10.06.2011

Ägyptische Bruchlinien

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Ägyptische Bruchlinien

Kopten, Sufis, Salafisten von Glen Johnson

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Wir sind in Imbaba, einem Vorstadtslum im Nordwesten von Kairo. Zwei kleine Jungen rennen eine Straße entlang, die voller Schlaglöcher und stinkender Müllberge ist. Der eine Junge, mit verfilztem schwarzen Haarschopf und staubiger Kleidung, ist noch keine fünf Jahre alt. Er bleibt vor mir stehen und tippt mehrmals auf die Unterseite seines Handgelenks und eine Stelle neben seinem Daumen. Die meisten koptischen Christen haben hier ein kleines Tattoo. Ich strecke ihm mein Handgelenk entgegen: kein Tattoo. Jetzt erst bestätigt der Junge, dass er Sunnit ist. Sein kleiner Bruder sagt, er sei auch Sunnit.

Am Abend zuvor, am 7. Mai, hatte es in diesem Viertel heftige Straßenkämpfe zwischen Kopten und Muslimen gegeben. Die Zeitungen berichteten von 12 Toten und 186 Verletzten, von denen 11 noch in Lebensgefahr schwebten. Anlass war ein – wahrscheinlich falsches – Gerücht, wonach eine vom Christentum zum Islam konvertierte Frau in der St.-Mena-Kirche des Viertels festgehalten werde. Daraufhin wurde die Kirche von mehreren hundert Männern umzingelt und mit Steinen, Benzinbomben und Schusswaffen attackiert. Danach wurde die Jungfrau-Maria-Kirche bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Kopten wie Sunniten behaupteten anschließend, an den Gewaltakten sei die andere Seite schuld.

In den vergangenen drei Jahren haben die interreligiösen Spannungen in ganz Ägypten eindeutig zugenommen und zu Ausbrüchen von Gewalt geführt – wie der Bombenanschlag auf eine Kirche in Alexandria am Silvesterabend 2010 und vor kurzem Angriffe von Salafisten auf Moscheen der Sufis. Es gibt auch Auseinandersetzungen um die „Ehre“. Manchmal erfassen diese ganze Dörfer oder wachsen sich gar zum Konflikt mit der Obrigkeit aus, wenn eine „verbotene Beziehung“ zwischen einem Mann und einer Frau unterschiedlichen Glaubens bekannt wird.

Während der 18-tägigen Proteste im Januar und Februar, die zur ägyptischen Revolution wurden, war viel von interkonfessioneller Solidarität die Rede – mit Geschichten von Christen und Muslimen, Nichtreligiösen wie Gläubigen, die gemeinsam gegen das Mubarak-Regime aufstanden. War das lediglich Propaganda?

In Imbaba unterhielt ich mich am Tag nach den Straßenkämpfen vom 7. Mai mit Ahmed Abdulrahman, einem Autohändler, der sich der salafistischen Strömung innerhalb des sunnitischen Islam zurechnet. Abdulrahman, mit grau meliertem Bart und einem Kaftan, der nach Art der Salafisten die Knöchel freilässt, behauptet entgegen den Medienberichten, die Salafisten hätten nicht angefangen, sondern seien zum Sündenbock gemacht worden.

Der ultrakonservative Salafismus ist inzwischen ein internationales Schreckgespenst, aber in Ägypten – und nicht nur dort – gibt es sehr wohl eine unpolitische und nicht gewalttätige salafistische Richtung. Nach deren Auffassung geht es im Islam um Frömmigkeit und Respekt. Es gibt allerdings auch andere salafistische Prediger, die, wie es heißt, die Ägypter zu sektiererischer Gewalt aufstacheln, manchmal aufgrund gezielter Falschinformationen durch den ägyptischen Geheimdienst.

Abdulrahman war bei den Zusammenstößen dabei und sein Bericht über die Ereignisse klang durchaus plausibel. Dann aber sagte er: „Wenn du ein Muslim bist, dann bist du ein Salafi.“ Dieser Satz, der anderen islamischen Richtungen die Legitimität abspricht, verträgt sich nicht mit einer der bemerkenswertesten Eigenschaften des Islam, nämlich dessen innerer Vielfalt. Im Klima des heutigen Ägypten ist es genau dieser Absolutismus, der die Spannungen zwischen den einzelnen Glaubensrichtungen anheizt.

Dieser „Konfessionalismus“ ist ein zentrales Problem im heutigen Ägypten – wie im Nahen und Mittleren Osten insgesamt – und entfaltet sich an den Schnittstellen gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Probleme. Indem er die religiösen Unterschiede stärker betont als den staatsbürgerlichen Zusammenhalt, trägt er dazu bei, die Gesellschaft zu fragmentieren. Adel Ramadan, der als Jurist für die Bürgerrechtsvereinigung EIPR (Egyptian Initiative for Personal Rights) arbeitet, drückt es so aus: „Das Gedankengut des Konfessionalismus ist in der ganzen ägyptischen Gesellschaft präsent. Das Gefühl der Ägypter, zu einem Staat zu gehören, war sehr schwach ausgeprägt. Deshalb identifizierten sich die Menschen mit ihrer Religionsgruppe. Die weltweite Islamophobie spielte dabei auch eine Rolle.“

In Imbaba brennt die Kirche

In einem EIPR-Bericht heißt es, es gebe eine „enge Korrelation zwischen großer Armut und gewaltsamen religiösen Auseinandersetzungen“.1 Der Bericht bezieht sich auf den UN-Human Development Report 2008 für Ägypten2 , in dem aufgezeigt wird, dass die Zentren der Armut in den ländlichen Gebieten liegen, vor allem in Oberägypten.

Durch die Rebellion in Ägypten wurden die konfessionellen Differenzen zwar zeitweilig in den Hintergrund gedrängt, aber die Rebellen haben kaum etwas unternommen, um die Ursache der Spannungen zwischen den Religionsgruppen zu bekämpfen. Adel Ramadan glaubt, dass die Bewegung neue Perspektiven entwickeln muss: „Das ägyptische Volk muss kapieren, dass wir zuallererst Menschen sind, denen bestimmte Rechte zustehen. Und dass wir alle Ägypter sind. Wir müssen das Prinzip anerkennen, dass alle Ägypter gleich sind. Aber das ist schon ziemlich schwierig, weil die religiösen Führer oft reden, als hätten sie die absolute Wahrheit gepachtet. Sich einfach hinzusetzen und zu diskutieren, kann also sehr schwer sein. Die wichtigste Voraussetzung wäre Toleranz gegenüber unterschiedlichen Glaubensrichtungen.“

In den Debatten zwischen Laizisten, Islamisten und Christen treten immer wieder heftige Differenzen zutage. Die Laizisten befürchten, dass sich am Ende ein homogener Islam durchsetzen wird, der die Menschenrechte beschneidet. Die Islamisten dagegen verstehen „Laizismus“ – mit Begriffen wie „Vereinigungsfreiheit“ oder „Gerechtigkeit und Freiheit“ – als Angriff auf die muslimische Frömmigkeit im Dienst des „westlichen Imperialismus“.

Wenn es den Ägyptern nicht gelingt, eine gemeinsame Grundlage jenseits solcher Schlagwortdebatten zu finden, um den Konfessionalismus und die anderen Probleme des Landes anzugehen, sind die neuen demokratischen Errungenschaften ernsthaft gefährdet. Es muss ein Konsens in den meisten Prinzipienfragen gefunden werden, bevor man sich zu den umstrittensten Fragen, wie der des Religionswechsels, wenden kann. Es muss für offene, transparente und von gegenseitigem Respekt getragene Diskussionen geworben werden. Alle Ägypter – die Zivilgesellschaft, die religiösen Führer und die Regierung – müssen miteinander reden.

Als ich Imbaba verließ, ging ich an den Kindern vorbei, die sich inmitten der Müllberge auf einer Schaukel vergnügten, an den konservativ gekleideten Frauen, die über aufgebrochene Bürgersteige gingen, an Männern, die im Kaffeehaus die Zeit verstreichen ließen, an Soldaten, die die niedergebrannte Kirche bewachten.

In der Nacht kam es erneut zu einer Straßenschlacht zwischen Christen und Muslimen. Auch Schüsse wurden aus Imbaba gemeldet, die Zahl der Verletzten stieg auf fast 250. Vor dem Gebäude des ägyptischen Staatsfernsehens demonstrierten hunderte Christen mit der Losung: „Wir sind die ursprünglichen Besitzer des Landes.“ Ein Demonstrant meinte zu mir, der Westen müsste zugunsten der Christen intervenieren. Er behauptete, aus Afghanistan seien gerade 3 000 militante Ägypter zurückgekehrt, um einen Putsch der Islamisten zu unterstützen. Dem widersprach ein anderer christlicher Demonstrant, der Bauarbeiter Ehab Nageh. Er wies darauf hin, dass auch Muslime bei dem Protest mitmachten: „Das ist ganz wichtig. Wenn Muslime unfair behandelt werden, sollten wir an ihrer Seite stehen.“

Auf dem Heimweg kam ich an einer Mauer vorbei, an die nebeneinander ein Halbmond und ein Kreuz gemalt waren. In Kairo gibt es viele solcher Graffiti. Aber trotz der Harmonie, die sie symbolisieren, kennzeichnen sie zugleich das Problem: Die Leute haben noch immer das Bedürfnis, sich durch die Religion zu definieren.

Fußnoten: 1 „Two years of sectarian violence: What happened? Where do we begin?“, Egyptian Initiative for Personal Rights, Kairo 2010. 2 Siehe auch den neueren Human Development Report der UN von 2010 über Ägypten: www.undp.org.eg/Default.aspx?tabid=227. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Glen Johnson ist Journalist aus Neuseeland; Mitarbeit Farida Helmy. © Le Monde diplomatique, London

Le Monde diplomatique vom 10.06.2011, von Glen Johnson