis heute ein großer Trumpf für China, sowohl in Bezug auf seine wirtschaftliche Entwicklung wie die Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards. Mittlerweile ist China zu einem der wichtigsten Akteure in der Weltwirtschaft aufgestiegen.1 Dieser Erfolg basiert zwar auf den grundlegenden Reformen der Deng-Xiaoping-Ära seit Ende der 1970er Jahre, doch eine tragende Rolle spielte dabei auch die äußerst günstige demografische Entwicklung.

Die Ein-Kind-Politik wird zum Bumerang

Seit Mitte der 1980er Jahre verfügt China nämlich über einen ungewöhnlichen „demografischen Bonus“: Die Geburtenrate ist seitdem stark gesunken, doch zugleich blieb der Anteil alter Menschen verhältnismäßig gering. In China kommen heute auf einen Abhängigen (Kinder, Jugendliche und Rentner) 2,1 Erwerbstätige, in Japan sind es nur 1,3, in Indien 1,6 und in Brasilien 1,8. Fast 70 Prozent der Chinesen sind momentan im erwerbsfähigen Alter (15 bis 59 Jahre). In Japan liegt dieser Wert bei lediglich 56, in Indien bei 61 und in Brasilien bei 66 Prozent. Doch ab 2050 wird Indien China auch hier den Rang abgelaufen haben. Dann werden nur noch 54 Prozent der Chinesen im erwerbsfähigen Alter sein, gegenüber 63 Prozent der Inder.

Chinas demografischer Bonus, dem das Land zum Teil seine momentan starke Position in der Weltwirtschaft verdankt, wird also bis zur Mitte des Jahrhunderts aufgebraucht sein. Dann wird das Land fast ebenso viele Transferleistungsempfänger wie aktiv Beschäftigte haben, und 1,1 erwerbstätige Chinesen müssen für einen Abhängigen sorgen – nur noch halb so viele wie im Jahr 2010.

Dieser strukturelle Wandel, der zu einer ungewöhnlich schnellen Alterung der chinesischen Bevölkerung führen wird, ist weniger auf die gestiegene Lebenserwartung als vielmehr auf den Rückgang der Fertilitätsrate zurückzuführen. China befindet sich in der einzigartigen Situation, dass die Alterung der Bevölkerung komplett künstlich durch eine staatliche verordnete Geburtenkontrolle erzeugt wurde. Mit der Begrenzung der Kinderzahl erhöhte sich automatisch der Bevölkerungsanteil der Alten.

Bis 2050 wird sich der Anteil der Chinesen über 60 Jahre verdreifachen und dann 31 Prozent betragen. Das heißt, es wird 440 Millionen Chinesen im Rentenalter geben, was ungefähr der heutigen Bevölkerung Westeuropas entspricht. Jeder zweite Chinese wird dann über 45 Jahre alt sein, womit die chinesische Altersstruktur in etwa das heutige Niveau Japans erreicht haben wird, dem Land mit der derzeit ältesten Bevölkerung der Welt. Diese Entwicklung wird sich auch auf die chinesische Wirtschaft auswirken.

Sie bedeutet vor allem eine stärkere finanzielle Belastung für Staat und Gesellschaft, wenn die Ausgaben für Renten und Gesundheit steigen und gleichzeitig die Steuereinnahmen sinken. Eine solche Lage mag für Länder wie Japan zu meistern sein, das trotz seiner 30 Prozent Rentner nach wie vor die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt ist, doch für China ist diese Entwicklung riskanter.

Die japanische Wirtschaft basiert vor allem auf dem Dienstleistungssektor: In diesem Bereich sind zwei Drittel (68 Prozent) der japanischen Erwerbstätigen beschäftigt (in China waren es im Jahr 2008 dagegen nur 27 Prozent). Der tertiäre Sektor erwirtschaftet 75 Prozent des japanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP), in China sind es dagegen nur 40 Prozent. Zum anderen weicht in Japan das Einkommen der Rentner nicht so stark von dem der Erwerbstätigen ab, so dass die Alterung auch Konsum und Innovation fördert.2

In China ist das Gegenteil der Fall: Die Älteren, die nach wie vor weitgehend vom Rentensystem ausgeschlossen sind, haben im Allgemeinen einen sehr niedrigen Lebensstandard. Das Rentensystem auf Umlagebasis stammt noch aus der alten Kollektivwirtschaft; es kommt lediglich einer Minderheit zugute, vor allem den Städtern, und sichert oft nur das Existenzminimum. Der Staat versucht zwar eine allgemeine Alterssicherung durchzusetzen, von der alle profitieren könnten. Und auch wenn sich schon einige Gemeinden in diese Richtung bewegen – manche haben eine private zusätzliche Rentenversicherung mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen eingeführt –, bleibt die Reform insgesamt ein schwieriges Unterfangen, vor allem auf dem Lande.

Mitte der 2000er Jahre lebte nur ein Viertel der chinesischen Rentner tatsächlich von den staatlichen Bezügen. Ein weiteres Viertel ging immer noch arbeiten, und die restliche Hälfte war auf die Unterstützung eines Familienmitglieds angewiesen – meist eines Kindes.

Das Zusammenleben mehrerer Generationen unter einem Dach, lange Zeit die einzige Möglichkeit zur Unterstützung älterer Familienmitglieder, stößt zudem an seine Grenzen. Zwar verpflichtet ein Gesetz von 1996 die Familien und insbesondere die Kinder dazu, für den Lebensunterhalt ihrer betagten Eltern zu sorgen. Doch diese innerfamiliäre Solidarität ist aufgrund der gegenwärtigen Entwicklung nur noch schwer durchzuhalten.

Mit der Umkehrung der Alterspyramide durch die längere Lebenserwartung und den starken Geburtenrückgang wird die Last für den einzelnen Erwerbstätigen zu groß. Wie soll ein junger Chinese – vor allem als Einzelkind – gemeinsam mit seiner Ehefrau seine beiden Eltern oder gar noch die Schwiegereltern versorgen? Zudem bieten die Lebensverhältnisse, insbesondere in den Städten, immer weniger Raum für ein Zusammenleben der Generationen: Die immer teureren Wohnungen sind winzig, zugleich wünscht man sich mehr Komfort und Privatsphäre, und die Lebenshaltungskosten steigen ständig. Der Arbeitsmarkt zwingt zudem die Jungen häufig dazu, ihren Heimatort zu verlassen und eine weit vom Elternhaus entfernte Stelle anzutreten, was deren Unterstützung noch schwieriger macht. Bis jetzt leben fast in jedem fünften Haushalt mindestens drei Generationen zusammen. Es fragt sich nur, wie lange diese Tradition den Erfordernissen des modernen Lebens noch standhalten kann.

Zurzeit wird eine Anhebung des Renteneintrittsalters (bislang liegt es für Männer bei 60 Jahren, für Frauen bei 55 Jahren) zumindest für die Männer noch ausgeschlossen. Die Regierung plant jedoch, das Rentenalter der Frauen auf das Niveau ihrer männlichen Kollegen anzuheben.

Allgemein hat die Staatsführung große Schwierigkeiten, sich auf die Alterung der Bevölkerung einzustellen. Um auch zukünftig ein steigendes Wirtschaftswachstum zu sichern, müsste das Land sein Steuersystem reformieren, damit es den Unterhalt der Senioren dauerhaft garantieren und ihnen einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen kann. Dafür wird man auch nicht um eine Restrukturierung der Wirtschaft herumkommen, die sich mehr auf Dienstleistungen und auf die Binnennachfrage für die Bedürfnisse der älteren Bevölkerung konzentrieren müsste.

Die Alterung der Bevölkerung ist zwar eine der größten Herausforderungen für die chinesische Gesellschaft und seine Wirtschaft. Aber es ist nicht die einzige: Weil die Regierung weiterhin an der Geburtenkontrolle festhält, muss das Land außerdem einen wachsenden Frauenmangel verkraften. Zurzeit gilt die Ein-Kind-Politik zwar nur für 36 Prozent der Paare. In 19 ländlichen Provinzen dürfen sie allerdings nur dann ein zweites Kind bekommen, wenn das erste ein Mädchen ist – das betrifft 53 Prozent der Bevölkerung.3 Die übrigen 11 Prozent, meist Paare aus ethnischen Minderheiten, können unabhängig vom Geschlecht des ersten Kinds zwei oder mehr Kinder bekommen.

Man schätzt, dass in China etwa 60 Millionen Frauen fehlen. Dieser Mangel ist auf eine Präferenz für Söhne zurückzuführen, die die Chinesen dazu gebracht hat, sich ihrer Töchter zu entledigen – entweder durch Abtreibung oder Vernachlässigung, wodurch die Mädchen schon im Säuglings- und Kleinkindalter sterben. Infolgedessen ist China zum Land mit dem weltweit höchsten Männeranteil geworden (105,2 auf 100 Frauen im Jahr 2010).4

Ein solches Ungleichgewicht der Geschlechter bleibt garantiert nicht ohne Folgen. Das zeigt sich schon, wenn man nur bei der Demografie im engeren Sinne bleibt: Weniger Frauen heute bedeutet weniger Geburten morgen und damit ein noch geringeres Bevölkerungswachstum. Man schätzt den Geburtenausfall bis 2050 auf fast 20 Millionen. Diese atypische Situation zwingt zudem eine wachsende Anzahl von Männern zum Junggesellendasein: Jährlich könnten bis zu 1,5 Millionen männliche Chinesen Single bleiben, weil sie keine Partnerin finden.

Zukünftig könnte sich der Frauenmangel auch direkt auf die chinesische Wirtschaft auswirken. In der Industrie, in der die Hälfte des landesweiten Reichtums erwirtschaftet wird, sind Frauen überrepräsentiert (vor allem in der Spielzeug-, Elektronik- und Textilindustrie), und auch in der Landwirtschaft, aus der die Männer zunehmend abwandern, stellen sie heute mehr als zwei Drittel der Beschäftigten.

Die erwerbsfähige Bevölkerung wird in Zukunft vorwiegend männlich sein: Heute sind 51 Prozent der 15- bis 49-Jährigen männlichen Geschlechts, bis zum Jahr 2050 wird ihr Anteil auf 54 Prozent steigen. Das bedeutet, dass in dieser Altersstufe auf dem chinesischen Arbeitsmarkt mindestens 100 Millionen Frauen weniger beschäftigt sein werden,5 was zu einem massiven Arbeitskräftemangel in der Industrie und der Landwirtschaft führen könnte.

Jenseits der wirtschaftlichen Aspekte stellt sich in einer solchen Situation auch die Frage nach den Frauenrechten und der Gleichberechtigung der Geschlechter – eine Frage, die heute offenbar niemanden interessiert.

In den kommenden Jahrzehnten muss China zwei gravierende Probleme lösen: Es muss die Folgen der Alterung seiner Bevölkerung auffangen und gleichzeitig den Männerüberschuss beheben. Eine weitreichende Lösung bestünde darin, die Geburtenkontrolle aufzuheben.

In Schanghai ist bereits jeder vierte Einwohner über 60 Jahre alt, und in einigen Sektoren macht sich schon jetzt ein Arbeitskräftemangel bemerkbar. Die Stadt dient heute als eine Art „Testgebiet“. Sie ist die einzige Provinz des Landes, in der Aufklärungskampagnen für Kleinfamilien durchgeführt werden. Verheiratete junge Männer und Frauen mit einem Kind, die selbst als Einzelkinder aufgewachsen sind, sollen seit Neuestem überzeugt werden, ein zweites Kind zu zeugen. Bislang ist kein nennenswerter Erfolg dieser Aktion zu erkennen. Die Geburtenrate in Schanghai ist immer noch eine der niedrigsten der Welt: Im Jahr 2005 waren es 0,7 Kinder pro Frau.

Selbst wenn die Geburtenkontrolle gelockert werden sollte, stehen die Chancen sehr schlecht, dass China seine Überalterung durch höhere Geburtenraten zum Teil auffangen könnte. Das moderne Leben im Allgemeinen und die steigenden Unterhalts- und Ausbildungskosten halten viele Ehepaare davon ab, heute noch Großfamilien zu gründen. Um der demografischen Herausforderung zu begegnen, besteht die einzige Alternative zweifellos in einer grundlegenden Reform der Sozialversicherungssysteme und einer Umstrukturierung der chinesischen Wirtschaft.

Fußnoten: 1 Vgl. Martine Bulard, „Geldspeicher China“, in: Le Monde diplomatique, April 2011. 2 Evelyne Dourille-Feer, „Démographie et dépendance au Japon“, in: Silverlife Institut, 30. Mai 2007. 3 China hat 22 Provinzen (Peking betrachtet Taiwan als die 23. Provinz), fünf autonome Regionen, vier Stadtbezirke und zwei Sonderverwaltungsregionen (Hongkong und Macau). 4 Laut der letzten chinesischen Volkszählung. Ein UN-Report gibt den Wert für China allerdings mit 108 und für Indien mit 107 zu 100 an. Siehe auch: Isabelle Attané, „Welt ohne Frauen“, Le Monde diplomatique, Juli 2006; und Georg Blume und Babak Tavassolie, „Ein Recht auf Geschwister?“, in: „China, verordnete Harmonie, entfesselter Kapitalismus“, Edition LMd, Nr. 1, Berlin (Taz Verlag) 2007. 5 Im selben Zeitraum wird der Anteil der Männer zwischen 15 und 49 Jahren nur um etwa 80 Millionen sinken. Aus dem Französischen von Sabine Jainski Isabelle Attané ist Demografin und Sinologin am nationalen französischen Demografie-Institut Ined. Demnächst erscheint von ihr: „Au pays des enfants rares. Vers une catastrophe démographique chinoise“, Paris (Fayard) 2011.

Le Monde diplomatique vom 10.06.2011, von Isabelle Attané