08.01.2015

Brief aus Urbino

zurück

Brief aus Urbino

von Peter Kammerer

Audio: Artikel vorlesen lassen

Urbino gehört mit seinen 15 000 Einwohnern zu den „hundert Städten“ Mittelitaliens, die bis heute ein ganz besonderes Netzwerk urbaner und ländlicher Kultur bilden. Die nächste Großstadt ist Bologna, in einer Entfernung von drei Stunden (mit öffentlichen Verkehrsmitteln). Also tiefe Provinz auf hohem kulturellen Niveau. Von meinem Garten aus sehe ich eines der schönsten Bauwerke der Renaissance, den Palazzo Ducale. In der Altstadt, deren Zentrum er war, werden die Palazzi und Wohnungen an Studenten und Touristen vermietet. Der Kindergarten unter der 1799 gepflanzten, mächtigen Platane sieht ziemlich verwaist aus und wird von einer Kooperative betrieben.

In Italien werden die öffentlichen Aufgaben, sofern sie überhaupt noch wahrgenommen werden, zunehmend privatisiert oder von Genossenschaften erledigt. In beiden Fällen senkt man die Kosten durch einen massiven Rückgriff auf das (nicht nur jugendliche) Prekariat und dessen ständige Jobwechsel. Die von der EU geforderten und hoch gelobten Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre haben nichts als eine Vielzahl flexibler Arbeitsvertragstypen hervorgebracht, so dass Kinder, Kranke, Bücher, Museen, Flüchtlinge und Grünanlagen von einem ständig wechselnden, schlecht bezahlten Personal betreut werden. Darunter gibt es geradezu heroische Idealisten und ebenso viele Ignoranten. Diese neuartige Entfremdung ist die tragikomische Parodie auf den Marx’schen Traum eines vielseitig tätigen Menschen.

Nur wenigen Beobachtern ist der Zusammenhang von sogenannten Arbeitsmarktreformen, radikaler Sparpolitik, ruinöser Konkurrenz bei Ausschreibungen, Gebrauch des Prekariats und Degenerierung des Staatsapparats aufgefallen. Sicher ist nur, dass im letzten Jahrzehnt die klassischen öffentlichen, inzwischen ausgelagerten Leistungen qualitativ schlechter und insgesamt teurer geworden sind. Doch wie der jüngst in Rom aufgedeckte Korruptionsskandal (siehe Artikel auf Seite 21) beweist, wird an der Privatisierung beziehungsweise an der Delegierung von Aufgaben sehr gut verdient.

Wenn sich alles rechnen muss und nur noch vernünftig ist, was sich auszahlt, wird auch das Unglück der Menschen zur Geldquelle. Im Fall der Stadt Rom lässt sich das auf Heller und Pfennig nachrechnen. Die Stadt hat soziale Aufgaben Genossenschaften anvertraut, die inzwischen ein korruptes Netz bilden und riesige Summen in die eigenen Taschen umgeleitet haben. Die Staatsanwaltschaft will auf diesen Fall die Sonderparagrafen zur Bekämpfung der Mafia anwenden. Das erleichtert ihre Arbeit und gibt ihr Druckmittel gegen die Angeklagten in die Hand. Rechtsstaatlich ist diese Interpretation aber äußerst bedenklich. Denn auf ähnliche Weise bedrohte die Turiner Staatsanwaltschaft die „Rädelsführer“ der sozialen Proteste gegen den Ausbau der Schnellverbindung Turin–Lyon (TAV) mit der Anwendung der Antiterrorgesetze. Die meist jugendlichen Angeklagten riskierten damit 10 Jahre Gefängnis. Zum Glück hat das Gericht diese repressive Strategie abgelehnt.

Großprojekte, die nicht nur in Italien aus dem Ruder laufen und nur noch antidemokratisch und sogar auch antiökonomisch „durchgezogen“ werden können, sind nach wie vor die heiligen Kühe der italienischen Wachstumspolitik. An sie glauben alle, die ehemalige Linke noch inbrünstiger als die Rechte. Auch in Urbino mit seiner seit über 50 Jahren linken Stadtverwaltung.

Eine Schnellstraße, die den Zugang zur Stadt erleichtern sollte, erforderte den Bau eines kostspieligen Tunnels. Die Alternative wäre gewesen, die vorhandene Straße auszubauen, auf die der Tunnel ohnehin wieder mündet. Sie wurde in ihrem alten Zustand belassen und rutschte bei einem der schweren Regenfälle der letzten Jahre ab. So stehen die Autofahrer nun vor einer Baustelle, auf der sich seit acht Monaten mangels Geld nichts tut, und verlieren ihre im Tunnel eingesparte Zeit.

Ein Kleinod der Stadt, das Oratorio San Giovanni, sollte vor dem vom Berg ausgehenden Wasserdruck geschützt werden. Eine Firma gewann die Ausschreibung mit einem Schleuderpreis, machte bankrott und hinterließ eine riesige Baustelle. Um einen Parkplatz mit Supermärkten und Busbahnhof zu bauen, wurde der Hügel, auf der ein Teil der Stadt steht, wie eine Orange aufgeschnitten und mit einer von Pflanzen kaschierten Betonschicht wieder zugedeckt. Die zahlreichen Wasseradern im Berg müssen sich neue Wege suchen, die man erst in ein paar Jahren, beim nächsten Erdrutsch, kennenlernen wird.

Seit etwa einem Jahrzehnt führt in Italien jeder größere Regen zu einer Katastrophe. In der physischen Zerstörung des Landes spiegelt sich der moralische Bankrott. Doch trotz der vielen unsäglichen Skandale – das Mose-Projekt in Venedig, die Mailänder Expo, der TAV Turin–Lyon, die neue römische U-Bahn-Linie C (die Dimension dieses Skandals wird erst allmählich sichtbar und stellt die Genossenschaftsmafia noch in den Schatten) – geht der Raubbau weiter, angeheizt durch das jüngste Dekret der Regierung Renzi „zur Förderung des Wachstums“. Da Italien keinen Verwaltungsapparat hat, der Großprojekte zuverlässig planen könnte, hat Renzi Kontrollen und Entscheidungswege einfach „schlanker“ gemacht.

Als Pasolini die märchenhaften Städte des Orients besuchte, verglich er sie immer mit Städten wie Venedig und Urbino. Was sollen solche Überbleibsel in der modernen Welt? Diese Existenzfrage stellt sich nicht nur im Fall Italiens. Doch die einzige bisher gefundene und praktizierte Lösung besteht darin, die Vergangenheit den Touristen zum Fraß vorzuwerfen. Eine Spielart des Kannibalismus. Natürlich gibt es da Variationen. Eine davon wird derzeit in Urbino probiert.

Die Stadt holte nach den letzten Kommunalwahlen im Herbst den Kunsthistoriker Vittorio Sgarbi als Kulturdezernenten nach Urbino und hat in den letzten drei Monaten eine kulturelle Aktivität entfaltet, wie man sie seit Langem nicht mehr gesehen hat.

Die Hauptattraktion ist ein Leonardo da Vinci zugeschriebenes Porträt einer Prinzessin Sforza. Das aus einem Folianten herausgetrennte Pergament ist seit Anfang Dezember im Palazzo Ducale erstmals für ein breites Publikum zu sehen. Das 1998 für 22 000 Dollar als Werk eines unbekannten Künstlers ersteigerte Bild wäre als anerkannter Leonardo das Vielfache dieser Summe wert.

Indem er dem Werk den Palazzo Ducale als Schauplatz zur Verfügung stellte, hat Sgarbi in den Streit um die Echtheit eingegriffen, bei dem es nicht nur um Kunst, sondern um Millionen geht. Mit dieser Ausstellung, so Sgarbi, der von der Echtheit des Bildes „absolut überzeugt“ ist, erweist sich Urbino erneut als ein „Zentrum unserer Welt“. Weniger vollmundig hatte vor Jahren der aus Urbino stammende Schriftsteller Paolo Volponi festgestellt: „In jedem großen Museum der Welt findet man eine Spur nach Urbino.“

Sgarbi mobilisiert dieses Netzwerk, seine Geschichte, Rätsel und Mythen und bringt in die kleine Stadt eine Eventkultur, die ihr bisher fremd war. Aufgrund seiner Beziehungen gelang es ihm, für das Weihnachtsfest aus Macerata einen Tintoretto nach Urbino zu schaffen und im Oratorio di San Giuseppe auszustellen. Ein Event, auch wenn man nicht erfährt, welchen Sinn dieser Transport der „Anbetung der Könige“ haben soll und welche Gegenleistung dafür ansteht. Das Hin und Her alter Gemälde ist immer problematisch. Sinnvoll hingegen scheint die für Mitte Januar geplante Ausstellung mehrerer Bilder „berühmter Männer“, die, ursprünglich für das Studiolo des Herzogs von Urbino gemalt, heute im Louvre hängen und jetzt zumindest für kurze Zeit in ihre Heimat zurückkehren.

Der Kunst- und Ausstellungsmarkt gehört heute zu den beliebtesten Aktionsfeldern spekulativer, ja krimineller Leidenschaften. Indem sie ausgrenzt, was nicht verkäuflich ist beziehungsweise marktfähig macht, was eigentlich nicht auf Märkte gehört, ist die Eventkultur zu einem gefährlichen Spielzeug der Kulturpolitik geworden. Und sie erzeugt einen ganz bestimmten Typ von Managern. Sgarbi ist dafür ein glänzendes Beispiel, ein mit ebenso genialen wie pathologischen Zügen ausgestatteter Abenteurer des Kunstmarkts, der Expertisen, der Talkshows, der Politik und des gesellschaftlichen Lebens der Berlusconi-Zeit. Ein Schriftsteller wie Balzac hätte seine Freude an ihm. Ob Urbino mit ihm glücklich wird, mag man bezweifeln. Doch vorerst hat er frischen Wind in den verschlafenen Charme einer Kleinstadt gebracht und die Besucher sind zu Recht begeistert.

„Frischer Wind“ und „verschrotten“ gehören zum Lieblingsvokabular von Regierungschef Matteo Renzi, was seine Politik nahtlos mit der Ära Berlusconi verbindet. Das Neue als Wert an sich. Doch dieser Impetus macht blind für das einzig wirklich Neue, das derzeit in Italien spürbar ist. Unweit von Urbino, in der kleinen Gemeinde Sant’Ippolito (1 500 Einwohner), die sich trotz aller Sparmaßnahmen immer noch eine eigene Bibliothek leistet, fand am Abend des 19. Dezember eine gut besuchte, politisch bunt gescheckte Veranstaltung statt. Der Prior des benachbarten Klosters Fonte Avellana kommentierte eine Rede, die Papst Franziskus am 28. Oktober „an die sozialen Bewegungen in der Welt“ gehalten hat.

Die Diskussion ging um das Problem der Glaubwürdigkeit und bewegte sich um zwei Sätze des Papstes: „Gewöhnlich steht hinter jedem Euphemismus eine Untat“ und, an seine sozial engagierten Zuhörer gerichtet: „Ihr habt die Füße im Schlamm und die Hände im Lebendigen. Ihr riecht nach Elendsviertel, nach Volk, nach Kampf!“ Kulturpolitik, untrennbar verbunden mit Sozialpolitik, bedeutet nichts anderes, als Worten und Bildern Glaubwürdigkeit zurückzugeben.

Peter Kammerer ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Urbino. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.01.2015, von Peter Kammerer