14.09.2007

Die Reisenden auf der „Marrakesch“

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Die Reisenden auf der „Marrakesch“

In zwei Tagen von Südfrankreich nach Tanger von Pierre Daum

Die Achsen knirschen und der Auspuff setzt auf unter der Last des Dachgepäckträgers. Was verbirgt sich unter den blauen und grünen Planen? „Kühlschränke, Fahrräder, Waschmaschinen“, erklärt Samia lachend, „oder auch Leitern und Schubkarren.“ Die junge Wirtschaftswissenschaftlerin aus Agadir kommt gerade von ihrer Hochzeitsreise aus Frankreich zurück. „Die Franzosen werfen alles weg, was nicht mehr funktioniert, wir kaufen es auf den Flohmärkten und reparieren es.“ Ihr Mann fügt hinzu: „Bei uns in Marokko ist man stolz auf jedes Familienmitglied, das in Frankreich arbeitet. Wenn so ein vollgepacktes Auto ins Dorf einfährt und vor dem Haus parkt – das macht bei den Nachbarn großen Eindruck.“

Am Mittwoch, dem 4. Juli, geht es los. Schon seit dem frühen Morgen füllt sich der riesige Parkplatz am Hafen von Sète mit Pkws und Kleinlastern. Die meisten haben französische Nummernschilder, aber man sieht auch Autos aus Belgien, den Niederlanden, Italien und Deutschland. Alle sind vollgepackt bis obenhin. Gegen 18.45 Uhr ist endlich der letzte Kombi in den Bauch des Fährschiffs gerollt. Die dicken Taue werden von den Pollern am Kai gelöst. Im kleinen Hafenbecken von Sète hinterlassen die Schiffsschrauben eine braune Spur aus aufgewirbeltem Schlamm.1 Mit nur einer Dreiviertelstunde Verspätung legt die „Marrakesch Express“ ab. Übermorgen früh wird das Schiff in Tanger einlaufen.

Die Schiffsuhren zeigen Viertel vor sechs, eine merkwürdige Zeitangabe, denn in Tanger ist es jetzt Viertel vor fünf, in Frankreich Viertel vor sieben. Die seltsame Zwischenzeit passt zu dieser Überfahrt durch den unbestimmten Raum zwischen Afrika und Europa. Auf den Zwischendecks spielen die Kinder Verstecken. Die „Marrakesch Express“ ist an diesem 4. Juli komplett ausgebucht. Schon seit Ende März waren keine Plätze mehr für diese Überfahrt zu bekommen, auch nicht für die folgenden Passagen im Juli. Im August werden dann die Tickets für die Rückfahrt ausverkauft sein.

Die See ist ruhig. Endlich kommt eine Brise auf und vertreibt die Hitze des Tages. Naïma sitzt im Salon Medina. Im Fernsehen, auf dem marokkanischen Kanal 2M läuft eine Talenteshow. Die Moderatoren und die Sänger sprechen mal Französisch, mal Arabisch. Die junge Frau schaut nur ab und zu hin. „Gut, dass sie auch Französisch sprechen“, meint Naïma, „ich kann fast kein Arabisch.“ Sie ist in Versailles geboren. „Seit meiner Geburt, seit 32 Jahren fährt die ganze Familie jedes Jahr nach Hause.“ Nach Hause? „Na ja, nach Hause, nach Marokko. Ich bin Französin und Marokkanerin, halb und halb. Zu Hause fühle ich mich in beiden Ländern. In Frankreich habe ich keine Probleme, auch wenn man oft das Gegenteil hört. Eigentlich sind wir Berber, aber ich sage immer, dass ich Araberin bin. Wenn man sagt, man ist Araber, dann schließt das alle Länder im Orient mit ein.“

Und was ist der Unterschied zwischen Arabern und Berbern? „Ehrlich gesagt, das habe ich mich nie gefragt.“ Hier mischt sich Naïmas Vater ein. Unter seinem gepflegten grauen Schnurrbart taucht ein warmes Lächeln auf: „Die Berber waren die Ureinwohner Marokkos. Es gab drei Stämme: Im Souss, im Rif-Gebirge und im Atlas-Gebirge. Die Araber kamen erst viel später.“ Er stammt aus Beni Mellal. 1966 ging er nach Frankreich, arbeitete zunächst in einer Chemiefabrik, dann bei einem Farbenhersteller. Heute ist er in Dijon beschäftigt, in der Produktion des berühmten Maille-Senfs. Warum ist er ausgewandert? „Als sich Frankreich 1956 aus Marokko zurückzog, ging es dem Land schlecht. Keine Straßen, keine Industrie, keine Fachkräfte. Meine Eltern waren arm, und wir waren fünf Kinder. Also sagte mein Vater: Die Tür nach Frankreich steht offen – da gibt es genug Arbeit.“

Naïma hat bei der Präsidentschaftswahl im ersten Wahlgang für François Bayrou und im zweiten für Ségolène Royal gestimmt. „Aber ich finde es gut, dass Sarkozy Präsident geworden ist! Denken Sie an das Thema kriminelle Wiederholungstäter: Jetzt kriegen sie das gleiche Strafmaß, ob minderjährig oder erwachsen – das finde ich richtig!“

Naïmas Vater hat sich nicht einbürgern lassen. „Ich arbeite, ich zahle Steuern, ich bin sogar zweiter Vorsitzender in einem Verein. Aber ich gehe nicht wählen. Meinen Kindern habe ich immer geraten, sich zu engagieren. Eine meiner Töchter sitzt sogar im Stadtrat.“ Naïma ist Polizeibeamtin. Einer ihrer Brüder arbeitet im Management eines Mobilfunkbetreibers, ein anderer ist Sportlehrer, eine Schwester arbeitet im Krankenhaus. „Wir hatten alle eine gute Ausbildung. Dieses ganze Durcheinander muss aufhören – die Drogen, die Straftaten, die brennenden Autos … Das alles ist die Schuld der Eltern.“

Damit ist ihr Vater nicht ganz einverstanden. „Es liegt auch an den Gesetzen. Ein Freund von mir hat seine vierzehnjährige Tochter bestraft, weil sie 30 Francs gestohlen hatte. Als sie nach Hause kam, hat er ihr mit dem Gürtel ordentlich eins übergezogen. Und dafür musste er 18 Monate ins Gefängnis! Wie sollen denn die Väter ihre Kinder erziehen, wenn sie für so eine Bestrafung von der Justiz verurteilt werden?“

Strikte Trennung von Männern und Frauen

Draußen wird es allmählich dunkel. Um 19.30 Uhr (Schiffszeit) fordert eine Frauenstimme über Lautsprecher die Passagiere der „Luxusklasse“ auf, zum Abendessen im Restaurant zu erscheinen. Nur sie genießen das Privileg, von Kellnern bedient zu werden und an gedeckten Tischen zu speisen. Und in ihren Kabinen für zwei bis vier Personen blickt man durch ein Bullauge aufs Meer. Die Reisenden der Touristenklasse müssen mit fensterlosen Vierbettkabinen vorlieb nehmen, und manche können sich nur die Übernachtung auf den Pullman-Sesseln in der zweiten Klasse leisten. Und eine Mahlzeit gibt es für sie nur in der Cafeteria, wo die Teller nie ganz sauber sind. Aber in beiden Klassen gilt die strikte Trennung von Männern und Frauen – es sei denn, eine Familie hat eine Vierbettkabine gebucht.

Stéphane, seine Frau Chadia und der Sohn Enzo sind vom Oberkellner an Tisch 27 platziert worden. Chadia, hoch gewachsen und mit blond gefärbten Haaren, trägt ein tief ausgeschnittenes T-Shirt, aber sie schaut recht schüchtern drein und scheint keinen Appetit zu haben. Ihr Mann Stéphane arbeitet als Feuerwehrmann an der Côte d’Azur. Vor zehn Jahren haben die beiden geheiratet, und seitdem fährt die Familie jedes Jahr nach Marokko. „Das ist für uns ein großes Vergnügen“, erklärt Stéphane. Dann senkt er die Stimme: „Wissen Sie, mit den Arabern aus den Vorstädten haben wir marokkanischen Araber eigentlich nichts zu tun. Wir sind anständige Leute.“ Es geht um Politik, daher der Flüsterton. „Ich finde es gut, dass es Sarko geschafft hat. Mal sehen, ob er seine Wahlversprechen einlöst.“ Und weiter: „Unter meinen Kollegen gibt es auch Rassisten, die für Le Pen stimmen – aber ich lade sie trotzdem zu uns nach Hause ein.“ Seine Frau ist anderer Meinung: „Ich mag Sarkozy nicht. Ich bin zwar einverstanden, dass er mit dem Kärcher die Vorstädte säubern will. Aber ich kann nicht vergessen, dass ich Araberin bin.“

Für die meisten Passagiere ist nun Schlafenszeit. Im Pullman-Saal breiten sie ihre Matratzen und Decken aus, auch am Boden zwischen den Stuhlreihen oder in den angrenzenden Gängen. Später, als alle schon schlafen, beginnt ein Mann, Fotos von den Migranten zu machen, die hier dicht an dicht auf dem Boden liegen, eingehüllt in bunte Decken. Aber ein Mitglied der Besatzung schreitet sofort ein und erklärt ihm, es sei verboten, die Passagiere zu fotografieren. „Der hat gar nichts zu sagen hier“, meint Hamid2 , der ebenfalls auf dem Schiff arbeitet. „Die Comanav (die marokkanische Reederei) nennt sich Dienstleister für Marokkaner mit ausländischem Wohnsitz (MRE). Es soll nicht bekannt werden, wie ein Staatsunternehmen mit den Menschen umgeht, die hier befördert werden.“

Freitag, der 5. Juli. Die Zeit vergeht langsam, die Mahlzeiten bestimmen den Tagesrhythmus. Eine Gruppe von Jugendlichen aus allen Regionen Frankreichs hat sich am Abend zuvor im Kasbah-Saal kennen gelernt. Dort gibt es eine Diskothek. Doch gestern Abend war dort tote Hose, erzählt die 19-jährige Nadia aus Behren-les-Forbach an der Mosel. Aber sie ist sich sicher: „Heute Abend wird der Laden voll sein.“ Nadia putzt in einer deutschen Fabrik, direkt hinter der Grenze. Nach den Ferien will sie sich unbedingt noch mal weiterbilden, um diesen „beschissenen Job“ loszuwerden. Sie ist in Frankreich geboren, spricht aber fließend Arabisch und auch auch eine Berbersprache. „Dieses Jahr wollte ich mit Freunden nach Sizilien fahren. Und was sagt meine Mutter: ‚Gem’hi balizteq, radyin al maghrib, ou baraka men sdah!‘ Frei übersetzt heißt das: ‚Pack die Koffer, wir fahren nach Marokko. Und schlag dir diesen Unsinn aus dem Kopf!‘ “ Die 15-jährige Salima, auf Korsika geboren, kichert: „Die Franzosen feiern jedes Jahr Weihnachten, wir fahren jedes Jahr nach Marokko!“

Farid kommt aus Port-Saint-Louis-du-Rhône, er ist achtzehn und hat gerade seine Berufsausbildung mit dem bac pro, dem Berufsabitur, abgeschlossen. Sein Problem: „Meine Eltern haben nie Arabisch mit mir gesprochen. Wenn ich jetzt in den Ferien nach Marokko komme, blicke ich nicht durch.“ Noch schlimmer ist es Issam ergangen. Der 21-Jährige ist bis zum vierzehnten Lebensjahr bei seiner Mutter in Marokko aufgewachsen, erst dann zog er zu seinem Vater, der seit 45 Jahren als Kranführer im Departement Isère arbeitet. „In einem Sommer, als ich wieder in dem Viertel war, wo ich aufgewachsen bin – ein sehr armes Stadtviertel von Fes –, bedrohte mich ein Typ mit einem Küchenmesser und wollte meine Tasche und mein T-Shirt haben. Ich gab ihm alles und sagte zu ihm: ‚Essrine, erkennst du mich nicht? Ich bin’s, Issam. Wir haben zehn Jahre zusammen Fußball gespielt, gleich hier um die Ecke.‘ Dann erkannte er mich, ließ das Messer und meine Sachen fallen und fing an zu heulen.“

Auf dem hinteren Deck, wo die Jugendlichen sitzen, trifft man die meisten Passagiere. Hier schenkt eine kleine Bar etwas zu bitteren Minztee und kaltes Bier aus (für drei Euro die Flasche). Die Sonne brennt. Aus den Lautsprechern dröhnt Musik. Natürlich reden wir auch über das Thema Freundschaften. Nadia meint: „Ich bin keine Rassistin, aber ehrlich gesagt mag ich die Araber lieber. Ich war auch mal mit einem Franzosen zusammen, aber das ist einfach nicht so toll. Die Franzosen verstehen dich nicht, sie wollen immer wissen, was die Heimlichtuerei soll.“

Leila ist sechzehn. Sie kommt aus Marseille. „In Marseille sind die Araber bescheuert. Und ich mag sowieso nur die ‚Emos‘ “ (Jugendliche mit langen Haaren und Piercings, Anm. d. Red.). Farid ist weniger entschieden. Doch neigt er eher zu Araberinnen: „Mit einer Französin geht das am Anfang gut, aber dann fängt sie an, mich zu nerven. Das ist mit einer Araberin nicht so. Und die Französin will dich schon nach einer Woche ihren Eltern vorstellen. Solche Probleme gibt es mit einer Araberin nicht.“ Salima: „Ich war drei Jahre mit einem Korsen zusammen. Ich habe Korsisch geredet, korsisch getrunken und gegessen … Aber kein Schweinefleisch! Ich esse halal.“

Niemand in der Gruppe isst Schweinefleisch – aber sie rauchen, und sie trinken Alkohol. Und sie fasten im Monat Ramadan. „Warum nicht?“, meint Nadia, „Das gehört zu meinem Glauben. Meine Eltern haben mich nie dazu gezwungen, aber wenn das alle im Viertel tun, macht man eben mit.“ Vom Alkohol darf natürlich niemand etwas erfahren. „Wenn das meine Eltern wüssten, sie würden mich sofort aus dem Stammbuch der Familie streichen!“ Während die Jugendlichen auf dem Deck plaudern, vertreiben sich die Eltern die Zeit in einem der beiden Salons.

Nadias Vater sitzt schon seit zwei Stunden vor seiner Tasse Kaffee und unterhält sich mit Misbah, der aus dem gleichen Dorf stammt, Khenifra, zwischen Meknes und Marrakesch. „Wir sind beide von einem Herrn Mora angeworben worden, einem Beauftragten von Charbonnages de France. So kamen wir in die Lorraine, direkt ins Bergwerk. Anfangs haben wir 1 500 Francs im Monat verdient, in Marokko gab es damals höchstens 1 000. Ich war mir ganz sicher, dass ich nach der Rente wieder in Marokko lebe. Jetzt ist es so weit, aber ich kann nicht zurück – meine Kinder gehen noch in Frankreich zur Schule.“ Und wenn sie aus dem Haus sind? Er lacht: „Ich werde bleiben, weil meine Kinder dort leben. Wenn ich in Marokko wäre, würde ich immer an sie denken.“

Die Ehefrauen sitzen am Nebentisch, beide in himmelblaue Dschellabas gekleidet, mit weißem Kopftuch. Nach dreißig Jahren in Frankreich beherrschen sie die Landessprache noch immer nicht gut. Gefällt es ihnen in Behren-les-Forbach? Schweigen. Die beiden Männer kneifen die Augen zusammen und lachen.

Es ist heiß an diesem Nachmittag. Inseln tauchen auf, plötzlich ganz nah – die Balearen. Hinten auf dem Unterdeck machen die Kellner ihre Zigarettenpausen. Mohammed, schwarzes Kraushaar und grüne Mandelaugen, arbeitet seit drei Jahren auf der „Marrakesch-Express“. Er hat zehntausende von Auslandsmarokkanern auf dieser Route kommen und gehen sehen. „Die MRE sind nirgendwo willkommen. In ihrem Gastland gelten sie als Einwanderer, und wenn sie in den Ferien nach Marokko kommen, behandelt man sie auch wie Einwanderer – Zmigri heißen sie hier.“ Ein Kollege ergänzt: „In den Ferien wollen sie mit ihrem tollen Auto Eindruck schinden, damit alle glauben, dass sie 5 000 Euro im Monat verdienen. Aber jeder in Marokko weiß, wie sie dafür schuften müssen.“ Da wirft Mohammed ein: „Die Franzosen haben Afrika ausgeplündert, und jetzt sagen sie zu den Immigranten, die ehrliche Arbeit leisten: Ihr habt bei uns nichts verloren. Aber was hatten denn die Franzosen in Afrika verloren?“

Die französische Polizei bucht immer zwei Kabinen

Mohammed ist am Strand von Mohammedia aufgewachsen. „Mein Vater ist streng gläubig, meine Schwester geht tief verschleiert – und ich habe zu Hause Alkohol getrunken. Ich musste einfach weg …“ Dennoch bekennt er sich zum Islam und kritisiert das negative Bild, das im Westen weit verbreitet ist: „Die Medien und vor allem die jüdische Lobby sorgen für dieses schlechte Image. Natürlich will ich nicht, dass Unschuldige im Namen des Islam getötet werden. Aber angeblich hatten in den beiden Türmen des World Trade Center mehrere tausend Juden ihren Arbeitsplatz – und wie durch Zufall waren sie alle am Tag der Anschläge nicht da …“3

Die französische Polizei hat zwei Männer an Bord gebracht, deren Identität nicht bekannt gegeben wird. Eine „Rückführung“ nennt das die Besatzung.4 „Das französische Innenministerium hat eine Vereinbarung mit der Comanav, dass immer eine Kabine für zwei Personen freigehalten wird“, erklärt Grégory, ein Angestellter des Reisebüros Euromer, das die meisten Tickets für diese Route verkauft. „Das dient zur Rückführung von Leuten, die an der Grenze aufgegriffen werden. Auf der ‚Marrakesch‘ gibt es dafür sogar zwei Kabinen – falls Frauen dabei sind.“ In welcher Kabine sind die beiden Männer untergebracht? Dem Sicherheitschef des Schiffes ist die Frage sichtlich unangenehm. „Das darf ich Ihnen nicht sagen. Aber sie befinden sich nicht in Gewahrsam, sie dürfen sich frei bewegen.“ Sie werden auch nicht von französischen Polizisten begleitet.

Gregory hat etwas andere Informationen: „Auf der ‚Marrakesch‘ müssen sie in der Kabine bleiben. Vor zwei Jahren ist nämlich einer dieser ‚Rückgeführten‘ drei Kilometer vor der Küste ins Meer gesprungen. Man hat ihn wieder aufgefischt, aber das Schiff musste die Maschinen stoppen. Deshalb gab’s eine große Verspätung.“ Und warum will der Sicherheitschef nicht darüber reden? „Denen ist es peinlich, dass sie an der Ausweisung von Landsleuten mitwirken“, meint der Euromer-Agent. „Der französische Staat bucht diese Kabinen pauschal zum vollen Preis.“

Als es Zeit zum Abendessen ist, gerät das Schiff plötzlich durch den starken Seegang ins Schwanken. Das Personal hat alle Hände voll zu tun. An die Passagiere werden kleine Papiertüten verteilt.

Am Donnerstag gegen Mitternacht ist der Medina-Saal brechend voll. Auf der kleinen Bühne steht ein Geiger, der versucht, gegen die Rückkopplung in der Verstärkeranlage, seine populären marokkanischen Lieder zu singen. Ein zweiter Musiker klimpert auf dem Synthesizer, der die ‚orientalische‘ Orchesterbegleitung ersetzen soll. Auch Naïmas Vater ist da. Er trägt eine prächtige Dschellaba, mit braunen und silbernen Verzierungen. „In Frankreich würde ich mich damit nicht auf die Straße trauen. Da halte ich mich an die Sitten des Landes. Aber hier auf dem Schiff, da ist man ja schon fast in Marokko.“

Selbst die Jungen sind gekommen, um die Musik der „Alten“ zu hören. Außerdem war in der Diskothek „Kasbah“ nichts los. Auf der kleinen Tanzfläche bewegt sich ein Betrunkener mit exaltierten Gesten; einige Frauen finden das amüsant und gesellen sich zu ihm. Die Zuschauer lächeln. Bevor er sich zurückzieht, will Nadias Vater mir noch etwas sagen: „Ich möchte, dass Sie das auch in Ihrer Zeitung schreiben: Als ich nach Frankreich gekommen bin, da gab es bei Simca und bei Citroën noch Dampfmaschinen, da spritzte überall das heiße Öl aus den Leitungen. Und wer hat das Ganze am Laufen gehalten? Nur die Ausländer! Und beim Bau der Brücken und der Autobahnen war es genauso. Zwanzig Jahre lang haben wir für Frankreich geschuftet. Heute ist alles modernisiert, und sie wollen nichts mehr von uns wissen und sagen, dass wir ihnen auf der Tasche liegen – das finde ich unerträglich.“

Freitag, der 6. Juli, 10 Uhr morgens marokkanischer Zeit. Die See war stürmisch, und so kommt Tanger erst nach 41 Stunden in Sicht. Seit der Passage durch die Meerenge von Gibraltar fährt das Schiff gegen heftigen Wind. Man kann die afrikanische Küste nur erahnen. Tanger bietet ein prachtvolles Bild. Ein gewaltiges Minarett überragt die Stadt, zur Rechten erstrecken sich die weißen Häuser der Kasbah und der Medina Stufe um Stufe bis hinunter zum Strand. Zur Linken sieht man unzählige Gebäude, die hier in den letzten zehn Jahren entstanden sind – ein Zeichen der sozialen Umwälzung. Im neuen riesigen Hafen, vierzig Kilometer vor der Stadt, sollen in weniger als einem Jahr die ersten Containerschiffe aus China einlaufen. Hier legt auch die „Marrakesch Express“ an. Zineb, Dozentin für Ökonomie in Toulouse, macht sich auf den Weg zum Fahrzeugdeck. Zuvor lässt sie noch einmal den Blick über die kahlen Hänge des Rif-Gebirges schweifen: „Es ist besser, mit dem Schiff anzukommen als mit dem Flugzeug. So hat man mehr Zeit, sich zu akklimatisieren. Und knüpft ganz sacht wieder an die eigene Herkunft an.“

Fußnoten:

1 Man schifft sich in Sète ein und nicht in Marseille, weil Sète eine perfekte Anbindung an die großen Autobahnen bietet. Von hier aus betreibt die marokkanische Reederei Comanav, die mit zwei Schiffen den Fährdienst nach Tanger betreibt. 2 Name geändert. 3 Dieses antisemitische Gerücht wurde direkt nach den Anschlägen von den Medien in verschiedenen arabischen Ländern verbreitet. 4 Im früheren Arsenal des Hafens von Sète befindet sich eines der zwanzig Auffanglager (CRA), die Frankreich an den Grenzen unterhält. 28 Zellenplätze gibt es; 2006 wurden 1 130 Personen hier vorübergehend festgehalten, 40 Prozent von ihnen Marokkaner (2005 waren es 801, 2004 nur 706).

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt

Pierre Daum ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 14.09.2007, von Pierre Daum