10.08.2007

Die Freiheit eines Guerilleros

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Die Freiheit eines Guerilleros

von Maurice Lemoine

Seit ihrer Entführung im Februar 2002 ist die einstige kolumbianische Präsidentschaftskandidatin und französische Staatsbürgerin Ingrid Betancourt eine Gefangene der Widerstandsbewegung Farc (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens).

Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy hat sich bei seinem kolumbianischen Kollegen Álvaro Uribe Vélez vehement für ihre Freilassung eingesetzt. Auf Drängen Sarkozys und mit dem Ziel, die Farc zu einem Gefangenenaustausch nach den Bedingungen der Regierung in Bogotá zu nötigen, traf Uribe eine spektakuläre Entscheidung: Er ließ den von manchen als „Außenminister der Farc“ bezeichneten Rodrigo Granda frei, der vor 30 Monaten aus der venezolanischen Hauptstadt Caracas entführt worden war. „Im Sinne einer friedlichen Einigung“ durfte Granda am 19. Juni nach Kuba ausreisen. Danach vermied er jeden Kontakt mit den Medien. Jetzt schilderte er erstmals, wie er seine Entführung erlebt hat.

Am 13. Dezember 2004 um 15 Uhr 55 verlässt Rodrigo Granda mit seinem Mobiltelefon am Ohr ein Café in der Nähe der U-Bahn-Station Bellas Artes. Er gerät in ein Handgemenge. Einige Männer drängen ihn mit Gewalt in einen Geländewagen, ziehen ihm eine Strumpfmaske übers Gesicht und fesseln ihm die Hände auf dem Rücken. An ihrem Akzent aus der Region Antioquìa erkennt Granda, dass zwei der Entführer Kolumbianer sein müssen. Links und rechts neben ihm sitzen zwei Venezolaner. Nach kurzer Fahrt wird er in den Kofferraum eines anderen Autos gestoßen. Die Entführer wechseln noch mehrmals das Fahrzeug, bis sie nachts die kolumbianische Grenze erreichen.

Am Morgen des 15. Dezember verkündet der kolumbianische Polizeimajor Jorge Daniel Castro, seine Männer hätten im kolumbianischen Cúcuta einen „großen Fisch“ der Farc festgenommen. In Kolumbien ist Granda zu dieser Zeit so gut wie unbekannt. Nicht so bei den Geheimdiensten des Landes, die ihn seit Jahren verfolgen. Die halten Granda für den „Außenminister“ der Guerillabewegung. Granda selbst sagt: „Das ist eine Mär der Journalisten. Der wirkliche Außenminister der Farc ist Raúl Reyes, der Chef der Internationalen Kommission.“ Er soll in Kolumbien im Untergrund leben.

In den 1980er-Jahren war Granda in der Unión Patriota (UP) aktiv, dem politischen Arm der Farc, dessen Mitglieder von den paramilitärischen Todesschwadronen zu Tausenden ermordet wurden. „In Bogotá und Medellín gab es Anschläge gegen mich. Wie alle UP-Angehörige drängte man mich mit Waffengewalt aus der Politik.“

Daraufhin schloss sich Granda der „insurgencia“ – dem Aufstand – an. 1987 knüpfte er im Auftrag der internationalen Kommission der Farc in zahlreichen Ländern Kontakte zu Regierungen, prominenten Politikern und Journalisten an. Nach Granda hat die Farc drei Ziele: die Anerkennung als Kriegspartei, eine politische Lösung des Konflikts in Kolumbien und einen Gefangenenaustausch. Was den letzten Punkt betrifft, will man 56 „politische Gefangene“ (darunter Ingrid Betancourt) freilassen, wenn dafür 450 bis 500 Guerillakämpfer aus kolumbischen Gefängnissen entlassen würden.

Anfang Dezember trat Granda auf dem 2. Bolivarischen Kongress der Völker auf, wo er den Plan Colombia kritisierte.1 Als er kurz darauf einem kolumbianischen Journalisten in einem Café der venezolanischen Hauptstadt ein Interview gab und kurz zum Telefonieren auf die Straße ging, schlugen die Entführer zu. Da Passanten den Vorgang an die Polizei gemeldet hatten, erfuhr die Welt, dass Granda nicht im kolumbianischen Cúcuta festgenommen, sondern von Kolumbiens Geheimdienst aus Venezuela entführt worden war.

In Caracas warf die Opposition der Regierung von Hugo Chávez vor, „Terroristen“ zu ihren Veranstaltungen einzuladen. Innenminister Jesse Chacón beteuerte, seine Nachrichtendienste hätten von der Anwesenheit Grandas nichts gewusst. Granda selbst bestätigt heute, dass man ihn in Venezuela nicht gerade mit offenen Armen empfangen hatte. „Einige bolivarische Freunde meinen, dass die kolumbianischen Aufständischen an solchen Konferenzen nicht teilnehmen dürfen.“

Wenig später ergab eine Untersuchung, dass Kolumbiens Polizei und Armee die Entführung organisiert und mit Hilfe zweier korrupter Offiziere einer venezolanischen Spezialeinheit durchgeführt hatten. Beteiligt waren auch drei Mitglieder der venezolanischen Nationalgarde GAES, denen man eine Million Dollar Honorar geboten hatte. In Venezuela kam sogar der Verdacht auf, die Entführer könnten aus den Reihen des venezolanischen Geheimdienstes Disip stammen. Präsident Chávez wurde aufgefordert, eine „Säuberung“ seiner Sicherheitskräfte durchzuführen. Aus der Umgebung des Präsidenten kam die nervöse Replik: „Diese bedauerliche Angelegenheit zeigt, dass wir bei weitem nicht den gesamten Staatsapparat unter Kontrolle haben. Aber mit der Farc wollen wir ebenso wenig zu tun haben wie mit anderen Organisationen, die einen gewaltsamen Umsturz anstreben. Die bolivarische Revolution sollte sich von derartigen Gruppen tunlichst fernhalten.“

In der Folge versuchten Bogotá und Washington, Rodrigo Granda für ihre Zwecke einzuspannen. „Ich war kaum in Cúcuta angekommen“, erzählt er, „als man mir viel Geld, Freiheit und Reisepässe für mich und meine Familie anbot. Unter einer Bedingung: Ich sollte Chávez kompromittieren. Ich sollte behaupten, dass er die Farc protegiere und dass seine Regierung mich unterstützt habe.“ Das aber lehnte Granda kategorisch ab. Chávez wiederum attackierte Kolumbien wegen der Entführung eines Mannes, gegen den kein internationaler Haftbefehl vorlag. Sein Botschafter in Bogotá beschwerte sich über die „Verletzung der nationalen Souveränität Venezuelas“ und suspendierte die bilateralen Handelsabkommen.2

Bei Prozessbeginn wollte Granda zunächst auf einen Rechtsbeistand verzichten. Auf einen seiner Anwälte wurden fünf Schüsse abgegeben, es war ein Wunder, dass er überlebte. „Die Verteidiger von Farc-Angehörigen werden häufig bedroht und erpresst. Man beschattet sie und hört ihre Telefone ab. Und es gibt keinerlei rechtsstaatliche Garantien. Ich habe meine Anwälte gefragt: Warum erkennen wir eine Justiz an, die in Wirklichkeit gar keine ist?“

Granda wurde wegen bewaffneter Rebellion und terroristischer Aktivitäten zu insgesamt 21 Jahren Gefängnis verurteilt. Er bekannte sich als Aufständischer, bestritt aber den Vorwurf des Terrorismus. Einige der Guerillakämpfer, die er im Hochsicherheitsgefängnis wiedersah, verbüßten Haftstrafen von bis zu 80 Jahren ohne Bewährung, obwohl die Höchststrafe in Kolumbien 40 Jahre beträgt. „Daraus ergab sich zwingend, dass die Farc bei der Befreiung ihrer inhaftierten Kämpfer zu unkonventionellen Methoden greifen musste. Eine andere Möglichkeit als den Gefangenenaustausch sahen wir nicht.“

Unterdessen glaubte Kolumbiens Präsident Álvaro Uribe, einen seit 60 Jahre schwelenden Konflikt quasi im Alleingang gewinnen zu können. Nach seinem Amtsantritt im Jahr 2002 (im Mai 2006 wurde er erneut für vier Jahre gewählt) verwarf er jeden Gedanken an einen Austausch von Gefangenen: Mit „Terroristen“ werde nicht verhandelt. Doch seit einiger Zeit steckt Uribe in ernsten Schwierigkeiten. Im Skandal um die sogenannte „Parapolitik“ ermittelt die kolumbianische Justiz in über hundert Fällen wegen Komplizenschaft zwischen staatlichen Behörden und den paramilitärischen Gruppen (AUC). Sie hat auch Fälle von Betrug bei der Präsidentenwahl aufgedeckt.

Im unmittelbaren Umfeld des Präsidenten gibt es bereits die ersten Opfer. So musste Außenministerin Consuelo Araúo zurücktreten, nachdem ihr Vater und ihr Bruder vor Gericht gestellt wurden. Die Gouverneure der Bezirke César und Magdalena sowie 14 Abgeordnete und Senatoren von Uribes Partei sitzen im Gefängnis. Fünf weitere Parlamentarier werden per Haftbefehl gesucht. Jorge Noguera, ehemals Verwaltungsdirektor der politischen Polizei DAS und Wahlkampfleiter Uribes im Bezirk Magdalena, ist ebenfalls in Haft. Polizeichef General Jorge José Castro – der von Granda verlangt hatte, Chávez zu diskreditieren – musste nach einem Abhörskandal zurücktreten, desgleichen der Chef des polizeilichen Nachrichtendienstes.

Uribe stand also politisch unter Beschuss, als er Anfang Mai 2007 von Sarkozy angerufen wurde. Wenig später folgte die Sensation: Uribe verkündete die „einseitige“ Freilassung von einigen hundert Aufständischen und bat die Farc, auf diese „Geste des guten Willens“ mit der Freilassung ihrer Geiseln zu antworten. „Der Hohe Kommissar für den Frieden, Luis Carlos Restrepo, besuchte mich in meiner Zelle“, erzählt Granda. „Er bot mir an, eine ‚Wiedereingliederungs- und Abrüstungsinitiative‘ anzuführen. Wenn ich freikommen wollte, müsste ich lediglich der Farc abschwören.“ Wieder lehnte Granda strikt ab. Doch der Hohe Kommissar erklärte dem Gefangenen, seine Freilassung sei aus Gründen der Staatsräson beschlossene Sache; Nicolas Sarkozy habe darum gebeten: „Und wenn ich Schwierigkeiten mache, würde er mich zur Not gewaltsam aus meiner Zelle und aus dem Gefängnis befördern.“

Nach der Entführung nun also die gewaltsame Freisetzung. Granda behauptet nicht zu wissen, warum Nicolas Sarkozy sich für ihn stark gemacht hat. Klar ist, dass das Schicksal der 2002 von der Farc entführten Politikerin Ingrid Betancourt in Frankreich enorme Anteilnahme ausgelöst hat. Unmittelbar vor den Parlamentswahlen in Frankreich könnte der Präsident versucht haben, einen Coup zu landen – und hat sich dabei womöglich auf einen fragwürdigen Handel eingelassen.

Granda sagt, vor einem Gefangenenaustausch verlange die Farc den Abzug der kolumbianischen Armee aus einem 800 Quadratkilometer großen Gebiet im Departamento El Valle. Dort soll dann mit der Staatsmacht verhandelt werden. Oberste Priorität hat für die Farc die Anerkennung als Konfliktpartei durch die Regierung. Deshalb sagte Granda zu den Leuten, die ihn freiließen: „Entlassen Sie mich, wenn Sie wollen! Aber ich weise darauf hin, dass es sich um eine einseitige Geste Ihrerseits handelt. Die Farc wird sie nicht erwidern.“

Nach seiner Freilassung hatte Granda die Wahl, nach Frankreich, nach Kuba oder in die Schweiz zu gehen. Am 19. Juni 2007 flog er nach Havanna. Dort meint er jetzt: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Präsident Sarkozy um die Befreiung eines Terroristen gebeten hat. Mit meiner Freilassung hat Uribe zugleich den politischen Charakter der Farc anerkannt.“

Unter großem Mediengetöse entließ die kolumbianische Regierung 170 mutmaßliche Widerstandskämpfer, darunter angebliche Anführer von Einheiten, die es nie gegeben hat, und gewöhnliche Häftlinge. Zugleich befahl sie den Streitkräften erneut, die Geiseln der Guerilla „mit allen geeigneten Mitteln“ zu befreien. Eine solche Doppelstrategie wird von den Familien der Geiseln und den Angehörigen von Ingrid Betancourt jedoch abgelehnt. Im Mai 2003 waren bei einer derartigen „Rettungsaktion“ ein Gouverneur, ein ehemaliger Minister und sieben Soldaten ums Leben gekommen.

Der weitere Verlauf der Ereignisse zeigt erneut, dass man in Kolumbien immer mit dem Schlimmsten rechnen muss. Am 18. Juni 2007 kam es zu einem Feuergefecht; dabei starben elf von zwölf Abgeordneten des Regionalparlaments von Valle del Cauca, die sich seit April 2002 in der Gewalt der Guerilla befanden. Am 23. Juni erklärte der Westblock der Farc3 , die Geiseln seien „bei einem Schusswechsel mit einer bisher nicht identifizierten Militäreinheit, die das Gefangenenlager angriff“ umgekommen. Präsident Uribe bestreitet jedoch, dass es zu dieser Zeit Militäroperationen in diesem Teil des Landes gegeben habe: „Von einer Befreiungsaktion kann keine Rede sein. Die Geiseln wurden eiskalt umgebracht.“

Das ist allerdings sehr unwahrscheinlich, denn die Geiseln waren in der Hand der Farc ein wichtiger Trumpf. Kolumbiens Geheimdienstchef Andrés Peñate behauptete Ende Juli, abgehörte Funkmeldungen deuteten darauf hin, dass die Farc eine zweite Rebelleneinheit für Polizei gehalten habe. Einen Befreiungsversuch befürchtend, habe sie ihre Geiseln getötet.

„Die Farc gesteht ihre Mitverantwortung ein“, sagt Granda mit betontem Ernst. „Wir haben es nicht geschafft, das Leben dieser Geiseln bis zum angestrebten Gefangenenaustausch zu schützen.“ Stimmt es, dass die Farc ihre Geiseln lieber hinrichtet, als sie der Armee zu überlassen? Granda weicht aus: „Ich gehöre nicht zum Kommando der Farc und weiß nicht, ob es solche Befehle gibt.“ Falls ja, würde es sich um ein Kriegsverbrechen handeln.

Die Umstände der Ereignisse vom 18. Juni sind bis heute nicht geklärt, ja nicht einmal der Ort. Eigenartigerweise schweigen sowohl die kolumbianische Armee als auch die Farc. „Wir sind noch dabei, das zu untersuchen“, sagt Granda. „Wir wollen der Welt eine verlässliche Erklärung bieten und keine voreiligen Spekulationen.“

Nach Meinung der Experten haben die paramilitärischen Gruppen nichts mit dem Zwischenfall zu tun, weil sie zu einer derartigen Operation nicht in der Lage wären. Der Westblock der Farc hat allerdings von weiteren „ausländischen Einheiten“ gesprochen. Damit kommt eine Hypothese ins Spiel, die aber ebenfalls mit Vorsicht zu genießen ist: Der Angriff könnte auf das Konto einer ausländischen Spezialeinheit gehen, über deren Nationalität man sich seine Gedanken machen kann.

Daher fordert Louise Harbour, UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, neben einer „sofortigen Freilassung aller Geiseln“ auch eine „vollständige und unparteiische“ Untersuchung der Tragödie vom 18. Juni. Doch Bogotá verweigert strikt eine unabhängige Untersuchungskommission. Rodrigo Granda meint, die Farc werde die Leichen der Getöteten „nur einer internationalen Kommission übergeben, an der die kolumbianische Regierung nicht beteiligt ist.“ Die Farc wolle jede Manipulation der Beweismittel verhindern: „Einige Compañeros berichten, dass nicht nur die Armee, sondern auch noch andere Kräfte ein Interesse daran haben, diese Leichen verschwinden zu lassen und ihre Spuren zu verwischen.“

Was ist hier die Wahrheit und was eine Finte?

Fußnoten:

1 Der Plan Colombia ist Teil des von US-Seite unterstützten und finanzierten „Kriegs gegen die Drogen“. Er ermächtigt die kolumbische Armee zu polizeiähnlichen Einsätzen im Inland. Siehe www.monde-diplomatique.fr/cahier/ameriquelatine/plancolombie-intro. 2 Die Beziehungen normalisierten sich wieder nach einem Treffen zwischen Chávez und Uribe am 17. Februar 2005, das Fidel Castro und Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva vermittelt hatten. 3 Der Westblock operiert in den Departamentos Tolima, Huila, Valle, Cauca, Nariño und einem kleinen Teil von Calda.

Aus dem Französischen von Herwig Engelmann

Le Monde diplomatique vom 10.08.2007, von Maurice Lemoine