14.09.2007

Die Mechanik der Finanzkrise

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Die Mechanik der Finanzkrise

von Frédéric Lordon

Vor zweihundert Jahren beklagte Hegel die chronische Unfähigkeit der Staaten, Lehren aus historischen Erfahrungen zu ziehen. Aber die politischen Mächte sind nicht die Einzigen, die sich als lernunfähig erweisen. Im ökonomischen Zentrum der Gesellschaft scheint das Kapital selbst, insbesondere das Finanzkapital, fast unausweichlich zu denselben Irrtümern und Fehlentscheidungen verdammt zu sein – und damit zur ewigen Wiederkehr der Krise. Auch wenn die aktuelle Krise der Kreditmärkte neue Anlagefelder und Folgeprobleme betrifft, offenbart sie doch nur ein weiteres Mal die wichtigsten Ingredienzien des Desasters in chemisch reiner Form. Damit bietet sich allen, die es wissen wollen, erneut die Chance, über die „Segnungen“ der liberalisierten Kapitalmärkte nachzusinnen.

Allerdings lässt sich der starre Glaube an die instrumentelle „Vernunft“ der Finanzmärkte, der sich als das leibhaftige Realitätsprinzip ausgibt, nicht leichter Hand entlarven. Unterwirft dieses Prinzip nicht die Unternehmen einzig und allein der nüchternen Herrschaft der Fakten, den Kriterien des „Reporting“ (in den Quartalsberichten) und des „Track Record“ (im chronologischen Protokoll der Erfolgsdaten)? Heute, angesichts der deprimierenden Folgen der jüngsten Geschichte erweisen sich dieselben Prediger des „vernünftigen“ Finanzmarkts auf monströse Weise als blind und ahnungslos.

Vielleicht weil der „Track Record“ der finanziellen Liberalisierung nicht gerade umwerfend ist? Immerhin ist daran zu erinnern, dass die neue Finanzpolitik, seitdem sie grassiert, kaum mehr als drei Jahre in Folge ohne große Unfälle überstanden hat. Und von diesen verdienen es fast alle, in die Chronik der Wirtschaftsgeschichte einzugehen: 1987 der denkwürdige Börsenkrach; 1990 der Zusammenbruch der „Ramschanleihen“ („Junk Bonds“) und die Krise der US-amerikanischen Sparkassen („Savings and Loans“); 1994 der Verfall der US-Staatsobligationen; 1997 die erste Phase der internationalen Finanzkrise (die vor allem Thailand, Korea und Hongkong betraf), gefolgt von der zweiten Phase 1998 (die Russland und Brasilien erfasste); 2001 das Platzen der Internetblase und anschließend die Krise der New Economy, die sich noch bis 2003 hinzog.

Kettenreaktionen einer entfesselten Spekulation

Und nun, im Jahr 2007? Heute lesen wir devote Interpretationen wie: „Die Globalisierung der Wirtschaft ist ein glückbringender, aber anfälliger Prozess.“1 So Pierre-Antoine Delhommais in Le Monde, der angesichts der gewaltigen, selbstzerstörerischen, immer wiederkehrenden Erschütterungen die Widerstandsfähigkeit der Bestie nur noch mehr zu bewundern scheint, weil sie nach jeder Krise wieder auf die Beine kommt und noch prachtvoller dasteht als je zuvor.

Verwunderlich nur, dass der Journalist vergisst, was es für die Haushaltskassen der Beschäftigten bedeutet, wenn nach dem Finanzrausch die Schulden zu begleichen sind. Denn unweigerlich trifft der Crash der Märkte zunächst die Banken, also den Kreditmarkt, dann die Investitionen und das Wirtschaftswachstum und am Ende die Arbeitsplätze. Offenbar musste der Journalist Delhommais erst die brutale Übernahme seiner Zeitung durch einen Investmentfonds erleben und die Folgen des „Downsizing“, des „Abspeckens“, hautnah verspüren, ehe er sich gedrängt fühlte, die Praktiken auf den Finanzmärkten und vor allem die dadurch ausgelösten Krisen und ihre sozialen Folgen zu bilanzieren. Die Schläge der Globalisierung müssen einen erst schmerzhaft treffen, bevor man aufhört, sie als „glückbringend“ zu empfinden.

Die von den US-Kreditmärkten ausgehende Krise veranschaulicht idealtypisch die fatalen Kettenreaktionen der entfesselten Spekulation. Wie bei einer Parade führt sie uns erneut das toxische Arsenal des Finanzkapitals vor. Es sind immer wieder dieselben Erscheinungen, die stets in derselben Phasenabfolge auftreten: Erstens das „Ponzi-Gesetz“ der Spekulation; zweitens ein leichtfertiges Risikoverhalten auf dem Gipfel des Finanzzyklus; drittens die strukturelle Anfälligkeit gegenüber minimalen Veränderungen des ökonomischen Umfelds und der Katalysatoreffekt lokaler Zusammenbrüche, der den Wandel des Wirtschaftsklima beschleunigt; viertens die Neigung zur überstürzten Revision bisheriger Einschätzungen; fünftens die Ansteckungsgefahr, wenn Misstrauen und Zweifel weitere Marktsegmente erfassen; sechstens die Schockwirkung auf die Banken, die sich bei der Kreditvergabe am stärksten exponiert haben; siebtens die Gefahr einer Systemkrise, also eines Zusammenbruchs der globalen Finanzmärkte und einer nach den allfälligen Kreditrestriktionen sich ausbreitenden Rezession. Worauf in der Regel ein Hilferuf an die Adresse der Zentralbanken ergeht, und zwar ausgerechnet von den fanatischen Verfechtern der freien Privatinitiative.

Phase eins: das „Ponzi-Gesetz“ der Spekulation. Die innere Verkettung der Finanzmärkte hat niemand präziser dargestellt als Hyman Minsky, der seinen Befund in dem anschaulichen Begriff „Katastrophenblindheit“ zusammenfasst.2 Besondere Aufmerksamkeit schenkt Minsky dem betrügerischen Treiben von Charles Ponzi. Dieser Spekulant köderte in den 1920er-Jahren leichtgläubige Einfaltspinsel mit dem Versprechen ungeahnter Renditen. Ohne irgendeine reelle Kapitalbasis, mit der er die finanziellen Versprechungen hätte einlösen können, bediente Ponzi seine ersten Einleger mit den geliehenen Geldern derer, die er als nächste anlockte. Das ganze System beruhte also schlicht darauf, dass der Strom der Neuankömmlinge auf keinen Fall abreißen durfte. Sieht man von der betrügerischen Seite dieses Treibens ab, funktionieren alle Finanzblasen nach einem vergleichbaren Mechanismus. Sie sind auf einen gleichbleibenden Zufluss an Liquidität angewiesen, an Investitionen in den Markt, um die Hausse – samt der Illusion, dass alle von ihr profitieren – am Laufen zu halten. Es müssen also möglichst viele Menschen in die Spekulation verwickelt werden. Und natürlich kommen nach der ersten Welle der Eingeweihten immer mehr „normale“, mit wenig Sachverstand ausgestattete Teilnehmer hinzu, die am Ende das Gros der Spekulationsbataillone stellen.

Nach diesem Modell funktionierte auch der US-Immobilienmarkt. Um sein Wachstum zu verstetigen, mussten immer mehr Menschen und Familien auf den Markt der Hypothekenanleihen gedrängt werden. Am Anfang der Welle war es nicht allzu schwer, die Menschen, die den „amerikanische Traum“ vom eigenen Grund und Boden hegen, vom Nutzen dieser Form des Schuldenmachens zu überzeugen. Der Anreiz war besonders wirksam, weil zuvor viele US-Bürger auf die Internetblase hereingefallen und ein Finanzdebakel erlebt hatten und nun nach anderen Investitionsmöglichkeiten suchten.

Nachdem das Kontingent an „gesunden“ Kreditnehmern relativ rasch ausgeschöpft war, musste der wachsende Markt unter allen Umständen weiter gestützt werden. Deshalb suchten die Händler mit Immobilienkrediten ihren Kundenkreis zu erweitern: Ökonomisch „kranke“ Kreditnehmer? Plattfüße? Asthmatiker? Kein Problem: Sie wurden einfach für tauglich befunden. Die Käufer strömten in Scharen auf den Markt, die Preise gingen ständig in die Höhe.

Und wenn sich Zweifel am finanzwirtschaftlichen Perpetuum mobile regten, wurden diese von Hauskäufern wie von Maklern mit der Überlegung zerstreut: Selbst wenn ein Kunde die Zinsen und die Raten nicht bedienen kann, lässt sich das Haus mit Gewinn für die eine und Provision für die andere Seite verkaufen. Und da im Glauben an unbegrenztes Wachstum des Marktes jeder potenzielle Kunde als tauglich galt, wurden die Kredithähne bis zum Anschlag aufgedreht.

Die spekulative, sich selbst ernährende Hausse scheint allen recht zu geben. Damit ist ein Wort geboren, das Haltbarkeit und Zukunft verspricht: die Kategorie der „Subprime Mortgages“. Tatsächlich handelt es sich um Immobilienwerte, deren tatsächliche Eigentümer – mit oft überaus fragwürdiger Kreditwürdigkeit – den kreditgebenden Banken unbekannt sind. Doch auf dem Höhepunkt der Euphorie werden alle Grenzen überschritten. Was gibt es Tolleres als Kredite der Kategorie „Ninja“? Die Abkürzung steht für „No income, no job or asset“. Zu Deutsch: „Kein Einkommen, kein Job, kein Vermögen“, also keinerlei Kreditabsicherung. Dafür wird beim Abschluss eines solchen Vertrags der Champagner entkorkt.

Phase zwei: leichtfertiges Risikoverhalten. Die Finanzwelt lässt sich nicht so leicht erschüttern, schließlich hält sich jeder für einen Champion des Risikomanagements. Tatsächlich ist, was neue Instrumente betrifft, der Einfallsreichtum fast unbegrenzt. Eines der Geheimrezepte heißt „derivative Produkte“. Ein solches Produkt profitiert davon, dass ein Kredit, und zumal ein mit Risiken behafteter, bis zum – guten oder schlechten – Abschluss in den Büchern des Kreditgebers verbleibt. In den frühen 1990er-Jahren entdeckte man die tolle Möglichkeit, eine gewisse Anzahl von Krediten zu marktfähigen Schuldverschreibungen zu bündeln. Der gewaltige Vorteil dieses zutreffend als „Schuldtitel-Strategie“ (oder „Schuldtitel-Trick“) bezeichneten Geschäfts besteht darin, dass am Finanzmarkt solche neu gebackenen Wertpapiertitel in kleinen Paketen an finanzkräftige und kaufwillige institutionelle Investoren abgegeben werden können. Damit verschwinden die problematischen Kredite aus der Bilanz der ursprünglich verleihenden Banken. Letztere vergeben deshalb Kredite umso unbedenklicher, je mehr von ihnen sie dank der „Schuldtitel-Strategie“ abstoßen können.

Aber warum sind die neuen Finanzinvestoren bereit, das zu kaufen, was die Banken doch nur loswerden wollen? Zum einen, weil sie damit Wertpapiere in kleineren Einheiten übernehmen, vor allem aber, weil diese Titel marktfähig sind, also wiederum an Dritte veräußert werden können. Ein weiterer Grund ist der, dass die neue Art von „Derivaten“ (die vom ursprünglichen Typ des Kredits „abgeleitet“ ist) sich in einzelne Teilbeträge mit entsprechend verteilten Risiken aufgliedern lässt. Jeder institutionelle Investor pickt sich die für sein Profil und seine Risikobereitschaft geeignete Tranche heraus – in dem Wissen, dass sich immer jemand findet, der seinerseits die riskanteste und damit einträglichste Tranche übernimmt. Vor allem die Hedgefonds gehen derartige Risiken ein. Das Ganze geht gut, solange alles gut geht.

Das Risiko versickert in dunklen Kanälen

Klar ist dabei, dass alle mit den ursprünglichen Krediten verbundenen Verwertungsrechte an den Finanzströmen, aber auch die entsprechenden Ausfallrisiken auf die Inhaber dieser RMBS („Residential Mortgage Backed Securities“: an Immobilienkredite gebundene Wertpapiere) übergehen. Da jedoch die Zahl dieser Inhaber so groß und schwankend ist, läuft das Ganze auf eine ungeheure Streuung des Globalrisikos hinaus. Während die kreditgewährende Bank früher ihre Ausfälle allein bewältigen musste, ist sie nunmehr von diesem Risiko völlig befreit. Und die Kosten der Ausfälle verteilen sich auf unzählige Investoren, wobei jeder Investor nur einen kleinen Teil zu tragen hat, der für sein Gesamtportfolio nur ein verschwindendes Risiko zu sein scheint.

Warum sich also Sorgen machen, wo die Finanzwelt mit dem „Schuldtitel-Trick“ offenbar die Quadratur des Kreises gefunden hat und derselbe Trick auch noch auf der nächsten Ebene funktioniert, bei den RMBS? Was Letztere betrifft, so benötigen die riskantesten Tranchen allerdings eine Spezialbehandlung, damit sie leichter abzustoßen sind. Als Besitzer von RMBS-Titeln emittieren manche Investoren einen neuen Typus handelbarer Wertpapiere, die sogenannten CDO (Collateralised Debt Obligations oder „gebündelte“ Schuldtitel). Konzipiert als „Schuldscheine auf Schuldscheine“, erlauben diese CDOs eine weitere Aufsplitterung des RMBS-Portfolios in unterschiedlich riskante Tranchen. Die oberste, „Investment grade“ genannte Tranche sichert ihren Inhabern bei Zahlungsunfähigkeit der Schuldner die ersten 20 bis 30 Prozent der Konkursmasse aus den beliehenen Immobilien. Darunter liegen eine mittlere („Mezzanine“) und eine untere Tranche. Die Besitzer dieser risikoreichsten Papiere trifft bei Zahlungsunfähigkeit der Schuldner der Schock der Pleite mit voller Wucht.

Eine beschönigende Bezeichnung für diese untere Tranche lautet „Equity“ (Vermögenstitel), aber die Sprache des Marktes drückt es ehrlicher aus: „Toxic Waste“ also „Giftmüll“. Das ist durchaus zutreffend, denn bei diesem Derivat ist das Risiko gleichsam ins Quadrat erhoben. Solange jedoch die Preise am Immobilienmarkt steigen und der Strom der Rückzahlungen nicht unterbrochen ist, findet sich immer ein Abnehmer, und solange das Ausmaß der „Vergiftung“ noch nicht konkret zutage tritt, zählt nur die enorme Verzinsung.

Die genannten Hedgefonds, die neue Mittel zu vergleichsweise niedrigen Zinssätzen aufnehmen können, investieren bewusst in mit hohem Risiko behaftete Wertpapiere. Diese können, so das zugrundeliegende Kalkül, nach Belieben verkauft werden und entsprechend hohe Gewinne einspielen – solange der Markt nur liquide ist. Der „Giftmüll“ wird als Gold gehandelt. Die fantastischen Gewinnaussichten kaschieren die objektiven Risiken, die niemand sehen will. Und um die Melkkuh so lange wie möglich am Leben zu erhalten, beschaffen die Immobilienmakler massenhaft neues Futter, also noch mehr Schuldner.

Phase drei: von der strukturellen Verwundbarkeit zu Pleite und Panik. Die Risikostreuung, die durch den Schuldtitel-Trick garantiert scheint, erzeugt letztendlich den Glauben, dass es gar keine Risiken mehr gibt. Das ist eine Illusion. Und dies umso mehr, als der süße Rausch die Akteure zu immer waghalsigeren Verhaltensweisen verleitet. Der Verkäufer von Immobilienkrediten redet sich ein: Wenn ich sogar meine lausigsten Kredite abstoßen kann, gehe ich richtig zur Sache und verleihe noch mehr. Am anderen Ende der Schuldenkette sagt sich der Betreiber des Hedgefonds: Warum soll ich, solange der Derivatemarkt liquide ist, nicht auch noch die miesesten Schuldverschreibungen (CDO) übernehmen, wo sie doch die profitabelsten sind? Natürlich sind in diesem System die Risiken „irgendwie“ verteilt, aber die schiere Menge des „Streuguts“ hat zu einem völlig unkontrollierten weltweiten Wachstum geführt. Damit treibt die Entwicklung der Finanzmärkte, für niemanden voll überschaubar, in eine kritische Zone.

Die strukturelle Fragilität des skizzierten Spekulationsgeflechts erreicht nun einen Punkt, an dem es auf eher belanglose Veränderungen im ökonomischen Umfeld reagiert. Ein Beispiel: Die schrittweise Anhebung der Zinssätze durch die amerikanische Zentralbank um jeweils 0,25 Prozent erscheint für sich genommen zunächst harmlos. Aber am anderen Ende der Risikokurve steigen die Sollzinsen für den Immobilienkredit, den Mrs. Brimmages 2005 aufgenommen hat, von 6,3 auf 11,25 Prozent und ihre monatlichen Kreditraten von 414 auf 691 Dollar. Das Ergebnis ist Zahlungsunfähigkeit.3 Auf dieselbe Weise wurden im ersten Quartal 2007 14 Prozent der Subprime-Kreditnehmer in die Insolvenz getrieben.

Ein missglücktes Abenteuer verunsichert den ganzen Markt

Die schrittweisen Zinsanhebungen der Zentralbank sind eigentlich als bescheidene Anpassungsmaßnahme entworfen, tatsächlich aber haben sie einen doppelten Schereneffekt. Zum einen vermindern sie die Zahl der Neuverträge auf dem Immobilienmarkt, was die Preise fallen lässt; zum anderen sind die verschuldeten Hausbesitzer außerstande, ihre monatlichen Abzahlungsraten zu bedienen, womit der Erfolg ihres Eigenheimerwerbs insgesamt gefährdet ist. Tatsächlich bedeutet der Verkauf ihrer Immobilie in der Regel einen Wertverlust nicht nur für sie selbst, sondern auch für alle anderen, denn durch die Baisse wird der drohende Preisverfall noch beschleunigt.

Wie immer bei Finanzkrisen muss ein auf Spezialitäten fixierter „Investor“ als Erster die Suppe auslöffeln. Doch sein Zusammenbruch wirkt als Signal zur großen Wende. Im aktuellen Fall haben zwei finanzielle Zusammenbrüche – jeweils an den Enden der Kette – die Märkte aufgeschreckt. Zum einen war die Investmentbank Bear Stearns gezwungen, zwei ihrer wohl allzu „dynamischen“, mit CDO „gedopten“ Fonds zu schließen. Zum anderen musste der Immobilienfinanzierer American Home Mortgage (AHM) einen Antrag auf Gläubigerschutz stellen.4 Das missglückte Abenteuer des Immobilienfinanziers verunsichert die Märkte stärker als das der Investmentbank, denn AHM ist im Bereich Subprime nicht sonderlich engagiert. Das provoziert die Frage: Wie steht es dann erst um andere Unternehmen?

Phase vier: überstürzte Revision der Risikobewertung. In dieser Phase kommt es zu einer leichten Panik. Die „Toxic Wastes“ riechen schon recht unangenehm und nähren den Verdacht, dass auch die mit Bestnoten (AA oder gar AAA) bewerteten „Investment grade“-Tranchen der CDO frisiert sein könnten. Doch wie konnte es zu solch einer gigantischen Fehlbewertung der finanziellen Risiken kommen?

Natürlich hat das zunächst mit der prinzipiellen Schwierigkeit einer objektiven Bewertung von Derivaten zu tun. So haben die Bewertungsagenturen hunderte von CDO- und RMBS-Tranchen zu prüfen und einzuschätzen. Doch diese Agenturen sind nicht mit fleißigen Arbeitnehmern gleichzusetzen, die unter der Last ihrer Aufgaben stöhnen. Ihren Hauptumsatz erzielen sie mit den Geldinstituten, die ihre zur Bewertung vorgelegten Titel in dem dargestellten Treibhausklima emittiert haben. Die Agentur Moody’s etwa erzielte ihren Jahresumsatz von 2006 zu 40 Prozent mit der Bewertung „strukturierter Produkte“. Und bevor die jeweils neuen bewertet werden, ist es für beide Seiten zweifellos günstig, wenn die zuvor auf den Markt gebrachten Finanzprodukte für „gesund“ erklärt wurden.

Eine weitere Überlegung macht klar, warum die Bewertungsagenturen es nie verstanden haben, sich von der Euphorie des Marktes, die sie eigentlich dämpfen sollten, wirklich freizumachen, und dass sie im Gegenteil diese Stimmung geflissentlich gefördert haben. Wenn man der Finanzwelt so nahesteht und sich dazu noch aus ihren Taschen bedient, kann man schwerlich „Vorsicht!“ rufen, während alle anderen noch fett verdienen.

Das Ergebnis ist bekannt: Die Bewertungsagenturen verhalten sich auf katastrophale Weise prozyklisch, wenn sie antizyklisch sein sollten; sie lassen der Hausse freien Lauf – und revidieren, sobald der Umschwung einsetzt überstürzt ihre ursprüngliche Einschätzung, was die Krise wiederum verschärft.

Vermutlich stehen wir erst am Beginn der Krise. Die künftigen Rückzahlungsausfälle auf dem Hypothekenmarkt laufen geräuschlos im Vorzimmer der sogenannten „Teasing Rates“ auf.5 Das heißt, dass die Haushalte, die 2005 und 2006 in eine Hypothekenklemme gerieten, erst 2007 und 2008 zahlungsunfähig werden – mit gravierenden Folgen für die betreffenden Kreditinstitute.

Da die Globalisierung die Finanzmärkte und mit ihnen die finanzielle Einfalt erfasst, bleiben die Folgen der Krise nicht auf die USA beschränkt. Gewiss hat sich vor allem der US-Hypothekenmarkt ins Delirium gesteigert, aber die daraus „abgeleiteten“ Instrumente in Form gebündelter Schuldtitel waren weltweit für alle spekulativen Fonds ein reizvolles Angebot. Selbst die lange als langweilig und altmodisch geltenden, an ihren tristen Privatkundenbanken hängenden Deutschen entschieden sich zur Jahrtausendwende, auf die „aktiven Märkte“ zu setzen. Mit dem Ergebnis, dass 2007 eine Bank wie die IKB am Rande des Abgrunds taumelt, weil sie sich viel zu stark dem Subprime-Risiko ausgesetzt hat.

Phase fünf: die Ausbreitung der Verdachtsmomente. Mit den ersten Anzeichen der Krise beschleunigten und durchkreuzten sich auf den globalen Finanzmärkten die Aktionen und Reaktionen. Das empfindliche Gleichgewicht der Derivate hielt nur, solange es von niemandem auf die Probe gestellt wurde, das heißt, so lange alle vorgaben, an die Liquidität des Derivatemarkts zu glauben. Sobald indes einer der beteiligten Makler unter Druck gerät und versucht, sich durch Verkauf seiner CDO etwas Luft zu verschaffen, entsteht eine latente Angst – und alle Käufer suchen das Weite. Hat sich die Liquidität erst einmal verflüchtigt, gibt es praktisch keine formal marktfähigen Aktiva mehr.

Von hoher Komik, aber auch zum Weinen ist die Mitteilung der französischen Bankgruppe BNP Paribas, die am 9. August für drei ihrer (natürlich „urdynamischen“) Fonds die Rückzahlungen stoppte: „Das Verschwinden der Schuldverbriefungen in einigen Marktsegmenten der Vereinigten Staaten legt die Preisbildungsmechanismen lahm und führt zu einem quasi totalen Wertverfall der Fondsaktiva, unabhängig von deren Qualität oder Rating.“6 Diese Situation hatte freilich BNP-Chef Baudoin Prot eine Woche vorher nicht gehindert, kategorisch zu bestätigen, dass die Liquidität der drei Fonds gesichert sei. Das macht deutlich, dass die allgemeine Nervosität auch Tranchen infiziert, die als absolut sicher gelten.

Die Ansteckung macht also nicht auf halbem Wege Halt. Sie erfasst nicht nur alle Risikoklassen im Bereich der RMBS und Derivate, sondern greift auch auf Marktsegmente über, die mit diesen eigentlich nichts zu tun haben (sieht man davon ab, dass sie sich auf die Kreditorgie eingelassen haben). Das gilt insbesondere für den Sektor Private Equity, dem neuerdings prominentesten Sektor der Finanzinvestitionen. Diese Fonds verfolgen die Strategie, als lukrativ eingeschätzte Unternehmen vollständig aufzukaufen, sie von der Börse zu nehmen, einer brutalen Umstrukturierung zu unterziehen und nach wenigen Jahren mit hohem Profit wieder abzustoßen.

Diese Fonds verfügen über nur wenig Eigenkapital. Bei einem Firmenkauf verschulden sie sich massiv und bestreiten die finanziellen Verpflichtungen aus dem übernommenen Unternehmen. Die dank dieser Strategie erzielten Gewinne schossen so exorbitant in die Höhe, dass die Banken sich um die Finanzierung solcher Transaktionen buchstäblich schlugen. In euphorischer Erwartung permanenter Gewinne boten die Banken den neuen Private-Equity-Fonds skandalös bequeme Kreditbedingungen.

Da gibt es zum Beispiel eine Finanzierungstechnik, die man „Covenant Lite“ nennt: Hier fehlen alle Klauseln, die normalerweise die finanziellen Risiken abdeckend, wie sie jeder normale Darlehensnehmer unterschreiben muss. Frei nach dem Motto: „Macht was ihr wollt, wir sind dabei.“ Ein Knüller sind auch die Kredite mit der Bezeichnung PIK (Payment In Kind) oder auch IOU (I Owe You). Hier werden die Zinsen und die Schuldensumme nicht in bar getilgt, sondern in Form von zusätzlich aufgenommenen Krediten. Die auf diese Weise in Private-Equity-Fonds geleiteten, tatsächlich aber ausstehenden Kreditzahlungen haben ein immenses Volumen erreicht.

Transaktionen dieser Art sind allerdings außerordentlich anfällig, wenn der Moment des „Abstoßens“ kommt. Dabei geht es um den Wiederverkauf notorisch illiquider Aktiva, und zwar nicht in Form einzelner Aktienpakete, sondern ganzer Unternehmen. Wenn dieses Manöver erstmals missglückt – weil ein Wiederverkauf unmöglich oder nur verzögert oder mit Verlust möglich ist – wird der gesamte Private-Equity-Sektor eine böse Überraschung erleben.

Derzeit sind bereits eingeleitete Fondsübernahmen nur noch mit Mühe abzuschließen. Die Banken, die lange Jahre prinzipienlose Komplizen waren, halten sich plötzlich stark zurück. Darin zeigt sich ein für Finanzkrisen typischer „Amalgameffekt“. Nachdem in einem Sektor plötzlich Risiken aufgetaucht sind, denken die Akteure auch in anderen Sektoren über möglichen Folgewirkungen nach. So wie 1994 die mexikanische Verschuldungskrise pauschal die „Schwellenmärkte“ in Verruf brachte und Zweifel über das ziemlich entfernt liegende Thailand aufkommen ließ, so hat die heutige Immobilienkrise Rückwirkungen für die Bewertung von Private Equity. Das eine hat mit dem anderen unmittelbar nichts zu tun – bis auf den Umstand, dass es in beiden Bereichen mehr oder weniger vergleichbare Exzesse gegeben hat.

Phase sechs: der Bankenschock. Wenngleich es den Banken insgesamt gelungen ist, ihre Immobilienkreditportfolios durch die „Schuldtitel-Strategie“ abzustoßen, erleiden die Banken derzeit Rückschläge an vielen Fronten. Zunächst ließen sie zu, dass die von ihnen verwalteten Fonds mit Derivaten aufgefüllt wurden, womit das Hypothekenrisiko, das man vor die Tür gesetzt hatte, durchs Fenster wieder hereinkam. Hinzu kommt die Gefahr wechselseitiger Ansteckung, die insbesondere vom privaten Beteiligungskapital (Private Equity) ausgeht, dessen Krise sie direkt betrifft.

Am Ende wird Vater Staat als Geisel genommen

In dieser Situation kennt die Bankenaufsicht keinen Spaß: Die Institute sind gehalten, bei der Dokumentation ihrer Zahlen, sprich ihrer Solvenz, die Angaben über ihr Eigenkapital strikt von denen über ihre anderen Engagements zu unterscheiden. Wenn negative Wertkorrekturen (auch latente) ans Licht kommen – und sie könnten in beträchtlicher Höhe erfolgen, weil die Rating-Agenturen aufgewacht sind und ihre Bewertungen nach unten korrigieren –, sind die Banken zu entsprechenden Rückstellungen verpflichtet. Zur Verteidigung ihrer Bonitätsrate müssen sie dann die bewilligten Kreditsummen in Relation zum Eigenkapital (abzüglich Rückstellungen) verringern.

Letztendlich sind es, wie immer, die von der spekulativen Gier besonders weit entfernten „realen“ Akteure, denen die Kredithähne zugedreht werden, weil die Banken in allen Bereichen weniger Geld ausleihen, um ihre Bilanzen aufzubessern. Das trifft auch die Unternehmen der Realwirtschaft und ihre Beschäftigten, die dann kaum begreifen, womit sie das verdient haben.

Phase sieben: Hilferuf an die Zentralbanken. Nachdem unsere Finanzhelden sich auf dem Höhepunkt des Booms zur Speerspitze des Fortschritts ernannt und entsprechend arrogant aufgeführt haben, sehen sie in der Krise ziemlich alt aus. Jetzt werfen sie sich weinend an die Brust von „Vater Staat“, die sie noch bekotzt haben, solange sie glaubten, angesichts ihrer Finanzmacht alle Grenzen missachten zu können. Nun soll die Zentralbank sie vor der Pleite bewahren, indem sie die Leitzinsen senkt und für neue Liquidität in den Märkten sorgt. Die Zentralbank ist zwar nicht dem Staat gleichzusetzen. Aber sie ist eine öffentliche, vom Markt unabhängige Instanz, die man verachtet, solange die Profite fließen, aber um Hilfe anfleht, sobald der Wind sich dreht.

Die Szene ist surreal und real zugleich: Jim Cramer, der beim Börsenkanal CNBC – untermalt von Hardrock und mit Buzzer und Börseneinblendungen – in Hemdsärmeln eine populäre Sendung mit Finanztipps betreibt, ist dem Nervenzusammenbruch nahe und brüllt auf US-Notenbankchef Ben Bernanke ein: „Cut! Cut!“7 Als Bernanke den Eindruck erweckt, dass er es mit der Senkung der Leitzinsen nicht allzu eilig hat, schleudert Cramer ihm die schlimmste aller Beleidigungen entgegen: Er habe nichts kapiert, er sei ja nur ein „Akademiker“.8

Auch die anderen befragten Experten, die besser gekleideten und nicht so vulgär herumschreienden Fondsverwalter, sind mit Cramers Urteil absolut einverstanden. Und wie sie jetzt alle Alan Greenspan nachweinen, der stets ohne jedes Zögern die Zinsen „gekappt“ hat. Der war noch ein echter Praktiker, unbelastet von überflüssigen Studien, der musste nur den Hintern der Bestie befühlen und wusste sofort, wann die Geldpolitik Gas geben musste!

Weniger Uneinsichtige gestehen sich mittlerweile allerdings ein, dass Greenspans langjährige laxe Geldpolitik zu den Exzessen der Finanzjongleure und zum Aufpumpen der Blase beigetragen hat, die jetzt am Platzen ist. Ben Bernanke scheint derzeit noch davon auszugehen, dass die tollkühnsten Makler die Folgen ihres Leichtsinns zu tragen haben, und verordnet eher dosierte Liquiditätshilfen. Doch sollte man sich davon nicht täuschen lassen.

Dieser Standpunkt des Zentralbankchefs ist nur haltbar, solange die Ausfälle begrenzt bleiben. Sollten sie sich ausweiten und eine „Systemkrise“ heraufbeschwören – oder einen Dominoeffekt auslösen, der zu einem allgemeinen Crash der Finanzmärkte führt –, dann wird eine massive Intervention des Staates unvermeidlich.

Dies ist übrigens bei allen üblen Machenschaften der Finanzwelt derjenige Aspekt, der weitaus am unerträglichsten ist. Durch die Strukturen des herrschenden System ermutigt, überschreiten die maßgeblichen Akteure immer wieder die Schwelle zur Krise. Dann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem die Aufsichtsbehörden nicht mehr länger wegsehen können. Der Staat als „letzter Gläubiger“ ist gezwungen, für die Hasardeure das Eisen, sprich den verlorenen Einsatz, aus dem Feuer zu holen. Die perfekte Geiselnahme.

Fußnoten:

1 Pierre-Antoine Delhommais, Le Monde, 9. August 2007. 2 Hyman P. Minsky, „Stabilizing an Unstable Economy“, Yale (University Press) 1986. 3 „Mortgage Maze May Increase Forclosures“, The New York Times, 6. August 2007. 4 Diese Verfügung schützt die Unternehmen vor allzu ungeduldigen Gläubigern (Zahlungsaufschub für Sozialschulden). Sie entbindet den Arbeitgeber von seinen Verpflichtungen und verschafft ihm die Möglichkeit, Lohnvereinbarungen neu zu verhandeln. 5 Es handelt sich um (für deren Händler) attraktive Umschuldungspakete, wobei die Makler ihre Kunden nach der Regel „2 + 28“ ködern: zwei Jahre zu einem bescheidenen Zinssatz, danach 28 Jahre zum vollen Satz, der richtig schmerzt. 6 Mitteilung BNPParibas, 9. August 2007, Hervorhebung durch den Autor. 7 CNBC, 3. August 2007, siehe: www.youtube.com/watch?v=GKZgfrsItmw. 8 Ben Bernanke war lange Zeit Professor für Wirtschaftswissenschaften.

Aus dem Französischen von Dietmar Trempenau

Frédéric Lordon ist Autor von „Et la vertu sauvera le monde? Après la débâcle financière, le salut par l’éthique“, Paris (Raisons d’agir) 2003.

Le Monde diplomatique vom 14.09.2007, von Frédéric Lordon