11.11.2011

Ein Schritt vor, ein Schritt zurück

zurück

Ein Schritt vor, ein Schritt zurück

Die Türkei auf dem Weg ins 21. Jahrhundert von Wendy Kristianasen

Audio: Artikel vorlesen lassen

Für Recep Tayyip Erdogan könnte es kaum besser laufen. In den vergangenen zwei Monaten besuchte der türkische Ministerpräsident Ägypten, Tunesien und Libyen und wurde auch in Washington empfangen. Er setzte seine verbalen Angriffe gegen Israel („das verzogene Kind des Westens“) fort, umarmte die arabische Aufstandsbewegung, forderte die Arabische Liga auf, in der UNO für den Palästinenserstaat zu stimmen („eine Verpflichtung“), entzückte die arabischen Massen und stieß die ägyptischen Islamisten vor den Kopf, indem er für einen säkularen Staat plädierte. Erdogan kann an so vielen Fronten aktiv sein, weil seine Außenpolitik im eigenen Land großen Rückhalt genießt.

Bei allem Elan steuert Erdogan einen besonnenen und pragmatischen Kurs. Was das Verhältnis zum Iran betrifft, so hat er die USA durch die Einwilligung besänftigt, einen Teil des Nato-Raketenabwehrschirms auf türkischem Boden zu installieren. Mit Syrien hat er gebrochen, nachdem Assad seinen Rat, Reformen zu beginnen, missachtet hatte. Und obwohl die militärische Zusammenarbeit mit Israel auf Eis gelegt ist, wurden die Wirtschaftsbeziehungen nicht unterbrochen. Erdogan war sogar an den Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas über die Freilassung von Gilad Schalit beteiligt; auch nahm die Türkei elf der im Austausch freigelassenen Palästinenser auf, die Israel nicht in die besetzten Gebiete entlassen will.

Besonnenheit und Pragmatismus braucht Erdogan allerdings auch angesichts der Probleme, die sich in der Innenpolitik stellen. In den letzten Monaten hat die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) erneut Entführungen, Bombenanschläge und Morde an Zivilisten begangen. Der Staat hat mit Massenverhaftungen reagiert. Auch wenn man (noch) nicht von einer Rückkehr zu den mörderischen 1990er Jahren sprechen kann – seit Juni wurden 180 Menschen getötet.

Die Welle der Gewalt bedeutet einen Rückschlag für die Politik der „demokratischen Öffnung“, die Erdogans AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) 2005 begonnen hatte. Die Regierung wollte damit die Repression gegen die türkischen Kurden (die 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen) lockern und die kurdischen Gebiete stärker am allgemeinen Wirtschaftsaufschwung teilhaben lassen. Ein kurdischer Fernsehkanal begann ein 24-Stunden-Programm zu senden, kulturelle Aktivitäten konnten sich entfalten, auch Wahlkampf auf Kurdisch wurde möglich. Und obwohl diese „Öffnung“ bald an ihre Grenzen stieß, begannen Mitte Oktober an der 2007 gegründeten Artuklu-Universität in Mardin die ersten Kurse für kurdische Sprache und Literatur. In den Gefängnissen wurden die Folterpraktiken beendet, und die Regierung nahm geheime Verhandlungen mit der PKK auf (dabei ging es etwa um eine Amnestieregelung und um erleichterte Haftbedingungen für PKK-Führer Abdullah Öcalan).

Im Oktober 2009 folgte ein weiterer symbolischer Schritt: Acht aktive Kämpfer und 26 Sympathisanten der PKK durften aus dem Irak zurückkehren. Was als Geste der Versöhnung gedacht war, wurde jedoch zu einem PR-Desaster: Die türkischen Fernsehzuschauer waren geschockt vom Anblick einer zehntausendköpfigen Menschenmenge, die ihre heimkehrenden PKK-Helden – alle in Kampfanzügen – begeistert feierte. Danach ließ Erdogan, um seine Popularität nicht zu gefährden, die Politik der Öffnung einschlafen.

Dennoch gingen die Gespräche zwischen Regierung und PKK weiter. Das weiß man spätestens seit dem 13. September, als den Medien Filmaufnahmen von einem der Treffen zugespielt wurden, die 2009 und 2010 in Oslo stattgefunden hatten. Eine indirekte Bestätigung kam von Parlamentspräsident Cemil Cicek, der erklärte: „Die türkische Republik verhält sich genauso wie andere Länder, die unter Terror zu leiden hatten, wie Großbritannien gegenüber der IRA oder Spanien gegenüber der ETA.“1

Kurz darauf behauptete Serafettin Elci, ein geachteter Parlamentarier der legalen kurdischen Partei des Friedens und der Demokratie (BDP), das Verhandlungsprotokoll einer Übereinkunft, der Öcalan wie der türkische Geheimdienst MIT zugestimmt hätten, sei Erdogan bereits zur Unterschrift vorgelegt worden.2 Doch kurz danach schlug die PKK wieder zu, unter anderem mit einer Autobombe im Stadtzentrum von Ankara.

Was ist hier passiert? Hat die Regierung ehrlich verhandelt? Wollte eine Hardlinerfraktion der PKK die Verhandlungen sabotieren? Oder hat Damaskus wieder mal die kurdische Karte gespielt, um sich für die zunehmend feindliche Haltung Ankaras gegenüber dem Assad-Regime zu revanchieren? Jedenfalls stoppte Erdogan alle Verhandlungen. Am 19. Oktober wurden dann in der südöstlichen Provinz Hakkari 24 Soldaten und Polizisten von der PKK getötet – durch den schwerwiegendsten koordinierten Angriff seit den 1980er Jahren. Während türkische Kommandoeinheiten die PKK-Kämpfer über die Grenze in den Irak verfolgten, mahnte Erdogan zu Besonnenheit: „Wir wissen, Menschenrechte und Demokratie sind das beste Mittel gegen den Terror. Wir dürfen jetzt Ruhe und Geduld nicht verlieren.“

Kurdenfrage und Demokratisierung

Große Teile der türkischen Bevölkerung lehnen eine Autonomieregelung für die Kurden noch immer ab. Zudem darf man den Einfluss jener finsteren Allianz aus Militärs und organisiertem Verbrechen nicht unterschätzen, die als derin devlet („Tiefer Staat“) bekannt wurde und über beste wirtschaftliche und politische Kontakte verfügen soll.3 Diese Kreise sind auch im Waffen- und Drogenhandel aktiv – mit Geschäftsbeziehungen zu ihren kurdischen Gegenspielern. Auch einigen Leuten in der PKK dürfte an einer Normalisierung, die inzwischen viele Kurden wollen, nicht gelegen sein, weil sie damit ihren Einfluss auf die kurdische Bevölkerung verlieren würden.

Ümit Firat, ein kurdischer Intellektueller, der gemäßigte Positionen vertritt und keiner politischen Organisation angehört, erklärt, wie sich die Haltung der Kurden verändert hat: „Wir hielten die nationale Selbstbestimmung immer für die einzige Lösung. Aber in der Zeit von Turgut Özal [Ministerpräsident 1983–1993] und unter dem Eindruck der [türkischen] Demokratisierung kam uns der Gedanke, dass wir uns an diesem Prozess beteiligen könnten. Mit der Perspektive eines EU-Beitritts der Türkei gewann er eine realistische Dimension. Die Utopie eines geeinten Kurdistans schien uns jetzt weniger attraktiv. Und für die Nachbarn im irakischen Kurdistan wäre ein demokratischer Wandel in der Türkei eine echte Erleichterung.“ Die Kurden der Türkei orientieren sich nach Westen, meint Firat: „Aus wirtschaftlichen Gründen und wegen ihrer regionalen Schlüsselrolle sehen sie ihre Zukunft in einer zunehmend demokratischen Türkei, die ihre Rechte anerkennt.“ Das würde ein Ende der ethnischen Diskriminierung bedeuten und die Anerkennung der kurdischen Identität, was kurdischen Schulunterricht einschließt, – im Rahmen einer Art Teilautonomie, die durch eine dezentralisierte Verwaltung zu ermöglichen wäre.

Doch dazu bedarf es einer Verfassungsreform, meint auch Gülten Kisanak, Präsidiumsmitglied der BDP und ehemalige Abgeordnete für Diyarbakir: „Wir brauchen eine neue Verfassung, die niemanden ausschließt, die von Bürgern und Demokratie spricht und jeden ethnisch gefassten Hinweis auf eine türkische Identität weglässt. Seit der ersten Verfassung von 1924 wurde unsere Identität geleugnet. Das erklärt, warum es niemals Frieden gab.“

Gülten Kisanak denkt wie viele ihrer Landsleute, dass eine Verfassungsänderung nicht an die Bedingung einer Entwaffnung der PKK geknüpft werden darf. Erst unter einer neuen Verfassung könne man über schwierige Fragen wie die der Autonomie diskutieren: „Jeder muss das Recht haben, seine Meinung zu sagen, auch wenn wir uns nicht einig sind. Heute kann man sich in der Türkei nicht frei äußern.“ Die geltende Verfassung, die nach dem Militärputsch von 1980 in Kraft trat und seitdem sehr oft geändert wurde, müsste völlig neu geschrieben oder zumindest stark überarbeitet werden.

Dass die AKP aus den Parlamentswahlen am 12. Juli 2011 als klarer Sieger hervorging, schafft günstige Voraussetzungen, um die Verfassungsreform anzugehen. Nachdem sie mit 50 Prozent der Stimmen (bei einer Wahlbeteiligung von 86,7 Prozent, der höchsten seit 1987) 326 der 550 Sitze in der Großen Nationalversammlung erobert hat, übernahm die AKP zum dritten Mal die Regierung. Seit 1946 das Mehrparteiensystems eingeführt wurde, hat das noch keine Partei geschafft.

Trotz des spektakulären Erfolgs kam die AKP aber nicht auf die 330 Sitze, die es dem Regierungschef erlaubt hätte, die Verfassung ohne Mitwirkung der Opposition zu ändern und das eigentlich angestrebte Präsidialsystem einzuführen. Daher versicherte Erdogan, seine Partei werde „bescheiden“ bleiben und für die Verfassungsreform einen breiten Konsens anstreben. Da die AKP aber kaum eine Einigung mit der rechtsextremen Partei der Nationalen Bewegung (MHP) erzielen wird (13 Prozent der Wählerstimmen und 54 Sitze), muss sie sich auf Gespräche mit der größten Oppositionspartei, der säkularen CHP, der Republikanischen Volkspartei (26 Prozent, 135 Sitze) und der kurdischen BHP (36 Sitze) einlassen.4

Das leise Ende eines Militärregimes

Aus Protest gegen die Verhaftung von vier ihrer Abgeordneten – aufgrund des Antiterrorgesetzes – blieb die BHP allerdings seit Juni 2011 den Sitzungen der Nationalversammlung fern. Dass die Kurdenpartei trotz der neuen Welle der Gewalt am 1. Oktober ins Parlament zurückkehrte, hatte die Hoffnung auf eine Verfassungsreform zunächst gestärkt. Aber durch die Eskalation der Gewalt an der irakischen Grenze und die Welle von Verhaftungen prominenter Kurden wurde sie schwer erschüttert.5

Im Sommer 2011 vollzog sich in aller Stille der letzte Akt des Übergangs der Türkei von einem Militärregime zu einer zivilen und zunehmend demokratischen Staatsführung. Am 29. Juli nahmen der Generalstabschef und die Oberbefehlshaber von Heer, Luftwaffe und Kriegsmarine überraschend ihren Abschied. Was früher eine Staatskrise ausgelöst hätte, ging fast unbemerkt über die Bühne. Erdogan ernannte umgehend einen neuen, weniger politisch exponierten Stabschef. Und die Börse rührte sich nicht.

Zehn Jahre hatte der Kleinkrieg zwischen AKP und Militär gedauert. Der Versuch der Militärführung, die AKP verbieten zu lassen, weil sie angeblich einen Gottesstaat anstrebe, ging nach hinten los, er machte die Partei nur noch populärer. Zudem sah sich das Militär durch eine Reihe von Ermittlungsverfahren belastet. Im Rahmen der Untersuchungen über die „Operation Vorschlaghammer“ und das Untergrundnetzwerk Ergenekon wird hohen Militärs die Beteiligung an Putschversuchen und Verschwörungen gegen die AKP-Regierung vorgeworfen.6 Der politische Wandel wurde auch von einer anderen Seite her vorangetrieben: Der Beitritt zur EU setzt voraus, das Prinzip der militärischen Oberaufsicht über die „nationale Sicherheit“ abzuschaffen, das den Generalstab vor allem in den 1990er Jahren faktisch zum höchsten Machtorgan gemacht hatte.

Aber warum ist die Militärspitze so plötzlich zurückgetreten? General Isik Kosaner, dessen Amtszeit als Generalstabschef erst im August 2013 ausgelaufen wäre, erklärte bei seiner Demission, er habe wegen der „ungerechten“ Verhaftung einiger Kameraden „nicht weiter dienen können“. Das liegt auf der Linie einer verbreiteten öffentlichen Kritik. Wiederholte Verzögerungen, willkürliche Verhaftungen (auch von Journalisten) und unzureichende Beweismittel tragen dazu bei, dass viele Türken die Legitimität des Ergenekon-Prozesses in Zweifel ziehen. Inzwischen wird gegen fast ein Drittel der türkischen Generale und zahlreiche pensionierte Offiziere ermittelt. Generalstabschef Kosaner wollte etwa 250 der betroffenen Kollegen lediglich für die Dauer des Verfahrens von der Beförderung ausschließen; die Regierung dagegen wollte sie in den Ruhestand schicken.

Die türkischen Streitkräfte stehen ohnehin vor einer Umstrukturierung. Das Land braucht eine Truppe, die den Bedürfnissen einer sich modernisierenden und zivil geführten Türkei entspricht. Auch der Status des Generalstabschef dürfte sich ändern, der heute nur dem Ministerpräsidenten unterstellt ist und faktisch über dem Verteidigungsminister rangiert.7 Das machte Erdogan bei der Sitzung des obersten Militärrats deutlich, die drei Tage nach dem Rücktritt der gesamten Militärführung stattfand. Statt wie vorher üblich neben dem Generalstabschef zu sitzen, platzierte er sich symbolkräftig allein am Kopfende des Konferenztischs.

Eine Verfassungsreform könnte auch die Militärtribunale abschaffen und dem Parlament das Recht verleihen, die Verteidigungsausgaben zu kontrollieren. Die wichtigste Aufgabe bleibt jedoch die Änderung eines aus dem Jahr 1935 stammenden Gesetzesartikels, demzufolge das Militär die „Pflicht“ hat, „Gefahren“ von der Republik abzuwenden. Darauf haben sich die Generäle bei jedem Putsch berufen. Inzwischen wächst parteiübergreifend die Bereitschaft, diesen Passus zu ändern: Das Militär soll nur noch auf Verlangen der Regierung tätig werden dürfen.

Nach einem Jahrzehnt an der Regierung sind Erdogan und die AKP heute so stark wie nie. In dieser Zeit hat sich die Türkei zu einem demokratischeren Staat entwickelt, in dem das Primat der Zivilregierung gesichert ist. Zugleich hat das Land einen wirtschaftlichen Aufschwung genommen, der seine Ambitionen stützt, zur Führungsmacht im Nahen Osten zu werden. Als nächste Schritte auf diesem Weg stehen jetzt zwei eng verknüpfte Aufgaben an: die Verfassungsreform und die Anerkennung der Rechte der Kurden. Doch um auf diesem Weg voranzukommen, muss zuerst die Praxis willkürlicher Verhaftungen von kurdischen Intellektuellen und Aktivisten beendet werden.

Fußnoten: 1 „Cicek implies IRA, ETA analogies on PKK talks“, Hürriyet Daily News, Istanbul, 15. September 2011. 2 Fikret Bila, „The bar PKK has set“, Hürriyet Daily News, Istanbul, 27 September 2011. 3 Siehe Wendy Kristianasen, „Die Türkei denkt sich neu“, Le Monde diplomatique, Februar 2010. 4 Die CHP steckt tief in parteiinternen Grabenkämpfen um ihre kemalistische Vergangenheit. Siehe Wendy Kristianasen, „Behind Turkey’s unsurprising election“, mondediplo.com/blogs/behind-turkey-s-unsurprising-election. 5 Verhaftet wurden u. a. die Professorin Büsra Ersanli und der Menschenrechtler Ragip Zarakolu: www.ipetitions.com/petition/detentionsinturkey. 6 Siehe auch Niels Kadritzke, „Die Generäle haben noch nicht aufgegeben“, in: Le Monde diplomatique, Februar 2010. 7 Der Verteidigungsminister nimmt deshalb neuerdings an Nato-Treffen nur dann teil, wenn der Generalstabschef nicht eingeladen ist. Aus dem Englischen von Edgar Peinelt Wendy Kristianasen leitet die englische Ausgabe von Le Monde diplomatique in London.

Le Monde diplomatique vom 11.11.2011, von Wendy Kristianasen