11.11.2011

Der Mensch im Kapitalismus

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Der Mensch im Kapitalismus

von Lucien Sève

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Der Planet Erde, unser natürlicher Lebensraum, befindet sich in einem alarmierenden Zustand. Das ist uns bewusst, und inzwischen hat längst jede politische Organisation die ökologische Frage in ihren Diskurs aufgenommen. Der Planet Mensch, unsere menschliche Gattung, befindet sich in einem ebenso alarmierenden Zustand. Aber das ist uns nicht in dem Ausmaß bewusst, wie es angebracht wäre, und es gibt keine einzige politische Organisation, die die anthropologische Frage mit der gleichen Dringlichkeit anspricht wie die ökologische. Warum?

Auf die ökologische Frage wissen auch eher unpolitische Bürger zu antworten: dass die durch Treibhausgase ausgelöste Klimaerwärmung zu immer mehr Katastrophen führt, dass Boden-, Luft- und Wasserverschmutzung vielerorts die Grenze des Erträglichen überschreiten, dass unsere Produktions- und Lebensweise angesichts der zur Neige gehenden Ressourcen zum Untergang verdammt ist, dass die Atomenergie unabsehbare Risiken birgt. Manch einer wird vielleicht auf das Artensterben hinweisen und zu dem Schluss kommen, dass der ökologische Raubbau seitens der reichen Länder unbedingt gestoppt werden muss.

Woran liegt es, dass dies auch unpolitischen Bürgern bewusst ist? An den Medien, die regelmäßig über Umweltprobleme berichten. An eigenen Erfahrungen, die diese Berichte immer wieder bestätigen, vom Wetter bis hin zu den Benzinpreisen. An Wissenschaft und Politik, die dieses partielle Wissen in globale Visionen und politische Programme umsetzen.

Wenn wir denselben Bürgern nun die anthropologische Frage stellen, werden sie vermutlich nur Bahnhof verstehen. Wir können auch deutlicher werden: Glauben Sie, dass es der Menschheit genauso schlecht geht wie unserem Planeten? Dass die menschliche Gattung in ihrer zivilisierten Erscheinungsform bedroht ist? So sehr, dass die Rettung der Menschheit (im emphatischen Sinn des Wortes) ebenso dringend geboten ist wie die Rettung der Natur?

Viele werden sich verwundert die Augen reiben und die Frage irgendwie übertrieben finden. Natürlich berührt sie alle möglichen vorhandenen Sorgen und Ängste – bezüglich der Beständigkeit der Lebensverhältnisse, der um sich greifenden Ellenbogenmentalität, des Niedergangs der öffentlichen Moral. Aber dass deshalb die Menschheit in einer ähnlichen Gefahr schwebt wie unser Planet, scheint doch etwas abwegig.

Wir fragen weiter: Sind wir nicht in vielerlei Hinsicht auf dem Weg zu einer Welt, die für uns kaum noch bewohnbar ist? Wird nicht die alte Maxime „Der Mensch ist des Menschen Wolf“ zum Gesetz auf allzu vielen Gebieten, mit womöglich verheerenden Folgen?

Überdeutlich wird das am Beispiel der Arbeit: Hochwertige Arbeit abzuliefern, die auch noch Befriedigung verschafft, wird immer schwieriger; die Lohnabhängigen stehen einerseits unter dem Druck, Verantwortung zu übernehmen, während gleichzeitig Verantwortlichkeit verhindert wird; auch unter Kollegen herrscht Konkurrenzzwang; gewerkschaftliche Organisation wird gezielt unterbunden; es kommt vor allem auf die Fähigkeit an, „sich gut zu verkaufen“; Angst wird zur Methode der Unternehmensführung – all das führt im Extremfall zu den in Frankreich inzwischen immer häufigeren Selbstmorden am Arbeitsplatz. Hier regiert das Diktat der zweistelligen Renditen, die pausenlose Belohnung der Gier von Aktionären, die Inflation der Skrupellosigkeit bis hin zu kriminellem Verhalten von Arbeitgebern – kurz: der neoliberale Wahn, das bösartige Endstadium des Kapitalismus.

Das ist doch alles nichts Neues, wird man sagen, seltsam ist nur die Bezeichnung „anthropologische Frage“. Schließlich werde doch jede beunruhigende soziale Entwicklung von derlei Warnungen, Untersuchungen und Initiativen begleitet. Und wir werden doch von guten Filmen darauf aufmerksam gemacht, von Psychologen darüber aufgeklärt und von allen Seiten dazu aufgefordert, enthumanisierende Führungsmethoden abzulehnen. Das Bewusstsein von den verheerenden Auswirkungen des alles beherrschenden globalisierten Systems entwickelt sich doch weltweit.

Die Linken rufen zur Überwindung des Kapitalismus auf, damit die menschliche Emanzipation weiter vorankommt. Die Grünen verbinden die ökologische Frage mit gesellschaftlichen Zielen im Geiste von Demokratie und Solidarität. Wirtschaftswissenschaftler entwickeln neue Indikatoren, um bei der Beurteilung der Wirtschaftsleistung nicht länger nur auf das veraltete Bruttoinlandsprodukt zu schielen, sondern auch die Kehrseite des Produktivismus einzubeziehen. Überall regen sich soziale Bewegungen. Wird nicht die anthropologische Frage, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen will, längst wahrgenommen und umfassend gestellt?

Nein, wird sie nicht, noch lange nicht. Wer das glaubt, täuscht sich gewaltig. Es verhält sich hier wie mit der Ökologie: Diese zivilisatorischen Fragen betreffen zwar die Politik, gehen aber über sie hinaus, weil es sich dabei um ethische Fragen handelt. Darüber nachzudenken, wohin die menschliche Gattung unterwegs ist, bedeutet noch nicht, den alten Gegensatz von links und rechts abzutun; er muss aber auf die Richtung unserer künftigen Zivilisation bezogen werden. Dazu sind die abgenutzten und wertlos gewordenen Worte „die Rechte“ und „die Linke“ nicht mehr imstande.

Was für eine Menschheit wollen wir sein? Das ist die große anthropologische Frage. Weil zum Beispiel bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen, sofern sie nicht zerstörerisch sein soll, das übergeordnete Interesse für die produzierenden Personen nicht aus dem Blick geraten darf, kommen wir gar nicht umhin, das Anthropologische mitzudenken. Wie das Ökologische muss auch das Anthropologische ein wirkliches Wissen sein, als Grundlage für die Anleitung zum richtigen Handeln.

Es fängt schon mit diesem mystifizierenden Begriff an: „der Mensch“. Ein einziges Wort zur Bezeichnung von ganz unterschiedlichen Realitäten: Da ist die biologische Spezies Homo sapiens; die Menschheit, die sich historisch entwickelt hat; die menschliche Gemeinschaft; das menschliche Individuum. Das alles ist, ganz pauschal, „der Mensch“. Würde sich irgendein anderes Wissensgebiet mit einer derart primitiven Begrifflichkeit zufriedengeben? Doch dieses verbale Durcheinander wird durch einen nahezu universellen Gebrauch legitimiert, von Nietzsche bis Heidegger. Der einzige moderne Denker, der diese schlechte Abstraktion radikal infrage stellte, war – was für ein Zufall – Karl Marx.

Die Vermarktung alles Menschlichen ist eine Fehlentwicklung der Zivilisation

Die anthropologische Frage, obwohl ebenso dringlich wie die ökologische, wird viel zu selten gestellt, zu wenig bedacht, oft nicht einmal benannt. Wer den Ernst der Lage beschreiben will, muss zunächst die notwendigen Voraussetzungen schaffen: die wesentlichen Themen, die dem Nachdenken über die bedrohte Menschheit zugrunde liegen, zumindest zu skizzieren wagen und zu strukturieren versuchen. Das Folgende entspringt einem solchen Versuch, den ich vor drei Jahren in Angriff genommen habe.1

Die auffälligste Fehlentwicklung der Zivilisation ist die Vermarktung alles Menschlichen. Der Kapitalismus begründete die universelle Warenherrschaft, die den Verkauf von Arbeit als Quelle des privaten Profits bevorzugt. Indem er die menschliche Arbeitskraft selbst zur Ware macht, verdinglicht er mit den Sachen auch die Personen: Seine Majestät, das Kapital, „gibt Arbeit an die Arbeitskräfte“, so die Sichtweise. In Wirklichkeit sind es die Lohnabhängigen, die den Kapitalisten ihre Arbeit notgedrungen zur Verfügung stellen.

Das Neue aber und zunehmend Verheerende ist, dass nichts Menschliches mehr der Logik der Finanzmärkte entzogen bleibt: Alles muss möglichst hohe Profite abwerfen, vom Ersatzteil zum Krankenhausbett, vom E-Commerce zum Nachhilfeunterricht, vom neuen Medikament zum Transfer von Fußballspielern. Das führt aufseiten der Manager zu Verhaltensweisen, die bis zum brutalen Exzess gehen. Wir erleben eine Verschmutzung der Arbeit, die nicht weniger schlimm ist als die der Gewässer.

Außerdem führt es zu einer umfassenden Kommerzialisierung von Dienstleistungen, die dazu da sind, Menschen auszubilden und in ihrer Entwicklung zu unterstützen: Gesundheit, Sport, Bildung, Forschung, Kunst und Kultur, Freizeit, Information, Kommunikation. Der Aufschwung dieser Dienstleistungen zeugt von der Entwicklung zu einer Welt, deren entscheidender Reichtum der Mensch ist. Auf sie stürzt sich der Kapitalismus, um auch sie seiner Logik zu unterwerfen. Alle Ziele, denen diese Aktivitäten dienen, werden tendenziell durch die Gesetze des Kohlemachens abgelöst. So wird aus dem großartigen Medium von Kultur und Solidarität, das das Fernsehen sein könnte, durch den Werbemarkt ein primitives Vehikel zum Verkauf von Zugriffszeit auf verfügbare Gehirne. Die Bildung wird Profitraten unterworfen – kann man ein solches Verbrechen dulden?

Mit dem Kommerzialisierungseifer geht eine fatale Entwertung aller Werte einher. Von Kant kommt das moralische Prinzip: Dem Menschen eine Würde zuzuerkennen heißt, dass er „keinen Preis“ hat. Alles in Geld zu bewerten, führt also zu allgemeiner Entwürdigung. Das gilt sowohl auf kognitivem wie auf ästhetischem, rechtlichem oder moralischem Gebiet – ohne Werte, die „an und für sich und uneingeschränkt“ gelten, kann es keine zivilisierte Menschheit geben. Wir erleben heute tagtäglich, wie das Bedürfnis nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Würde ins Lächerliche gezogen wird, wie die Diktatur der Rentabilität auf die allmähliche Vernichtung des Unschätzbaren, Nutzlosen, Unentgeltlichen hinarbeitet. Wir stehen an der tragischen Schwelle zu einer Welt, in der der Mensch nichts mehr wert ist.2 Das drückt sich im „Schicksal“ derer aus, die arbeitslos, obdachlos, heimatlos oder perspektivlos sind. Aimé Césaire hat in diesem Zusammenhang von der „Fabrikation von Wegwerfmenschen“ gesprochen.

Dabei werden diejenigen fett, die alles zu Geld machen – unvorstellbar hohe Gehälter, goldener Handschlag –, aber es läuft auch bei ihnen auf dasselbe hinaus: den Verfall aller Wertmaßstäbe. Der einzige „Wert“, der sich zum Maß aller anderen macht, ist nur noch selbstbezüglich und ohne jeden eigenen Wert. Der Finanzsektor hört nicht auf, sich mit virtuellen Nullen aufzublähen, die milliardenweise verschwinden, sobald die Blase platzt. Zurück bleibt die harte Wirklichkeit für die Produzenten des Realen. Ist diese Auflösung der Werte weniger schlimm als das Abschmelzen der Pole? Unsere Menschlichkeit selbst steht auf dem Spiel – ist uns das in vollen Ausmaß bewusst?

Hinzu kommt als dritte und schlimmste Abwärtsentwicklung der unkontrollierbare Sinnverlust. Das ist neu, denn lange hatte der Kapitalismus einen Sinn: Bei aller Ausbeutung hat er die Menschheit doch vorangebracht. Doch mit der Selbstzweckhaftigkeit des Finanzsystems, der gänzlich enthumanisierten Form von Reichtum, treten wir in die Ära umfassender Sinnlosigkeit ein. Das Kapital akkumuliert sich zunehmend ohne Ziel und Zweck. Wir erleben den historischen Bankrott einer Klasse, die inzwischen alles an sich reißt und behauptet, wir seien zu diesem „Ende der Geschichte“ verurteilt. Die hemmungslose Kurzfristigkeit der Investitionsrenditen erstickt jeglichen Sinn – und damit auch jedes menschliche Unterfangen.

Die finanzgetriebene Globalisierung wird zum konvulsivischen Durchbruch einer „Un-Welt“, in der das Absurde zusammen mit seinem Geistesverwandten, dem religiösen Fanatismus, alles mehr und mehr durchdringt. Die gewaltigen Kräfte, denen die Entwicklung der Menschheit gegenwärtig ausgesetzt ist, machen einen klaren Blick auf die Zukunft unerlässlich. Sonst droht der Untergang. Unsere materiellen und geistigen Erzeugnisse werden zu einer blinden, ja vernichtenden Gewalt, wenn wir sie nicht gemeinsam beherrschen können. Und genau das wird durch den Privatisierungswahn und den damit einhergehenden Demokratieverlust verhindert. Daher rührt das weit verbreitete Gefühl, führerlos zu sein und gegen die Wand zu fahren – gegen die ökologische wie gegen die anthropologische Wand. Die Wand kommt immer näher, aber wir fahren immer schneller. Hört eigentlich jemand die Warnrufe?

Die Kommerzialisierung des Menschlichen, die Entwertung der Werte, der Sinnverlust: was da stattfindet ist, wagen wir diesen Begriff, eine Entzivilisierung. Das heißt nicht, dass wir die letzten zwei Jahrhunderte mit ihren Schrecken und Völkermorden verharmlosen sollten. Doch statt der friedlichen Demokratie, deren Zeit mit dem totalen Sieg des „freien Unternehmertums“ angeblich gekommen war, erleben wir eine Ausweitung der Diktatur, zu deren schlimmsten Mitteln die Ausübung „sanfter“ Gewalt gehört.

Überall lässt sich „die Barbarei der globalisierten Un-Welt“3 beobachten: ethnische Säuberungen, bewaffnete Ausplünderung armer Länder, Terrorismus, Folter als offiziell anerkannte Methode. Hinzu kommen die verschiedenen Formen von „sauberer“ Gewalt: wirtschaftlicher Verdrängungswettbewerb, Massenentlassungen für kurzfristige Börsengewinne, ausgefeilte Überwachungsmethoden in Betrieben und im öffentlichen Raum der Städte. Zur „sauberen“ Gewalt gehört auch symbolische Gewalt: die missbrauchte Gutgläubigkeit, die schleichende Ausbreitung der Angst vor dem anderen, die Auszehrung der zivilen Tugenden durch den Zynismus.

Das gänzliche Verschwinden des Klassenbewusstseins hat katastrophale Folgen. Viele Frauen und Männer haben keine Vorstellung mehr davon, wie unsere Welt funktioniert, wo sie selbst stehen. Vergessen wir nicht, dass der Nationalsozialismus Fuß fassen konnte, indem er an die Stelle marxistischen Klassendenkens die Ideologie der Klassenlosigkeit setzte: ein Volk, ein Reich, ein Führer.

Zu den genannten Grundzügen kommt ein weiterer hinzu, der die Gefahr potenziert: das systematische Verteufeln von Alternativen. Das geschieht zum einen spontan und zum anderen bewusst, denn die profitierende Klasse hat in der Vergangenheit revolutionäre Stürme erlebt und tut alles, um diese Gefahr für immer zu bannen – man muss sich nur ansehen, wie Medien die „linke Linke“ behandeln.

Für Marx wächst die proletarische Masse gleichzeitig mit dem Kapital, das seine eigenen Totengräber hervorbringt. Dieser historische Optimismus ist heute fehl am Platz: Die Revolutionierung der Produktion hat die Lohnabhängigen atomisiert, die quasireligiöse Unangreifbarkeit finanzieller Entscheidungen entwaffnet sie, deren Unausweichlichkeit demoralisiert sie. Der starke Wunsch, das alles zu verändern, führt am Ende zu nichts. Die allgegenwärtige Ohnmacht und die Lügen der institutionellen Politik nähren vor allem die Politikverdrossenheit und Wahlmüdigkeit der Wähler.

So wächst mit dem Rentabilitätswahn der Glaube an die Unausweichlichkeit des Schlimmsten. Das System, das den Leitbegriff „Freiheit“ vor sich herträgt, folgt der Tina-Devise von Margaret Thatcher: „There is no alternative!“ Und in der Tat: Wie soll man sich von der Allmacht der Finanzmärkte und Ratingagenturen befreien, wenn nicht einmal die große Krise von 2008 zu nennenswerten Veränderungen geführt hat? Die aktuelle Untergangsstimmung, die mitten im Atom- und Internetzeitalter geradezu spätrömisch anmutet, ist wie ein Vorgeschmack auf die bevorstehende Katastrophe.

Wenn die Gefahr so groß ist, muss man sich doch fragen, warum sie so viel weniger präsent ist als die ökologische Bedrohung? Ich will dazu nur einen Punkt ansprechen. Die anthropologische Frage stellen bedeutet, die strukturelle Misshandlung des Humanen durch den Kapitalismus anzuprangern; und dieser hat kein Interesse daran, solche Anklagen zu verbreiten. Das ökologische Denken ist einer anderen Kultur verbunden, konzentriert sich eher auf schädlichen Formen des Konsums statt auf die unmenschliche Produktionsweise, auf das Vordringen von Technoscience statt auf die Tyrannei der Profitrate, auf die gesamtgesellschaftliche Verantwortungslosigkeit statt auf Klasseninteressen. Es kann also eher auf eine Reform des Konsums hinwirken als auf eine Revolution der Produktionsverhältnisse.

Eine derart eingeschränkte Ökologie ist für die multinationalen Konzerne keine Gefahr. Sie können damit sogar Geschäfte und Firmenpolitik machen: grünes Denken als Wirtschaftsfaktor. In Wirklichkeit hängt das ökologische Drama wie das anthropologische am fatalen Prinzip der kurzfristigen Profitmaximierung. Beide Fragen, die ökologische und die anthropologische, sind nicht voneinander zu trennen – man kann die Umwelt nicht ohne die Menschheit retten und die Menschheit nicht ohne die Umwelt. Eine Ökologie, die nicht das Profitsystem bekämpft, hat keine Zukunft.

So gesehen erscheint die Lage der Menschheit äußerst düster. Ist die Sichtweise nicht doch etwas einseitig? Man muss auch die objektiven Voraussetzungen und subjektiven Ansätze zur unumgänglichen Überwindung des Kapitalismus sehen.4 Vieles sieht so aus, als wäre es nicht zu ändern; wir dürfen dem nicht nachgeben. Wir können damit beginnen, die Tendenz umzukehren. Aber nur dann mit Erfolg, wenn wir eine Vorstellung davon entwickeln, wie groß die Aufgabe ist. Sie verlangt, sich der anthropologischen Frage in ihrem vollen Umfang zu stellen, sie also in gleicher Weise wie die ökologische erst einmal zur Frage zu machen.

Von den Empörten in Europa zu den amerikanischen Bürgern, die ihre Wut auf die Wall Street artikulieren: Man kann sehen, wie moralisch aufgeladen die Empörung dieser Tage ist. Etwas Tiefgehendes bewegt sich in der Politik. Sagen wir es mit Jean Jaurès:5 Die kleine Empörung entfernt sich von der Politik, die große führt zu ihr zurück. Oder führt vielmehr zu einem politischen Handeln ganz neuer Art: nicht zu einer Revolution alten Stils mit ihren zum Scheitern verurteilten Veränderungen von oben, sondern zu einem Engagement auf allen Ebenen in der gemeinsamen Aneignung gegen neue Formen von Organisation und Aktion. Dies ist die Stunde der Innovation. So lässt sich die Abwendung des Unabänderlichen in Angriff nehmen. Indem sich das realistischste Bewusstsein dessen, was möglich ist, mit der anspruchsvollsten Vision dessen verbindet, was nötig ist. Was jetzt beginnen muss, ist nichts weniger als die Rettung der Menschheit. Karl Marx schrieb im Mai 1843 an Arnold Ruge: „Sie werden nicht sagen, ich hielte die Gegenwart zu hoch, und wenn ich dennoch nicht an ihr verzweifle, so ist es nur ihre eigene verzweifelte Lage, die mich mit Hoffnung erfüllt.“6

Fußnoten: 1 Lucien Sève, „L’Homme?“ 2. Band von: „Penser avec Marx aujourd’hui“, Paris (Éditions La Dispute) 2009. 2 Darin liegt der heimliche Zynismus des bekannten Werbeslogans „Weil ich es mir wert bin“ – eine Frau hat genau den Wert eines Markenprodukts. 3 André Tosel, „Civilisations, cultures, conflits“, Paris (Kimé) 2011, S. 139 und das gesamte Kapitel 4. 4 Siehe dazu auch Jean Sève, „Un futur présent, l’après-capitalisme“, Paris (La Dispute) 2006. 5 Französischer Sozialist (1859–1914). Er wurde am Vorabend des Ersten Weltkriegs ermordet. 6 Briefe aus den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern“, in: Marx/Engels Werke, MEW, Bd. 1, S. 342. Aus dem Französischen von Thomas Laugstien Lucien Sève ist Philosoph und war bis Anfang 2010 Mitglied der französischen Kommunistischen Partei. Von 1970 bis 1982 leitete er deren Verlag Éditions Sociales.

Le Monde diplomatique vom 11.11.2011, von Lucien Sève