08.01.2015

Verheerendes Wachstum

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Verheerendes Wachstum

Asien braucht ein ganz anderes Wirtschaftsmodell von Chandran Nair

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Die heutige Politik- und Wirtschaftselite will zwei Dinge nicht wahrhaben: Zum einen, dass Asien ein neues ökonomisches Modell für das 21. Jahrhundert braucht. Das gilt zwar auch für den Rest der Welt, aber in Asien leben immerhin 60 Prozent der Weltbevölkerung, weshalb die Entwicklung auf dem Kontinent massive Auswirkungen auf alle anderen haben wird.

Zum anderen wird das 21. Jahrhundert anders als alle bisherigen Phasen der Menschheitsgeschichte sein. In der Vergangenheit konnten ökonomische Fehlsteuerungen das Wirtschaftswachstum hemmen oder im schlimmsten Fall Hungersnöte und Auswanderungswellen auslösen. Heute hingegen steht es – durch die gleichzeitigen und kombinierten Wirkungen von rasantem Bevölkerungswachstum und technologischer Entwicklung – in unserer Macht, dem Planeten Erde irreparable Schäden zuzufügen und somit die Lebensgrundlagen von Milliarden von Menschen zu gefährden.

Laut Weltklimarat hat der Klimawandel Auswirkungen auf fast alle Ökosysteme der Erde. Als Folgen prognostizieren die Experten extreme Wetterphänomene wie Dürre, Überschwemmungen und Wirbelstürme, die beispielsweise zum Zusammenbruch der Strom- und Wasserversorgung und der Gesundheitssysteme führen oder die Versorgung mit Nahrungsmitteln gefährden können. Unsere Entscheidungen haben heute also ganz andere Konsequenzen als früher. Aber unsere Einstellung zu Wirtschaftswachstum, individuellen Rechten und Freiheiten sowie die Institutionen, die diese Einstellung in die Realität umsetzen sollen, sind immer noch in der Vergangenheit verwurzelt.

Das westliche Wirtschaftsmodell hat sich zwar weltweit durchgesetzt, ist aber nicht imstande, für seine eigenen Bürger angemessen zu sorgen. In den USA hat die Ungleichheit das höchste Niveau seit hundert Jahren erreicht. Seit dem Ende der Rezession Mitte 2009 entfielen 95 Prozent der Einkommenszuwächse auf das eine Prozent der Topverdiener. Dagegen liegt das Medianeinkommen der Einzelhaushalte (ohne die Rentner) heute 12 Prozent unter dem des Jahres 2000. Mittlerweile rechnen sich 40 Prozent der US-Bürger der Unter- oder der unteren Mittelschicht zu. Und 40 Millionen Menschen dort sind auf staatliche Lebensmittelgutscheine angewiesen.

In Europa sieht es kaum besser aus. In Spanien und in Griechenland sind über 50 Prozent der jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos. Die Staatsverschuldung liegt selbst in Ländern wie Frankreich und Großbritannien inzwischen bei 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Und die Bilanz wäre noch schlimmer ohne die von der EZB gestützte Politik des „billigen Geldes“, die aber nicht ewig durchzuhalten ist, und ohne die dadurch fehlgelenkten Investitionen, die nur weitere spekulative Blasen wie die von 2008/2009 hervorbringen werden.

Machen wir uns nichts vor: Wenn das, was wir derzeit in Europa erleben, in Asien oder in Afrika passieren würde, würde man es schlichtweg als ein Desaster bezeichnen – und das Ergebnis einer verfehlten Wirtschaftspolitik. Aber weil sich der Westen über die letzten hundert Jahre als intellektuelle Supermacht aufgespielt und die globale Wirtschafts- und Finanzpolitik bestimmt hat, können seine Regierungen dem Rest der Welt immer noch weismachen, Wohlstand lasse sich einzig und allein über Liberalisierung, Nachahmung des westlichen Modells und konsumgetriebenes Wachstum erreichen.

Nicht nur wegen drohender Finanzkrisen ist das eine gefährliche Vorstellung. Mit einigen Anstrengungen und der richtigen Politik könnte Europa in den nächsten Jahren durchaus wieder zu wirtschaftlichem Wachstum zurückkehren. Doch der Effekt wäre zeitlich begrenzt und könnte die eigentliche Gefahr nur noch erhöhen: die Gefahr nämlich, dass das westliche Wachstumsmodell, das auf Konsumsteigerung und der Unterbewertung natürlicher Ressourcen beruht, weiterhin weltweit exportiert und angenommen wird.

Obwohl unter Wissenschaftlern und Experten weitgehend Einigkeit herrscht, dass die Belastungsgrenzen unseres Planeten erreicht sind und wir unsere Konsumgewohnheiten ändern müssten, herrscht es seit Jahrzehnten die politische Option vor, Staat, Regulierungen und öffentliche Institutionen zu schwächen, um das Wirtschaftswachstum und die Expansion der Privatwirtschaft zu beschleunigen. Die Aufgabe der Wirtschaftspolitik besteht nur noch darin, sich aus allem herauszuhalten – oder allenfalls möglichst günstige Rahmenbedingungen für private Unternehmen zu schaffen. In diesem Konzept bleibt auch die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen fast vollständig dem „freien Markt“ überlassen. Aber der Markt ist nichts als die Summe seiner Teile, konkret: der Unternehmen, deren höchster Daseinszweck die Expansion ist. Das macht ihn so anfällig für Manipulationen seitens der stärksten Interessengruppen.

Für Unternehmen besteht kein Grund, sich freiwillig auf Vorhaben einzulassen, die langfristig sinnvoll und nachhaltig wären, aber ihre Gewinne schmälern oder sie gegenüber der Konkurrenz schwächen würden. Und sie haben auch keine Veranlassung, den Preis der natürlichen Ressourcen, die sie verbrauchen, angemessen anzusetzen; vielmehr gibt es einen starken Anreiz, das Gegenteil zu tun. Die Unterbewertung der natürlichen Ressourcen ist der Schlüsselfaktor, der den verschwenderischen Konsum einer kleinen Minderheit ermöglicht – und den Mangel, unter dem die große Mehrheit leidet.

Ein Burger müsste eigentlich 200 Dollar kosten

Der Welternährungsexperte Raj Patel zeigt in einem berühmt gewordenen Beispiel, dass ein Hamburger eigentlich 200 Dollar kosten müsste, da für seine Herstellung bis zu fünf Quadratmeter Regenwald gerodet und 2 393 Liter Wasser verbraucht werden.1 Ähnliches ließe sich auch zu Kraftwerksbetreibern sagen, die ihren Kunden die Kosten der Luftverschmutzung nicht berechnen, oder zu Elektronikherstellern, die weder die sozialen Kosten berücksichtigen, die die Produktion in Asien und in Afrika verursacht, noch die Folgekosten, die nach Gebrauch für die Entsorgung des Elektroschrotts anfallen.2

Verschärft wird das Problem durch das weiterhin rasante Wachstum der Weltbevölkerung. Wenn die führenden Politiker der asiatischen Länder unbeschränkten Konsum für wünschenswert oder gar notwendig erachten, um die aktuellen Wachstumsraten aufrechtzuerhalten, dann könnten im Jahr 2050 in Asien 5 Milliarden Menschen leben, die so viel konsumieren wie die US-Amerikaner heute. Von den dann weltweit 3 Milliarden Autos wären allein in Indien und in China 2 Milliarden unterwegs, mit einem täglichen Rohölbedarf von 120 Millionen Barrel – etwa viermal so viel, wie die Opec-Länder heute fördern. Auch beim Trinkwasser, von dessen weltweit verfügbaren Reserven derzeit 54 Prozent verbraucht werden,3 wäre es ein Desaster, wenn die Menschen in Asien sich den Westen zum Vorbild nähmen: In den USA wird heute pro Kopf dreimal so viel Wasser verbraucht wie in China und mehr als hundertmal so viel wie in Angola.

Asien sowie ein Großteil der Schwellen- und Entwicklungsländer bewegen sich derzeit auf einen Abgrund zu. Sie sind in einer ähnlichen Situation wie die USA vor sechzig Jahren, als sie die ökonomischen und politischen Institutionen schufen, die die Welt bis heute prägen. Nun verschiebt sich der wirtschaftliche und politische Einfluss nach Osten, und die Länder Asiens haben das Privileg, aber auch die Verantwortung, die Institutionen aufzubauen, die für die nächsten fünfzig Jahren Bestand haben werden. Ihnen wird gesagt, sie seien die Zukunft der Weltwirtschaft und die Erben der westlichen Wirtschaftstradition. Die asiatischen Eliten sollten sich jedoch hüten, ihrer Bevölkerung den Lebensstil und die Konsumgewohnheiten des Westens aufzudrängen, und stattdessen lieber ein alternatives Entwicklungsmodell schaffen und umsetzen, das von der Begrenztheit der Ressourcen ausgeht. Dabei sind vier häufig vernachlässigte Faktoren zu berücksichtigen.

Erstens die demografische Entwicklung: Hier konzentriert sich die Debatte auf Themen wie sinkende Geburtenraten, Migrationsströme und die Alterung der Gesellschaften. Weit weniger Aufmerksamkeit erfährt die ebenso wichtige Frage des Stadt-Land-Gegensatzes. Die ländliche Bevölkerung in Afrika und in Asien ist von lebenswichtigen Infrastrukturen abgeschnitten. Sie müsste über bessere Transportmöglichkeiten, Bewässerungsanlagen, Kommunikationsmittel und vernünftige Lagerungsmöglichkeiten verfügen, damit weniger Waren verderben und die Bauern ihre Produkte auf den Märkten in nahe gelegenen Städten verkaufen können. Auch die schlechte Versorgung der ländlichen Regionen mit Trinkwasser, Strom und sanitären Anlagen treibt viele Landbewohner in die städtischen Slums, in denen weltweit heute über eine Milliarde Menschen leben. Investitionen in die dörfliche Wirtschaft würden dieser gewaltigen Migrationswelle entgegenwirken, die bereits dazu geführt hat, dass in den Entwicklungsländern große Teile der ländlichen Gebiete verlassen daliegen, während gleichzeitig die Lebensbedingungen in den Megastädten immer chaotischer und menschenunwürdiger werden.

Zweitens die Bildung: Auch hier geht es bei den Debatten – und den Investitionen – vornehmlich um technische Fertigkeiten und Universitätsabschlüsse. Genauso wichtig wäre es aber, wichtige Zukunftsfragen wie die Grenzen des Wachstums, die angemessene Inwertsetzung von Gütern und Dienstleistungen und die Bedeutung der Rechte des Einzelnen an allen akademischen Institutionen in Lehre und Forschung einzubeziehen. So könnten alternative Ideen größere Verbreitung finden und vielleicht auch das Denken von Politikern beeinflussen, die „Wachstum durch Konsum“ immer noch für alternativlos oder unproblematisch halten.

Gegenwärtig wollen uns die Mainstreammedien weismachen, bedenkenswerte Ideen kämen vor allem von der im Westen ausgebildeten „kosmopolitischen“ Elite, die sich an den globalen Medien orientiert, zu denen sie auch exklusiven Zugang hat. Sie sind die Befürworter jedweder gängigen Orthodoxie, aber wenn sich der Wind dreht, ist es stets ein Mitglied desselben Klubs, das für das Neue eintritt. Solange die Weltöffentlichkeit von anderen Ideen – zumal solchen, die westliche Politiker widerwärtig finden wie etwa Konsumbeschränkungen oder die Einschränkung bestimmter persönlicher Freiheiten – nichts erfährt, wird sie in ideologischem Schubladendenken und Ignoranz befangen bleiben.

Drittens der Staat und seine wirtschaftlichen Aufgaben: Der Staat hat das Wohlergehen der Gesamtgesellschaft zu schützen – nicht nur das Leben und den Besitz der einzelnen Bürger. Ein Hauptaugenmerk muss dabei der preislichen Unterbewertung der natürlichen Ressourcen, aber auch lebenswichtiger Güter, wie sauberer Luft und Trinkwasser, gelten. Nur wenn die tatsächlichen Kosten dieser Ressourcen in den Endpreis der Produkte und Dienstleitungen eingehen, können Staaten die weitere Verschmutzung von Böden, Wasser und Luft verhindern. Deshalb muss der Staat hier aktiv und vorausschauend eingreifen, strenge Schutzmechanismen durchsetzen und gegebenenfalls auch die Nutzung und den Verbrauch endlicher Ressourcen begrenzen. Private Unternehmen sollten nur innerhalb solcher staatlich gesetzten Grenzen agieren können, so sehr das den westlichen Weisheiten zuwiderlaufen mag. Schließlich gibt es Gesetze und Vorschriften für vieles, vom Waffenbesitz über das Rauchen in öffentlichen Räumen bis hin zur Einschränkung der Redefreiheit bei rassistischer Hetze oder bei Aufrufen zu religiös motivierter Gewalt. In all diesen Fällen sind der individuellen Freiheit Grenzen gesetzt, die dem Schutz des Gemeinwohls dienen – sie beschränken die Interessen der wenigen und wahren die Interessen der vielen.

Schließlich die Berücksichtigung der externalisierten Kosten: Nur wenn die „Dienstleistungen der Natur“ in Preisberechnungen einfließen, können auf mittlere Sicht schwere Umweltschäden verhindert, aber auch das Wirtschaftswachstum verlangsamt und die Möglichkeiten demonstrativen Konsums beschränkt werden. Um einen Systemwechsel herbeiführen zu können, müssten sich auch die Institutionen der internationalen Zusammenarbeit verändern, die derzeit immer noch von den westlichen Staaten dominiert werden, entweder strukturell – wie in der UNO – oder de facto wie bei der Welthandelsorganisation (WTO).

Laut Joseph Stiglitz, Wirtschaftsnobelpreisträger und einst Chefökonom der Weltbank, profitierten von den WTO-Abkommen, die in den ersten fünf Jahren nach deren Gründung 1995 vereinbart wurden, die entwickelten Länder zu 70 Prozent und damit weit mehr als die Entwicklungsländer, in denen 85 Prozent der Weltbevölkerung leben. Mit solchen Methoden grenzt man genau die Großregionen aus, nämlich Asien und Afrika, auf die die Welt am meisten angewiesen sein wird, wenn wir in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung umsteuern wollen. Das führt außerdem zwangsläufig dazu, dass die Führungseliten in Asien, wenn die globalen Einfluss- und Machtstrukturen sich erst zu ihren Gunsten verschoben haben, dem aktuellen Modell entsprechend ebenfalls nur ihre eigenen Interessen verfolgen werden, statt im Interesse eines übergeordneten Gemeinwohls Kompromisse zu schließen.

Es spricht einiges für die Annahme, dass der Zeitpunkt für Veränderungen gekommen ist. Vor der weltweiten Finanzkrise waren nicht viele Menschen geneigt, das System infrage zu stellen. Doch seit sich im Modell des westlichen Kapitalismus tiefe Risse zeigen, sind viele – und vielleicht auch führende Köpfe aus Wirtschaft und Politik – offener für alternative Lösungen.

Fußnoten: 1 Siehe Raj Patel „The Value of Nothing“, New York (Picador) 2009, deutsche Ausgabe: „Was kostet die Welt?“, München (Riemann Verlag) 2010. 2 Vgl. Jürgen Reuß, „Gleich kaputt. Die Strategien der geplanten Obsoleszenz“, Le Monde diplomatique, Dezember 2014, und Cosima Dannoritzer, „Verdächtige Ladung. Wie unser giftiger Elektroschrott verbotenerweise in der Welt verteilt wird“, Le Monde diplomatique, November 2014. 3 Siehe www.globalchange.umich.edu/global change2/current/lectures/freshwater_supply/freshwater.html. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Chandran Nair ist Gründer und Direktor des Global Institute for Tomorrow (Gift) in Hongkong sowie Autor von „Der Große Verbrauch. Warum das Überleben des Planeten von den Wirtschaftsmächten Asiens abhängt“, München (Riemann Verlag) 2011. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.01.2015, von Chandran Nair