08.01.2015

Von wegen Naturprodukt

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Von wegen Naturprodukt

Genbaumwolle als globale Massenware von Annette Jensen

Von wegen Naturprodukt - Genbaumwolle als globale Massenware
Kasten zu Von wegen Naturprodukt

Fast jeder Mensch trägt sie direkt auf der Haut – Tag und Nacht. Rund 40 Prozent der Textilien sind heute aus Baumwolle, bei Kleidung liegt der Anteil noch höher. Dass wir uns Teile der Pflanze aus der Familie der Malvengewächse aber manchmal auch einverleiben, zum Beispiel wenn wir fettige Pommes essen oder das Frühstücksbrötchen mit Margarine bestreichen, ist weniger bekannt. Auch in Geldscheinen sind die robusten Fasern verarbeitet, weil ihnen Feuchtigkeit und Dreck wenig anhaben können.

Auf etwa 2,5 Prozent der weltweiten Ackerflächen wächst Baumwolle. Obwohl die Büsche zehn Jahre alt werden können, dominieren heute Saisonpflanzen. Von der Aussaat bis zur Ernte brauchen die sonnenhungrigen Sträucher etwa 200 Tage – und in dieser Zeit darf es keinen Frost geben. Deshalb liegen fast alle Anbaugebiete zwischen dem 37. nördlichen und 30. südlichen Breitengrad. Außerdem benötigt die Pflanze insbesondere in der Frühphase viel Wasser, während Regen kurz vor der Ernte fatale Folgen für die Faserbäusche hat. Deshalb findet der Baumwollanbau heutzutage oft in sehr trockenen Regionen mit künstlicher Bewässerung statt.

Bis zu 1 500 Liter Wasser pro Jahr und Quadratmeter werden dabei eingesetzt, weshalb manches schlichte T-Shirt weit mehr als 50 Badewannen voll Wasser als unsichtbaren ökologischen Rucksack mit sich herumschleppt. Das Statistische Bundesamt hat ausgerechnet, dass die hierzulande verkauften Baumwollprodukte mehr Frischwasser verbrauchen, als in deutschen Haushalten fürs Baden, Kochen und Waschen aus den Hähnen fließt. Weltweit gehen 6 Prozent des Süßwassers für den Baumwollanbau drauf.

Das prominenteste Opfer dieser Praxis ist der Aralsee, einst viertgrößtes Binnengewässer der Welt, dessen östlicher Teil im Sommer 2014 erstmals komplett trockenfiel. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Stalin die Bauern in Kasachstan und Usbekistan gezwungen, ihre Obst- und Weinbauplantagen in riesige Baumwollfelder umzuwandeln. Versorgt wurden die Monokulturen durch ein aus den Zuflüssen des Aralsees gespeistes Bewässerungssystem. Die dramatische Schrumpfung des Sees begann aber erst nach dem Bau des weltweit größten Bewässerungskanals, der Millionen Kubikmeter nach Turkmenistan leitet, die auch dort den Baumwollanbau ermöglichen.

Als das Sowjetreich zusammenbrach, war der Aralsee um zwei Drittel geschrumpft, doch die ökologische Katastrophe in der zentralasiatischen Region nahm kein Ende. Inzwischen ist das Erdreich extrem versalzen, was den Wasserbedarf beim Baumwollanbau noch einmal enorm verstärkt, weil die Kristalle vor der Aussaat aus dem Boden ausgewaschen werden müssen.

Darüber hinaus ist der Baumwollanbau mit einem enormen Pestizid- und Mineraldüngereinsatz verbunden: Über 10 Prozent der Agrochemikalien kommen hier zum Einsatz. Konventionell arbeitende Betriebe spritzen die Pflanzen bis zu 25-mal im Jahr, weil sich Insekten in den Monokulturen und dem feuchtheißen Klima ansonsten rasant vermehren würden. Vor der Ernte mit Großmaschinen werden die Büsche vielerorts künstlich entlaubt. Nicht selten stehen die Arbeiter im Giftnebel. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass jährlich etwa 20 000 Menschen an den Folgen des Chemikalieneinsatzes auf den Feldern sterben.

Mitte der 1980er Jahre fanden in den USA die ersten Freilandversuche mit gentechnisch veränderter Baumwolle statt, seit 1996 ist Genbaumwolle dort offiziell zugelassen. Die Manipulationen am Erbgut machen die Pflanzen nicht nur unempfindlicher gegen Hitze und Salz, sondern führen auch dazu, dass sie selbst Abwehrstoffe gegen Wanzen und Baumwollkapselwürmer bilden. Der US-Agrarmulti Monsanto hat das Saatgut genetisch außerdem so verändert, dass die Pflanzen resistent gegen Glyphosat sind. So überstehen die Baumwollsträucher – anders als sogenannte Unkräuter – die Dusche mit dem ebenfalls von Monsanto hergestellten Breitbandherbizid „Roundup“.

Auf mehr als zwei Dritteln der weltweiten Baumwollfelder wachsen inzwischen genmanipulierte Pflanzen, deren Saatgut den Bauern meist im Doppelpack mit Glyphosat verkauft wird. Tatsächlich steigen die Erntemengen nach der Umstellung deutlich an. In Indien, das gentechnisch veränderte Baumwolle 2002 zuließ, schnellten die durchschnittlichen Erträge um zwei Drittel nach oben. Zugleich sank der Chemikalienverbrauch. Über 80 Prozent der Baumwolle, die heute auf dem Weltmarkt gehandelt wird, ist genmanipuliert. Nur Afrika ist in weiten Teilen noch frei von genveränderter Baumwolle, doch auch hier gibt es inzwischen Pilotversuche und erste Zulassungen.

Weniger als ein Prozent der weltweiten Baumwollproduktion ist „bio“, zum Großteil aus Indien. Die Preise dafür liegen etwa ein Drittel über denen für konventionelle Ware. Ein harter Schlag für die Biobauern war ein 2010 von der Financial Times aufgedeckter Skandal. Unter dem Label „organic“ waren große Mengen Gentechbaumwolle aus Indien verkauft worden.

In 72 Ländern gibt es Baumwollanbau, wobei China, Indien, die USA und Pakistan zusammen fast drei Viertel der Weltproduktion liefern. Nennenswerte Mengen kommen außerdem aus Brasilien, Australien, Usbekistan und der Türkei. Die meisten Anbauländer gibt es in Afrika, und für viele ihrer Volkswirtschaften ist die Baumwolle ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor. In den Regionen südlich der Sahara leben Schätzungen zufolge über 10 Millionen Menschen vom Baumwollanbau. Die Hektarerträge sind von Land zu Land sehr unterschiedlich. Sie liegen zwischen 140 Kilogramm in Somalia und knapp 1 500 Kilogramm in Australien. Brasilien, die Türkei und China liegen etwas darunter, in Indien sind es gegenwärtig etwa 500 Kilogramm. Im Durchschnitt hat sich der Hektarertrag seit den 1940er Jahren fast verdreifacht – der Hauptgrund dafür, dass auf dem Globus heute siebenmal so viel Baumwolle produziert wird wie vor hundert Jahren.

Chinas größte Baumwollregion liegt in der Unruheprovinz Xinjiang ganz im Westen des Landes. Hier schuften während der Erntezeit Hunderttausende von Saisonarbeitern oft sieben Tage die Woche bis zu 14 Stunden täglich. In Afrika hingegen bauen vor allem Kleinbauern die Baumwolle an. Während der etwa dreimonatigen Erntezeit gehen sie mehrmals durch die Reihen und sammeln die reifen Kapseln ab. Sie erreichen damit eine bessere Qualität als die großen Pflückmaschinen, die bis zu acht Reihen auf einmal bearbeiten und bei ihrem einzigen Erntegang auch un- und überreife Kapseln einsammeln. Trotzdem hat ein Großteil der afrikanischen Kleinbauernfamilien weniger als 1,50 Dollar pro Tag und Kopf zur Verfügung und lebt damit unter der „extremen Armutsgrenze“. Ähnlich geht es den 7 Millionen indischen Baumwollbauern, von denen sich viele durch den Kauf des gentechnisch veränderten Saatguts und der dazugehörigen Chemikalien verschuldet haben. Viele Tausende haben sich schon das Leben genommen, nicht selten, indem sie Pestizide schluckten.

Ein Grund für ihre verzweifelte Lage sind die Agrarsubventionen in Europa und in den USA, wo etwa 25 000 Betriebe, vor allem in Arizona und Texas, mehr als 10 Prozent der weltweiten Baumwolle produzieren. Seit das Welttextilabkommen 2005 in Kraft getreten ist, werfen sie ihre Ernte fast vollständig auf den Weltmarkt, weil es so gut wie keine heimische Verarbeitungsindustrie mehr gibt. Konkurrenzfähig sind sie nur, weil der Staat sie jährlich mit etwa 3 Milliarden Dollar unterstützt.

Viele Regierungen haben sich bei der WTO wegen dieser unfairen Handelspraxis beschwert und im Prinzip recht bekommen, was allerdings folgenlos blieb. Brasilien setzte immerhin in bilateralen Verträgen 2009 und 2014 Kompensationen durch, doch schwächere Länder haben eine solche Möglichkeit nicht. Ihre Verluste durch den insbesondere von den USA nach unten gedrückten Baumwollpreis übersteigen in vielen Fällen die Entwicklungshilfezahlungen aus dem Norden um ein Vielfaches. Internationale Experten gehen davon aus, dass der Baumwollpreis etwa 11 Prozent höher liegen würde, wenn einige Länder aufhören würden, ihre heimische Agroindustrie zu stützen.

Doch nicht nur die westlichen Länder päppeln den heimischen Baumwollanbau auf. Peking legt einen Mindestpreis fest, zu dem die chinesischen Weiterverarbeiter die im Inland angebaute Rohware aufkaufen können. Zugleich werden die Importe durch Quoten beschränkt und Zölle erhoben, um die heimischen Produzenten vor den niedrigen Weltmarktpreisen zu schützen.

Die Baumwollfasern werden nach der Ernte von Hand oder maschinell von den Kernen, Blättern und Kapselteilen getrennt, zu 200-Kilogramm-Ballen gepresst und in die Spinnereien transportiert. Großhandelsunternehmen wie Cargill oder Plexus wickeln die internationalen Geschäfte ab. Die bedeutendste Baumwollbörse ist die New York Cotton Exchange, aber auch Bremen ist ein international wichtiger Handelsplatz. Nachdem die Preise im Frühjahr 2011 auf ein Rekordhoch von 2,20 Dollar für ein Pfund mittlerer Qualität geklettert waren, haben sie zwischen 2012 und 2014 die 1-Dollar-Marke kein einziges Mal übersprungen. Genau wie Getreide ist auch Baumwolle längst zum Spekulationsobjekt geworden: Banken wie Unicredit oder Goldman Sachs bieten Zertifikate an, mit denen sich auf fallende oder steigende Preise wetten lässt.

Nach Inkrafttreten des Welttextilabkommens (siehe Kasten) ist China zum unangefochtenen Zentrum der globalen Textilindustrie geworden: Dort wird 43 Prozent der Rohbaumwolle in allen weiteren Schritten verarbeitet, dort ist etwa die Hälfte aller Spinnereien und Webereien der Welt angesiedelt. Nicht nur die Textilwirtschaft in Europa und in den USA konnte der billigen asiatischen Konkurrenz nicht standhalten, auch die afrikanische Bekleidungsherstellung ist durch Importe aus China so gut wie verschwunden.

Viele chinesische Fabriken verfügen inzwischen über hochmoderne Maschinenparks: Die Geschwindigkeit der Garnaufwickler liegt deutlich über der von TGV und ICE. Die Fäden werden anschließend zu Stoffen gewoben, gefärbt und in Nähfabriken gebracht. Weil die Löhne in den chinesischen Industrieregionen in den letzten Jahren deutlich gestiegen sind, wandert die Produktion oft in abgelegenere Landesteile oder in Billiglohnländer wie Vietnam, Kambodscha und vor allem Bangladesch ab.

Niemand weiß, wie viele tausend Textilfabriken es in Bangladesch gibt, schätzungsweise 5 Millionen Menschen in dem südasiatischen Land nähen inzwischen für den Weltmarkt. Zwar wurde Ende 2013 ein gesetzlicher Mindestlohn von 48 Euro pro Monat eingeführt – doch der wird vor allem bei den Subunternehmen vielerorts nicht eingehalten. Gewerkschafter werden verfolgt, manche umgebracht, und nur sehr wenige Beschäftigten trauen sich einer Gewerkschaft beizutreten.

Die Abnehmer in den USA und in Europa diktieren Preise und Lieferbedingungen. H & M stellt alle paar Wochen eine neue Kollektion vor, Walmart oder Aldi ordern ausschließlich einmalige Schnäppchenware. Schon nach wenigen Waschgängen sollen die Klamotten durch Neukauf ersetzt werden. Aber auch Edelmarken wie Hugo Boss oder Calvin Klein lassen in Bangladesch unter unmenschlichen Bedingungen produzieren. Im Schnitt wächst der weltweite Textilabsatz seit Jahren um durchschnittlich um 3 Prozent jährlich. Der Kapitalismus nahm seinen Ausgang in der Textilindustrie.1 Von Anfang an gehörten katastrophale Arbeitsbedingungen auf den Baumwollfeldern, in den Fabriken und bei den Subunternehmern dazu. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Nur die Orte der Ausbeutung liegen woanders.

Fußnote: 1 Siehe Sven Beckert: „King Cotton – eine Geschichte des globalen Kapitalismus“, München (C. H. Beck) 2014. Annette Jensen ist freie Journalistin. © Le Monde diplomatique, Berlin

Faserabkommen

Ein möglichst freier Welthandel führt zu günstigen Preisen und nützt allen – das ist das Credo der Neoliberalen. Dagegen brandmarken sie Zölle, Importquoten und Subventionen als wirtschaftsfeindlichen Protektionismus. Diese Perspektive haben vor allem die USA und Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (Gatt) durchgesetzt, dessen Kern das Verbot staatlicher Handelsbeschränkungen ist. Allerdings gab es neben der Landwirtschaft stets eine zweite Ausnahme: die Textil- und Bekleidungsproduktion. Jahrzehntelang versuchten die traditionellen Industrienationen, die eigenen Firmen vor der internationalen Konkurrenz zu schützen.

So legte das Multifaserabkommen von 1974 für jedes Land fest, wie viel Textilien es maximal exportieren durfte. Vor allem China wurde auf diese Weise ausgebremst und konnte viel weniger Billigkleidung in Europa und in den USA absetzen, als es hätte liefern können. Zugleich stiegen nun etliche andere Entwicklungsländer in die Produktion ein. Anfang der 1990er Jahre gab es in 160 Staaten Textilfabriken. Länder wie Bangladesch und Kambodscha, die damals auf einem freien Weltmarkt nicht konkurrenzfähig gewesen wären, bauten eine bedeutende Produktion auf.

Als 1995 die Welthandelsorganisation (WTO) gegründet wurde, setzten die Industrieländer mit dem Welttextilabkommen noch einmal eine zehnjährige Schonfrist durch: Erst nach und nach sollte der Welthandel mit Klamotten vollständig liberalisiert werden. Ende 2004 war es dann so weit – und erwartungsgemäß überschwemmten chinesische Produkte sofort den Weltmarkt. Die EU und die USA verhängten daraufhin erneut Quoten gegen das Land, die 2008 ausliefen.

Mit Ausnahme von wenigen Spezialfabriken ist die Textilproduktion inzwischen aus den USA und Europa verschwunden. Das Geschäftsmodell der hier ansässigen Bekleidungsindustrie hat sich grundsätzlich verändert: Schnitte und Marken werden weiterhin hier erstellt, während für die Produktion meist der billigste Anbieter weltweit gesucht wird.

In vielen Ländern ist die Textilwirtschaft nun wieder verschwunden – Schätzungen gehen davon aus, dass mit dem Ende des Welttextilabkommens 2005 rund 300 000 Näherinnen überall auf dem Globus ihre Jobs verloren haben. Nach dem Auslaufen der Quoten für China 2008 traf es noch einmal Hunderttausende zwischen Mexiko, Südafrika und der Mongolei. Der Wettbewerb läuft heute vorwiegend über Preis und Liefergeschwindigkeit – was für die Beschäftigten Lohndumping und extrem lange Arbeitszeiten bedeutet.

Le Monde diplomatique vom 08.01.2015, von Annette Jensen